Adventskalender der TU Chemnitz 2007
In einem kleinen idyllischen Mittelgebirgsdorf namens Cremmen, berühmt für seine Holzspielzeuge und -figuren, lebt Bertolt. Man munkelt, seine Mutter sei in jungen Jahren glühende Brecht-Verehrerin gewesen. Bertolt ist ein Holzwurm. Zusammen mit seiner Familie wohnt er in einem alten ausrangierten Eichenesstisch, der in der Werkstatt der Beerweins steht. Dort sind die mit einem gesegneten Appetit ausgezeichneten Untermieter geduldet, ja sogar willkommen, solange sie sich nur von den Abfällen und Spänen ernähren, die das Handwerk übrig lässt. |
Bertolt bringt einen tiefen Seufzer hervor. Er hat keine Lust auf diesen Weihnachtstrott, die langweiligen Verwandten und die dusseligen Bräuche. Der vor Testosteron strotzende Holzwurmjunge will hinaus in die weite Welt, endlich richtige Abenteuer erleben und Weihnachten mal ganz anders feiern. Als er gedankenversonnen durch die Werkstatt schlurft, hört er es vorn im Verkaufsraum, wo ihm und seiner Familie der Aufenthalt strengstens verboten wurde, leise murmeln. Ein junger Mann mit einer blau gefrorenen Nase sucht ein besonderes Geschenk für Freunde in Amerika - ein Räuchermännchen soll es sein. Das ist Bertolts Gelegenheit, endlich rauszukommen. Er klettert, natürlich im Kriechgang, wie sich das für einen zünftigen Holzwurm gehört, auf den Tresen und wartet, bis sich der immer noch ein wenig bibbernde Besucher für ein besonders wunderliches Waldmännlein mit spitzem Hut und einem Korb voller Kienzapfen auf dem Rücken entschieden hat. Dann klammert er sich unbemerkt im Bart des Holzgesellen fest und lässt sich zusammen mit ihm einpacken. Da Meister Beerwein seine Schachteln immer mit genug Holzwolle polstert, hat Bertolt sogar Reiseproviant und es besteht keine Gefahr für den liebevoll gedrechselten Räuchermann. Bertolt kuschelt sich in sein Drechselspänenest und schläft ein. Ab und zu vernimmt der abenteuerlustige kleine Kerl dumpfe Geräusche oder verspürt ein sanftes Schütteln. Dann kuschelt er sich noch ein bisschen dichter an den Holzmannbart und träumt von aufregenden Unternehmungen. Auf diese Weise verpasst er natürlich all die aufregenden Begebenheiten auf seiner großen Reise. Erst als Bertolts Behausung sich heftiger bewegt, kommt er langsam zu sich und reibt sich die Augen. Irgendetwas kratzt da an der Schachtel, eine Schere schnippt, das Papier wird heruntergerissen. Dann ist es plötzlich ganz hell, der Deckel ist weg. "Ei, nu guck dir mal a, was unner Freind uns geschickt hot", dialektelt eine überraschte Frauenstimme, "ä Gruß aus dr Haamit - un su ä schiens Mannel". Bertolt ist bei einer deutschen Auswanderfamilie gelandet. Er fällt vor Schreck aus dem Räuchermännchenbart und sitzt nun auf dem Gabentisch. Seine Augen streifen die geschmückte Tanne, in seiner Nase kitzelt der Duft von Gänsebraten, Stollen und Plätzchen liegen auf dem Teller neben ihm und aus der Anlage klingen altbekannte Weihnachtslieder. Gerade will Bertolt seiner großen Enttäuschung Luft machen, da spürt er, wie ihm eine dicke Träne über die Wange kullert. Er schaut sich nochmals um. Es ist genau der gleiche Festtagskrimskrams wie zuhause - die Tanne, die Gans, die Musik - und doch vollkommen anders. Bertolt hat furchtbares Heimweh. Plötzlich scheint sein Weihnachten etwas ganz besonderes zu sein - mit dem Stollen von Frau Beerwein, dem Holzwurmpapa, der bis über beide Glühweinbäckchen strahlt, wenn er Weihnachtslieder singt (schräg natürlich und furchtbar emotional) und den vielen Verwandten, die sich alte Geschichten erzählen. |
Am ersten Weihnachtsfeiertag schaut Herr Beerwein, kurz bevor zum verlockend duftenden Kaffee gerufen wird, noch schnell nach der elektronischen Post. Die Gelegenheit, dass seine Frau gerade in der Küche zugange ist, muss er ausnutzen (sie schimpft gern, wenn er vor der Kiste hockt). Zwischen ein paar Figurenbestellungen entdeckt Meister Beerwein das Schreiben aus Amerika und freut sich über die freundlichen Zeilen. Als er den Anhang öffnet, lädt er auch den kleinen Wurm herunter. Bertolt ist überglücklich, endlich wieder daheim zu sein. Seine Mutter schließt ihn in die Arme und drückt ihn an ihre stattliche Oberweite, bevor sie sich den angesammelten Kummer im Taschentuch abschneuzt. "Das wäre ein trauriges Weihnachtsfest geworden", bringt sie hervor und schaut den Papa an, der hinter ihrem Sohnemann steht und sich mächtig Mühe gibt, die feuchten Augen zu verbergen. "Ja, Weihnachten zuhause ist schön", flüstert der Holzwurmjunge und seufzt zufrieden. Dann setzt er sich sich zwischen seine Geschwister, lässt sich ein großes Stück von dem Stollen reichen und während er mit dicken Backen das Weihnachtsgebäck kaut, schaut er zu, wie die Kerzen leuchten, der Papa eine rote Nase vom Glühwein bekommt und die Verwandten in ihren Erinnerungen an vergangene Heiligabende schwelgen. Natürlich ist die Reise auf der Datenautobahn von Bertolt ein bisschen geflunkert. Aber er erzählt sein Erlebnis immer wieder gerne so zuende und hat uns gebeten, die Wahrheit für uns zu behalten. Damit bewahrt er sich einen kleinen Hauch von Abenteuer, um das angebetete Holzwurmmädchen seines Herzens zu beeindrucken. ... Aber das ist eine ganz andere Geschichte. |
© Fotos: R. Sontag
Antje Schreiber, Die TU-Wichtel
Adventskalender der TU Chemnitz 2007