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Professur Politische Theorie und Ideengeschichte
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Professur Politische Theorie und Ideengeschichte 

Am Lehrstuhl Politische Theorie und Ideengeschichte wurde ein Arbeitsbereich Intellectual History eingerichtet. Er soll sich zu einer Plattform für Forschende dieses Themenfelds entwickeln. Die Idee zu seiner Installation geht auf das abgeschlossene Forschungsprojekt zu einer Intellectual History der Bundesrepublik zurück. Das folgende Gespräch wurde zwischen Sebastian Liebold, Frank Schale und Ellen Thümmler aufgenommen. Sie sind dem Forschungsbereich mit unterschiedlichen Projektvorhaben und Fragestellungen verbunden. Sie denken über das Konzept der Intellectual History nach. Die Fragen stellt Patrick Keller, Student im Masterstudiengang Politikwissenschaft an der TU Chemnitz und Wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl Politische Theorie und Ideengeschichte.

PK: Was verstehen Sie unter „Intellectual History“ als Forschungszugang? Wie lässt sich ihr wissenschaftliches Konzept beschreiben?

SL: In der Intellectual History verbindet sich politische Ideengeschichte mit ihrer konkreten Zeitsituation. Das Konzept bringt längerfristige Denkentwicklungen mit den (akuten) Verhältnissen beim Entstehen bestimmter Äußerungen zusammen. Streit herrscht zuweilen darüber, warum in der Zeitgebundenheit politischer Ideen später noch Bedeutung liegt: Wenn also z. B. Kritik an der Weimarer Demokratie singulär für die Periode nach dem Ersten Weltkrieg war – können wir dann heute noch etwas anderes tun als dies (historisch) zu dokumentieren?

FS: Intellectual History reagiert auf ein grundlegendes geschichtsphilosophisches Problem: Geschichte passiert nicht einfach, sie ist ohne kognitive, intellektuelle Prozesse nicht denkbar, die selbst aber nicht im luftleeren Raum stattfinden, sondern einen sozialen Zusammenhang haben. Also, die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken. Das hat Karl Marx schön gesagt, nur ist das wissenschaftlich schwierig umzusetzen.

ET: Ich würde dies noch weiter fassen: Intellectual History untersucht die Produktion und den Transport geistiger und sprachlicher Sinneinheiten vor dem Kontext ihrer Entstehung. Sie sind nicht nur textlich festgehalten. Zugleich nimmt Intellectual History die Austauschprozesse zwischen den Produzenten wie die Rezeption ihrer Äußerungen in den Blick. Alle Stichworte sind gleichermaßen Auftrag und Hürde: Erscheint die Intellectual History den einen als übergreifendes Konzept oder Mischform, welches Ideenund Geistesgeschichte mit einer Intellektuellengeschichte wie einer Politik- und Sozialgeschichte verbindet, grenzen andere diese Zugänge stärker voneinander ab. Die meisten sind auf der Suche nach einer genaueren Beschreibung, wo die Grenzen der Intellectual History liegen.

PK: Wie kann Intellectual History dann betrieben werden? Was ist Ihr Forschungsinteresse in diesem (größeren) Feld? Aber auch: Was bedeutet dies für weitere Forschungen?

SL: Mir ist wichtig, dass der Zeitabschnitt, den ich untersuche, für mich und spätere Leser anschaulich wird: Intellectual History will neben den damals verfassten – und heute noch interessierenden – Texten die Person des Verfassers ins Licht rücken, also z. B. fragen, warum er im Exil wenig geschrieben hat. Da kommen so profane Dinge wie prekäre Anstellungsverhältnisse ins Spiel. Von Belang sind zudem Netzwerke: Mit wem traf sich der Autor zu geselligen Runden, die zuweilen zur Gründung von Zeitschriften führten? Intellectual History möchte indes nicht den Text durch den Kontext „zudecken“, sondern Bezüge herstellen: Wo kommt in einem Buch das Zeitgeschehen (indirekt) zum Tragen? Ein Beispiel: Ich befasse mich biographisch mit Arnold Bergstraesser. Warum las er im Jubiläumsjahr 1949 Texte von Johann Wolfgang von Goethe „politisch“? Das Konzept wirkt wie ein Bindeglied: Deutlich werden sowohl der individuelle Anspruch in der jeweiligen Ära wie auch soziale Bedingungen. So treten Biographie und Kontext in ein Wechselverhältnis. Das Umfeld prägt eine Person, die Äußerungen derselben Person bewirken wiederum Reaktionen z.B. von Kollegen oder Zeitungslesern.

