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Zehn "goldene Regeln" für Doktorväter und -mütter

"Wer eine Dissertation betreut, trägt eine große Verantwortung" - Chemnitzer Politikwissenschaftler Prof. Dr. Eckhard Jesse gibt Anregungen für die Arbeit mit Doktoranden

  • Prof. Dr. Eckhard Jesse, Inhaber der Professur Politische Systeme, Politische Institutionen, gehört zu den erfahrensten Doktorvätern der TU Chemnitz. Foto: Freie Presse/Ronny Rozum

1. Wähle sorgfältig aus

Wer Doktoranden annimmt, soll auf deren exzellente Leistungen beim ersten akademischen Abschluss achten, ein intensives Gespräch führen und sie zunächst zur Teilnahme an einem "Schnupperdoktorandenkreis" ermuntern. Das ist wichtiger als ein ausgefeiltes Exposé zu fordern, das sich in der Schreibphase ohnehin ändert. Die Auswahl betrifft ebenso das Thema: Der Doktorvater soll Studien aus dem eigenen engeren und weiteren Arbeitsumfeld bevorzugt betreuen (ohne engstirniges "Revierverhalten"), hingegen solche, zu denen er wenig "Sachdienliches" beisteuern kann, in der Regel ablehnen. Universitäten, die Professoren mit vielen Doktoranden belohnen, fördern nicht die intrinsische Motivation der Betreuung. - Masse macht es nicht.

2. Strebe ein Vertrauensverhältnis an

Wer eine Dissertation betreut, trägt eine große Verantwortung. Er traut dem Doktoranden eigenständiges Arbeiten zu. Insofern ist ein reglementierendes Promotionsstudium ein Widerspruch in sich, eine Promotionsvereinbarung nicht der Weisheit letzter Schluss. Ein Doktorvater, der jungen Wissenschaftlern sein Ohr neigt und die Spielregeln konsequent handhabt, ist unersetzbar: Der Doktorand, der was leistet, muss vorankommen, der sich was leistet, darf es nicht. Eine zweite Chance bleibt bei Betrug (etwa einem Plagiat) verwehrt. Ein interessierter Lehrer nimmt Anteil am weiteren Lebensweg seines Schülers und gibt, sofern erbeten, Ratschläge nach bestem Wissen und Gewissen. - Gewogenheit zählt.

3. Fordere und fördere

Wer eine Dissertation schreiben will, muss einerseits leistungsfähig und andererseits psychisch stabil sein. Der Doktorvater kann daher erwarten, der Doktorand ist intellektuell in der Lage, ein neues wissenschaftliches Problem zu klären und Schwierigkeiten allfälliger Art in den Griff zu bekommen. Wenn nicht, so ist ein Ende mit Schrecken besser als ein Schrecken ohne Ende - für beide Seiten. Der Betreuer soll Hilfe anbieten, anfangs bei der Stipendiensuche, später bei der Konzeption der Arbeit. Ein desinteressierter "Rabenvater" nützt dem Doktoranden ebenso wenig wie eine fürsorgliche "Glucke". - Nähe und Distanz gehören zusammen.

4. Genieße jugendlichen Leistungswillen

Wer in den Massenuniversitäten forscht und lehrt, ist ob der immer stärkeren Verschulung, die Eigenständigkeit lähmt, zu Recht oft frustriert. Das verlässliche Engagement für Doktoranden ermöglicht es hingegen, Forschung und Lehre sinnvoll zu verbinden, und bereitet Freude. Die Leistungsexplosion von jungen Menschen, die dem mitunter unsinnigen Klausurenstress und der Jagd nach "credit points" entkommen sind, zu verfolgen und zu forcieren, hat für den Betreuer etwas Erhebendes. Wissenschaftlicher Nachwuchs gedeiht in einer inspirierenden Atmosphäre der Ermutigung. Das entschädigt nicht nur für ödes, wenig intellektuelles Gremienwesen an den Universitäten. - Wissenschaft erquickt.

5. Übe sanften Druck aus

Wer eine Dissertation verfasst hat, weiß aus leidvoller Erfahrung, wie schnell die Zeit verstreicht. Ein Doktorvater spornt seinen Doktoranden deswegen an, den roten Faden im Auge zu behalten, regelmäßig Text zu produzieren, den Arbeitsplan zu beachten und das erfolgreiche Ende des Vorhabens anzustreben. Der Lehrer muss es immer wieder sagen: Ein überbordender Anmerkungsapparat spricht noch nicht für Wissenschaftlichkeit. Und er muss den Quälgeist spielen: Es geht "nur" um eine Dissertation, keineswegs um den Leibniz-Preis. Das Scheitert eines Perfektionisten liegt auch am manchmal nicht so gescheiten Professor. - Hartnäckige Konsequenz zahlt sich aus.

