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Adventskalender der TU Chemnitz 2003
Ein ganz normales Weihnachten
"Was gäbe ich jetzt nicht für einen ordentlichen Schluck
Punsch", seufzte Marlene Jagoleit, schloss die Augen und
verschränkte die Hände im Nacken. Sie stellte sich vor, wie
sie genüßlich an dem frisch zubereiteten Glühweinpunsch
schnupperte. "Mhm, ich kann ihn beinahe riechen."
"Hör schon auf". Roland Thaspen knurrte. "Als hätten wir
nicht genug zu tun. In zwei Minuten ist der Transporter hier und wir
müssen die Listen ein letztes Mal prüfen." Über
Rolands Bildschirm liefen verschiedene Zahlenkolonnen. "Sieh dir
bitte die Vergleichsdaten im Übergabe-Protokoll an", bat er
die im Glühweintraum schwelgende Frau.
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"Spielverderber",
entgegnete Marlene. Sie schwenkte ihren Sitz aus der horizontalen in
eine vertikale Position und starrte ergeben auf den Monitor direkt
vor ihr. "Ein paar Lebkuchen oder Spekulatius wären auch
nicht schlecht", murmelte sie leise.
Nicht leise genug. Torsten Ahnert, der neben ihr einige Kontrollen
bediente, schmunzelte und entgegnete: "Warum nicht gleich einen
ganzen Stollen?"
"Ich glaube, da hätte jemand gewaltig was dagegen", gab Marlene
zurück und deutete mit dem Kopf zu Thaspen.
Der nickte. "Ich sage nur - Krümel."
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Ein Summen beendete die sehnsuchtsschwangere Unterhaltung. "Da ist
die Webster-Bagage schon", rief Roland Thaspen.
"Fröhliche Weihnachten" ertönte Paula Websters Sopranstimme, bevor ihr
dunkler Haarschopf auftauchte.
"Hohoho" - dicht auf folgte ihr Benjamin Martinez, der einen roten
Kunststoffbeutel in der Hand trug.
Als Letzte quetschte sich Antonia Morgan in den kleinen Raum hinein.
"Schaut doch mal, der Weihnachtsmann!" Ihre Hand wies auf
das kleine Fenster in der sich schließenden Tür.
"Das gibt's doch gar nicht!" Torsten schob sich an der Frau vorbei.
Da fuhr tatsächlich der Weihnachtsmann mit seinem
Rentierschlitten draußen vorbei. "Ihr Schlaumeier",
lachte er gleich darauf los."Das ist ein verdammtes Bild, was
sie uns an die Scheibe gepappt haben!"
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"Glaubt es oder nicht, wir haben ihn unterwegs getroffen." Martinez
bugsierte den roten Beutel vor sich und löste dessen Verschluss.
"Und das hat er uns für euch mitgegeben."
Roland schüttelte den Kopf. "Herrschaften, wir sind hier nicht zum
Vergnügen."
"Sei doch nicht so förmlich, Roland." Paula hakte sich
freundschaftlich bei Thaspen ein. "Heute ist Weihnachten."
Inzwischen hatte Benjamin eine kleine Plastikschachtel hervorgeholt. "Für
dich, Torsten."
Martinez reichte auch ein Kistchen an Thaspen und Jagoleit, bevor er je ein
weiteres kleines Behältnis für Webster und Morgan
herauszog. "Und dieses hier ist für mich", meinte er,
als er das letzte Geschenk in der Hand hielt. "Die in der
Zentrale haben gesagt, es wäre für jeden etwas Persönliches
dabei."
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Marlene bekam feuchte Augen, als sie die Aufschrift auf der kleinen Folietüte
las, die zuoberst in ihrem Päckchen lag. "Linsensuppe",
freute sie sich.
"Von meinem Sohn." Torsten Ahnert hielt ein buntes Schneemannbild
hoch.
Thaspen schaute ergriffen auf den kleinen rosa Babyschuh, an dem ein
künstlicher Nadelzweig hing. "Susanne", murmelte er
und drückte den babyweichen Schuh an seine Wange.
"Na, wie sehe ich aus?" Antonia hatte sich ein hauchdünnes
weißes Hemdchen auf die Brust gelegt. "Ian meint, ich wäre
sein Engel", las sie gleichzeitig aus einem Brief vor, der auf
dem Rand ihres Päckchens lag.
Das Blatt Papier in Martinez' Hand zitterte leicht. "Hallo Papa",
stand in großen ungelenken Buchstaben darauf.
"Schokolade" stöhnte Paula Webster leidenschaftlich. Vorsichtig wickelte sie
die Tafel aus der Folie, brach sich ein Stück ab und steckte es
sich in den Mund.
Es wurde ruhig. Jeder widmete sich den mitgebrachten Briefen.
Marlene legte die Stirn an die Fensterscheibe und blickte hinaus. Irgendwo da
unten lag das Weihnachtsland, ihre Heimat, das Erzgebirge.
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Ein ganz normales Weihnachten auf einer ganz normalen Raumstation -
irgendwann in naher Zukunft.
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