FS: Mich interessiert vor allem Wissenschaftsgeschichte. Es wird viel von sozialen Bedingungen von Wissenschaft, aber auch über deren Einfluss gesprochen. Ich bin aber skeptisch. Natürlich haben Wissenschaften mitunter einen beachtlichen Einfluss, aber der ist viel indirekter, weil ja Wissenschaft nach bestimmten eigenen Prinzipien abläuft – oder: ablaufen sollte –, die nicht einfach mit sozialen Bedingungen und Wirkungen kurzgeschlossen werden. Die Vorstellung, Politik und Gesellschaft könne durch Intellektuelle verändert werden, halte ich für illusionär und auch ein bisschen gefährlich. Konkret interessieren mich politik- und sozialwissenschaftliche Kontroversen im 20. Jahrhundert. Sicherlich gibt es gute Gründe, etwa nach dem politischen oder sozialen Standpunkt von bestimmten Wissenschaftlern und Intellektuellen zu fragen. Zugleich: Was ist damit gewonnen, wenn wir etwa wissen, dass Max Weber ein Nationalliberaler war? Das Interessante sind doch seine Erkenntnisse über moderne Gesellschaften. Nationalliberale gab es viele, aber nur einen Max Weber.

ET: Im Moment verfolge ich zwei Gedanken: Einmal konzentriere ich mich auf die konzeptionellen Debatten um Intellectual History im 20. und 21. Jahrhundert. Darin werden nicht nur unterschiedliche Traditionen und Fachverständnisse zwischen Politikwissenschaft und Geschichte wie zwischen Amerika und Europa, aber auch innerhalb Europas offenbar. Auch zeigt sich die Tücke, sie als Konzept überhaupt zu greifen. Intellectual History sollte sich nicht zu einem rhetorischen Label entwickeln. Ihre Eingrenzung setzt voraus, über den Standpunkt des Beobachters nachzudenken. Daneben interessieren mich Rezeptionsprozesse – anhand von Klassikern des politischen Denkens. Konkret: Wer liest Texte Jean-Jacques Rousseaus? Was passiert mit seinen Stichworten? Wie werden sie – gerade innerhalb der Politischen Theorie – aufgenommen, verändert, transportiert, verringert oder erweitert? Taucht ihr Autor dabei auf oder verschwindet er über die Säkula seiner Re-Lektüren?

PK: Da will ich nochmals nachhaken: Welche Erkenntnisse haben Sie (in eigenen Arbeiten) durch Intellectual History gewonnen?

SL: Nachdem ich mich dem Konzept der Intellectual History zuwandte, sind mir Entstehung und Bedeutung bestimmter Ideenkonglomerate deutlicher geworden: Um bei Goethe als Beispiel zu bleiben – zwischen Text, Kontext und Subtext im Text ist mir nun erklärlich, dass sich der Autor als „Marke“ jeweils als ein Argument nutzen ließ: In den 1930er Jahren kam er als Mahner zu Humanität in Frage, nach 1945 als Vorbild, wie man Humanität praktisch üben kann (zentral für die Generation, die den Zweiten Weltkrieg erlebt hatte). In einem Aufsatz über Arnold Bergstraesser als „konservativen Humanisten“ habe ich 2017 diese Position in einem – undeutlichen – Feld ideologischer Schichten zu erklären versucht, in denen diesseits der politischen Couleur Modernisierung auch Rückgriff auf die Geschichte hieß.

FS: Ich habe einfach viel gelernt – etwa, dass es gar nicht so selten ist, wie manche Theoretiker eine einmal gefundene Position, von deren Begrenztheit sie durchaus wissen, immer wieder auf das Neue vertreten und nur an die wechselnden politischen und sozialen Gegebenheiten anpassen. Da blättert auch etwas Lack ab, wenn man feststellen muss, dass durchaus renommierte Sozialwissenschaftler aller paar Jahre den Untergang der westlichen Welt verkünden, dies aber mit Argumenten vertreten, die sich schon seit Jahrzehnten überlebt haben.

PK: Welche Grenzen hat die Befassung mit Intellectual History?