6. Sei souverän

Wer als Mentor eines jüngeren Menschen wirkt, soll weder erwarten noch darauf hinarbeiten, dass dieser nur in den argumentativen Bahnen seines Lehrers kreist. Originalität brilliert gerade durch unkonventionelle, auf den ersten Blick kühn anmutende Ideen. Ein weiser Doktorvater, beseelt von Empathie, fördert solche Kreativität. Blinder Corpsgeist hat in der Wissenschaft etwas ridikül Anachronistisches. Eine "Schule" kann durch Liberalität aufblühen und Weltoffenheit vermitteln, kooperatives Klima Konflikte konstruktiv klären. Nachbeterei langweilt, intellektueller Nonkonformismus inspiriert. - Engherziges Denken lähmt.

7. Kontrolliere regelmäßig die Leistungen

Wer heute eine Doktorarbeit intensiv betreut, ist morgen vor unliebsamen Überraschungen gefeit und schützt so Doktoranden. Diese müssen ihr Vorhaben - am besten in Doktorandenseminaren - schriftlich präsentieren und kontinuierlich zur Diskussion stellen. So sind sie motiviert, erfahren Transparenz und lernen die Maßstäbe der Bewertung kennen. Der Doktorvater gewinnt einen erhellenden Eindruck vom Fortgang der Arbeit (oder auch nicht) und kann nötigenfalls lenkend eingreifen. Vor dem offiziellen Einreichen der Dissertation liest jeder verantwortungsbewusste Lehrer im eigenen Interesse und in dem des Doktoranden den Text, und er gibt letzte Anregungen. - Vertrauen ist gut, Kontrolle besser.

8. Übernimm dich nicht

Wer aus wissenschaftlicher Ambitioniertheit oder aus Hilfsbereitschaft heraus (um nur positive Motive anzunehmen) zu viele Doktoranden betreut, erweist sich und den Betreuten einen Bärendienst. Unter den knappen Ressourcen des Mentors haben vor allem weniger Begabte oder weniger gut Organisierte zu leiden. So steigt die ohnehin hohe Zahl der Abbrecher. Allerdings ist ein anderer Typus wahrlich nicht besser: Manche Professoren publizieren zwar unaufhörlich ("publish or perish"), vernachlässigen aber den wissenschaftlichen Nachwuchs, weil sie um die mit der Betreuung von Promotionen verbundene eher geringe soziale und wissenschaftliche Reputation wissen. - Überbeanspruchung schadet.

9. Begutachte gründlich, bewerte fair

Wer eine solche Arbeit beurteilt, soll der Unsitte entsagen, beständig Höchstnoten zu verteilen, als gehe es um das Sammeln von Trophäen. Dies entwertet überragende Studien und verblendet weniger gute Doktoranden. Umgekehrt ist kaum souverän, wer "summa cum laude" prinzipiell verwehrt. Der erste Gutachter soll mit dem zweiten keine do ut des-Kameraderie pflegen. Wer Doktoranden erster und zweier Klasse hat, führt die Ernsthaftigkeit des Verfahrens ad absurdum. Durch die mündliche Prüfung kann der Doktorand sein Gesamtergebnis weder nennenswert verbessern noch verschlechtern, zumal bei übereinstimmenden Noten der Gutachter. Ansonsten verkehrte sich das Verhältnis von Aufwand und Ertrag. - Urteilskraft und Aufrichtigkeit sind wichtig.

10. Relativiere die Ratschläge

Wer sklavisch solche - hehren - Anregungen umsetzt, verfällt einem Dogmatismus und wird scheitern, weil er der Individualität seiner Schützlinge keinen Respekt zollt. Beispielsweise kommt es auf die spezifische "Fachkultur" an. Ein erfahrener Hochschullehrer variiert seinen Kommunikationsstil, spürt, wo er "locker" lassen kann und wo er "anziehen" muss. Eine berufsbegleitende Dissertation etwa bedarf einer längeren Zeitspanne als eine auf ein Stipendium gestützte; ein selbstbewusster Doktorand benötigt weniger Beratung als ein verunsicherter. Gleichwohl: Das Leistungsprinzip verbietet es, zweierlei Maß anzulegen. Last but not least: Ideale Doktoranden (und Doktorväter!) gibt es nicht, idealistische schon. - Kein "Fall" gleicht dem anderen.

Der Autor Prof. Dr. Eckhard Jesse ist seit 1993 an der TU Chemnitz Inhaber der Professur Politikwissenschaft II. Er leitete mehrere Jahren das Promotionskolleg zum Komplex "Politischer Extremismus und Parteien". Derzeit betreut er ein von der Hanns-Seidel-Stiftung finanziertes Promotionskolleg (verantwortlich: Prof. Hans-Peter Niedermeyer) "Politischer Extremismus und Parteien". Prof. Jesse hat bisher neben zwei Habilitationen 56 Dissertationen an der TU betreut.

Am 23. Juni 2005 erschien in der Wochenzeitung "Die Zeit", die Langfassung veröffentlichte die Chemnitzer Universitätszeitung "TU-Spektrum" im Heft 1/2006 unter der Überschrift "Mit Leidenschaft und Pragmatismus zur Dissertation".

Mario Steinebach
20.04.2011

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