Pressemitteilung vom 11.12.1998
Ost-Experte Prof. Wolfgang Leonhard wird Ehrendoktor der TU
Den Untergang des Kommunismus sagte er schon 1984 voraus
Der Ost-Experte Prof. Wolfgang Leonhard wird Ehrendoktor der Chemnitzer Uni
Er ist der wohl kompetenteste Experte, wenn es um Ideologie und Geschichte des Kommunismus geht: Prof. Wolfgang Leonhard. Jetzt wird dem weltweit geachteten Historiker, anerkannten Buch- und Zeitungsautor und Berater ganzer Generationen deutscher Politiker eine besondere Ehrung zuteil, und das ausgerechnet in jenem Ort, der einmal - wenn auch nur für 36 Jahre - den Namen "Karl-Marx-Stadt" trug. Am Mittwoch, dem 16. Dezember 1998, verleiht die Technische Universität Chemnitz dem Gelehrten die Ehrendoktorwürde - für "seine herausragenden Leistungen in der Erforschung der kommunistischen Ideologie und in Anerkennung seiner Verdienste um die Vermittlung des Wesens kommunistischer Diktaturen".
Der Akademische Festakt beginnt um 17 Uhr im Hörsaal 114 des erst vor wenigen Wochen eröffneten Neuen Hörsaalgebäudes der Chemnitzer Uni in der Reichenhainer Straße 70 in Anwesenheit zahlreicher Prominenter. Die Laudatio hält die Chemnitzer Politikwissenschaftlerin Prof. Beate Neuss, Prof. Leonhard selbst wird zum Thema "Gibt es einen Strukturwandel in Rußland? Ursachen der aktuellen Krise" sprechen. Bereits für den Mittwoch morgen um 11 Uhr laden wir Sie zu einem Pressegespräch mit Prof. Leonhard im Alten Senatssaal, Uni-Hauptgebäude, Straße der Nationen 62, 1. Stock, ein.
Die meisten Chemnitzer kennen Leonhard noch aus dem vergangenen Jahr, als er Gastprofessor an der Uni war. Hunderte Chemnitzer Bürger, nicht nur Studenten, drängten damals in seine Vorlesungen, die mehrfach in immer größere Hörsäle verlegt werden mußten.
Jahrzehntelang hat Leonhard die Länder unter der Herrschaft des Kommunismus beobachtet, ihre Politik sachkundig kommentiert und gedeutet, Entwicklungen vorhergesagt. Wenn er auch manchmal daneben lag - oft genug waren seine Prophezeiungen erstaunlich genau. So sagte Leonhard bereits Ende 1984 - Gorbatschow war noch ein einfaches Mitglied des Politbüros und niemand im Westen konnte mit Begriffen wie "Perestroika" oder "Glasnost" etwas anfangen - eine bald einsetzende tiefgreifende Liberalisierung der Sowjetunion, einen Putsch von Reformgegnern und ein Auseinanderfallen der Sowjetunion in Einzelstaaten voraus.
Die Treffsicherheit seiner Analysen verdankt Leonhard seiner Kenntnis des Kommunismus von innen. Schließlich hatte er selbst einmal, wenn auch nicht zum inneren, so doch zumindest zum äußeren Zirkel der Macht in der sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, gehört. Bereits im April 1945, noch vor der deutschen Kapitulation, war der damals 24jährige mit der "Gruppe Ulbricht" nach Berlin zurückgekehrt. Der am 16. April 1921 in Wien geborene Wolfgang Leonhard war 1935 mit seiner kommunistischen Mutter vor Hitler in die Sowjetunion geflohen, wo er ebenfalls zu einem überzeugten Kommunisten wurde. Erzogen und ausgebildet wurde er zunächst an der Hochschule für Fremdsprachen in Moskau, dann an der Komintern-Schule, der wichtigsten ideologisch-politischen Ausbildungsstätte für ausländische Kommunisten in der UdSSR. Dort war er mit Markus Wolf, dem späteren DDR-Spionagechef, in einer Gruppe. Im frühen Nachkriegsdeutschland war Leonhard zunächst Mitarbeiter des Zentralkomitees der SED, dann Lehrer an der Parteihochschule Karl Marx. Noch keine 30 Jahre alt, hatte er offensichtlich eine steile politische Karriere vor sich.
Bald jedoch kamen Leonhard erste Zweifel an der Praxis des Kommunismus sowjetischer Prägung. Im März 1949 flüchtete er nach Jugoslawien, wo sich der einstige Partisan Tito gerade von Stalin losgesagt hatte und einen reformsozialistischen Weg beschritt. Ende 1950 kam Wolfgang Leonhard in die Bundesrepublik. Dort arbeitete er zunächst in einer kleinen unabhängig-marxistischen Vereinigung mit. Erst 1955 gelang es ihm, sich endgültig vom Kommunismus zu lösen. Dabei half ihm das Schreiben eines Buches, in dem er seine Erfahrungen verarbeitete - "Die Revolution entläßt ihre Kinder" wurde zu einem Weltbestseller und in den sechziger Jahren sogar verfilmt. Über Oxford und die New Yorker Columbia Universität ging er als Professor an die US-Spitzen-Uni Yale.
Seine intime Kenntnis von Sowjetunion und Kommunismus machte ihn allen anderen "Kreml-Astrologen" hoch überlegen - so hießen die nicht selten selbst ernannten Ostexperten, die aus der Reihenfolge der Aufzählung der Politbüromitglieder in der Parteizeitung "Prawda" oder aus ihrem Standplatz auf der Tribüne bei der Parade zum Jahrestag der Oktoberrevolution auf subtile Veränderungen in Machtgefüge und Politik rückschlossen. Er ist ein gefragter Gesprächspartner für Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsender geblieben. Und es gibt auch kaum einen deutschen Nachkriegspolitiker, gleich welcher Couleur, der sich nicht irgendwann bei ihm Rat geholt hätte.
In der DDR und in der Sowjetunion freilich galt Leonhard als Abtrünniger, als Unperson, mehr noch, als Verräter - bis weit in die 60er Jahre hinein war sein Leben dadurch ernsthaft gefährdet. Erst nach Wende und Zusammenbruch konnte er diese Länder wieder besuchen. Noch immer reist der inzwischen 77jährige im Schnitt zweimal pro Jahr nach Rußland oder in eine andere der ehemaligen Sowjetrepubliken. Allein sechs Mal war er im Auftrag der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) als internationaler Wahlbeobachter dort. Daß er immer aus allererster Hand informiert ist, verdankt er auch den Antennenschüsseln auf dem Dach seines Hauses in einem kleinen Eifelort, wo er gleich mehrere russische Programme empfangen kann.
Weitere Informationen: Technische Universität Chemnitz, Philosophische Fakultät, Fachgebiet Politikwissenschaft, Reichenhainer Str. 41, 09126 Chemnitz, Prof. Dr. Beate Neuss, Tel. 0371/531-4926, Fax 0371/531-4092, e-mail: beate.neuss@phil.tu-chemnitz.de