3.4 Die Cantorsche Diagonalisation: NR

Vielleicht war es überraschend zu sehen, dass N=Q gilt, dass also das "diskrete" N und das "dichte" Q sicht hinsichtlich ihrer Größe (Fachsprache: Kardinalität) nicht unterscheiden. Könnte es denn sein, dass jede unendliche Menge A abzählbar ist, also AN? Die Antwort ist ein klares Nein.

Theorem 3.4.1 (Überabzählbarkeit der reellen Zahlen). NR.

Beweis. Da wir bereits R{0,1}N gesehen haben, reicht es, N{0,1}N zu zeigen. Wir müssen also zeigen, dass es keine Bijektion f:N{0,1}N gibt. Wie gehen wir vor? Wir nehmen an, man hätte uns eine Funktion f:N{0,1}N gegeben, und müssen nun zeigen, dass f nicht bijektiv ist. Nicht bijektiv kann zwei Ding heißen: nicht injektiv und nicht surjekiv. Injektiv kann eine solche Funktion natürlich sein, beispielsweise die Funktion n0n111111. Also ist unsere einzige Chance, zu zeigen, dass f nicht surjektiv ist. Wir müssen also eine 0/1-Folge b=b0b1b2b3{0,1}N finden, die nicht im Wertebereich (Englisch: image) von f liegt: bimg(f). Was wiederum bedeutet, dass für jedes nN sich die unendliche 0/1-Folge f(n) von b unterscheidet, also an mindestens einer Stelle.

Wie können wir die Funktion f darstellen? Jedes f(n) ist eine unendliche 0/1-Folge. Also können wir uns f als nach rechts und nach unten unendliche Tabelle vorstellen. Hierbei schreiben wir fi für f(i) und fi,j für das j-te Glied der unendlichen Folge fi.

Für ein Bit b{0,1} bezeichnen wir mit b¯ seine Negation: b¯=1b. Wir betrachten jetzt die Diagonale der Tabelle und negieren sie:

und erhalten eine Folge: d:=f0,0 f1,1 f2,2 f3,3. Vergleichen wir nun d mit einer Zeile fn der obigen Tabelle. Insbesondere, die n-ten Stellen der beiden Folgen. Die n-te Stelle von d ist fn,n; die n-te Stelle von fn ist fn,n. Wir sehen also: d und fn unterscheiden sich an der n-ten Stelle (und womöglich auch noch anderswo), und daher gilt: dfn. Da dies für jedes n gilt, folgern wir: die Folge d kommt nicht als Zeile der Tabelle vor, und damit dimg(f). Die Funktion f ist nicht surjektiv.

Weil in dem Beweis die Diagonale der Tabelle eine entscheidende Rolle spielt, nennt man diese Beweistechnik auch das Cantorsche Diagonalisierungsverfahren. Dies wird später, in Kapitel 7 über Turingmaschinen und in Kapitel ? über Komplexitätstheorie eine Rolle spielen, wenn wir z.B. zeigen wollen, dass es Probleme gibt, an denen jedes Computerprogram versagt.

Übungsaufgabe 3.4.1 Zeigen Sie, dass es zu der Funktion f:N{0,1}N eine Folge d gibt, die nicht nur nicht in img(f) ist, sondern noch mehr: jede Folge fn unterscheidet sich von d in unendlich vielen Stellen.

Übungsaufgabe 3.4.2 Zeigen Sie ganz allgemein: für jede Menge A gilt A2A. Erinnerin Sie sich: 2A ist die Potenzmenge von A, also die Menge aller Untermengen.

Tipp: Sie müssen den obigen Beweis auf die richtige Weise abstrahieren, dann geht es ganz einfach.

Die letzte Übung zeigt also: es gibt immer größere Mengen, ein oberes Ende wird nie erreicht.

Übungsaufgabe 3.4.3 Erinnern Sie sich an die Partialordnung (2N,). Zeigen Sie, dass es in dieser Ordnung eine Antikette X mit XR gibt.

Übungsaufgabe 3.4.4 Zeigen Sie, dass es in (2N,) eine Kette X mit XR gibt.