FS: Die Annahme, dass kognitive und soziale Prozesse „irgendwie“ korrelieren, ist einfach schwer zu operationalisieren. Intellectual Historians nehmen meist implizit an, dass es soziale Konstellationen sind, die ein bestimmtes Wissen konstituieren. Das führt dazu, dass die konkrete Aussage selbst aus dem Blick gerät. Ich will diesen wissenschaftssoziologischen Blick nicht in Frage stellen, jedoch erscheint mir eine These, dass bestimmte wissenschaftliche Erkenntnisse nur der Nebeneffekt von politischen oder kulturellen Prozessen gewesen ist, unhaltbar. Und dennoch wäre es falsch, zu behaupten, es gäbe diesen Einfluss nicht. Es ist kompliziert und deshalb interessant.

ET: Ich kann mich dem nur anschließen. Letztlich untersuchen wir Einflussgrößen, Hintergründe, Bedingungen oder Prägungen für politisches, soziales oder geistiges Wissen und seine Austauschprozesse. Ihr Zusammenspiel und ihr Verhältnis zu gewichten, ist für mich die Herausforderung.

PK: Wir sprachen eben darüber: Wie begegnen Sie dem Vorwurf an die Intellectual History als Konzept, gerade als Mischform beliebig zu sein?

SL: Wissenschaft muss sich immer neu die Frage stellen, ob die Methoden, mit denen sie ans Werk geht, den gegenwärtigen wissenschaftlichen Ansprüchen genügen. Intellectual History hat zum einen bewiesen, dass sie andere Ergebnisse erzielen kann als konträre, eher auf überzeitliche Fragen angelegte Zugänge. Zum anderen ist sie selbst „Kind der Zeit“ und wird irgendwann historisiert – bzw. ist das schon im Gange. Die Stärke der Mischform sehe ich gerade heute darin, in allgemein perzipierten Krisenzeiten eine Art synoptischen Zugriff zu erlauben: Man sieht eben nur das mit Ausgewogenheit, was aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet wurde – insofern ist die Intellectual History eine Metamethode. Gleichwohl stelle ich mir die Frage, was nach dieser Methode „unerklärlich“ bleibt.

PK: Lässt sich das, was Sie bisher getan haben, eventuell als methodisches Rüstzeug für zukünftige Forschungsfelder nutzen?

SL: Ich möchte die Erkenntnisse aus der biographischen Arbeit zu Leben und Werk Arnold Bergstraessers durch vergleichende Blicke auf europäische Intellektuelle und ihre Wirkung z. B. in der aktuellen Frage der „Lage Europas“ anwenden. Die kritische Sicht (Intellektuelle haben kaum mehr Einfluss) ist für mich nicht schlüssig: In Zeiten von Twitter schafft es mancher, mit – zugegeben meist provokanten – Thesen, eine öffentliche Debatte zu beginnen. Man denke an Michel Houellebecq mit seinem Schreckbild eines völlig veränderten Landes Frankreich. Aufmerksamkeit erhält zuweilen indes der Typus des „Vermittlers“, dabei denke ich an Jürgen Habermas, dessen Ideen soweit bekannt sind, dass seine Vorschläge zur Weiterentwicklung der Europäischen Union nicht als „Aufschrei“, sondern fast als nüchternes Arbeitspapier gelten. Drittens hat die materielle Veränderung von Kommunikation jedem Bürger direktere Zugriffschancen eröffnet: Die Frage ist, wer entscheidet, welche Beiträge als „klug“ zu bewerten sind, und wie diese Verbreitung finden angesichts vieler egoistischer Einwürfe. So kann die Frage nach der Balance zwischen Partizipation und der ungleich verteilten Sachkenntnis nicht außen vor bleiben. Mich interessieren Bürger, die ein geistiges Projekt durchbringen – werden sie sogleich zu Intellektuellen?

ET: Ich möchte einen epistemologischen Zugang stärken, auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen. Ein gedankliches Umrunden von Intellectual History schafft präzisere Arbeitsgrundlagen für Historiker und Politikwissenschaftler, die sich diesem Konzept verpflichtet fühlen. Es geht um die Schärfung eines analytischen Werkzeugs. In einem untrennbaren Zusammenhang steht aber seine Anwendung am Material. Im Grunde lassen sich solche konzeptionellen Fragen nur anhand von Forschungsfragen und Vorhaben beantworten. Innerhalb des Forschungsbereiches werden – wie angesprochen – biografische Projekte verfolgt, auch gehören Wandlungsprozesse in der Bundesrepublik zu den Themenfeldern