Ernährungs-Apps besser verstehen und einsetzen
Forschungskooperation mit Beteiligung der TU Chemnitz und des Sonderforschungsbereichs Hybrid Societies identifiziert vielfältige Ansatzpunkte für die Weiterentwicklung von Apps zur Verbesserung des Ernährungsverhaltens
(Quelle: Pressemitteilung der Universität Konstanz vom 28.06.2021 mit Ergänzungen der TU Chemnitz)
Ernährungs-Apps sind effektive Helfer, wenn es um die Initiierung und Unterstützung von Ernährungsumstellungen geht. Von vielen Forschenden im Bereich digitaler Gesundheitstechnologien werden sie daher als eine niedrigschwellige, einfach verfügbare und günstige Möglichkeit für individuelles Ernährungsmanagement eingeschätzt. Dennoch liegen die Nutzungsraten von dieser Apps weit hinter ihrem Potenzial zurück. Die Gründe dafür sind zahlreich, breit gefächert und wurden in der Vergangenheit mit unterschiedlichen Methoden erforscht. Was bisher noch nicht vorlag, war eine systematische Übersicht über den Forschungsstand. Dem haben sich Forschende der Technischen Universität Chemnitz, der Universität Konstanz, der Universität Bayreuth sowie der Universität zu Lübeck angenommen. Grundlage dafür war eine systematische Literaturrecherche über die Gründe für die (Nicht-)Nutzung von Ernährungs-Apps. Der Überblicksartikel ist nun im Fachmagazin „Journal of Medical Internet Research – mHealth and uHealth“ erschienen.
Erstautorinnen und Initiatorinnen der Untersuchung waren Christiane Attig, Wissenschaftliche Koordinatorin am Sonderforschungsbereich Hybrid Societies und Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur Angewandte Gerontopsychologie und Kognition (Leitung: Prof. Dr. Georg Jahn) der TU Chemnitz, sowie Jun.-Prof. Dr. Laura König, die das Projekt in der Arbeitsgruppe der Gesundheitspsychologin Prof. Dr. Britta Renner an der Universität Konstanz begann und als Juniorprofessorin an der Universität Bayreuth fortsetzte. Ebenfalls beteiligt war der Ingenieurpsychologe Prof. Dr. Thomas Franke von der Universität zu Lübeck.
Über 2.600 Artikel ausgewertet
Durch diese Literaturrecherche identifizierten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler 28 Artikel, auf deren Grundlage sie den aktuellen Forschungsstand zu Nutzungsbarrieren und -motivatoren bezüglich Ernährungs-Apps abbildeten. Insgesamt wertete das Team über 2.600 Artikel aus. „Wir haben die Artikel zunächst nach inhaltlicher Relevanz überprüft. Danach haben wir sukzessiv die relevanten Artikel nach vordefinierten Einschlusskriterien beurteilt“, erklärt Christiane Attig. Die Forscherin und Studien-Mitinitiatorin von der TU Chemnitz war für die Ableitung der sogenannten Design-Guidelines verantwortlich. Dabei geht es darum, aus dem Datenmaterial zur Nutzung der Apps Erkenntnisse zum Beispiel für eine zugänglichere und effektivere Nutzung abzuleiten. Das betrifft unter anderem Hinweise zur Transparenz, Gebrauchstauglichkeit oder der Rückgriff auf bewährte Verhaltensänderungstechniken. „Schließlich wurden 28 Artikel identifiziert, die in die Analyse eingingen, um den aktuellen Forschungsstand zu Nutzungsbarrieren und -motivatoren bezüglich Ernährungs-Apps abzubilden“, so Jun.-Prof. Dr. Laura König (Universität Konstanz/ Universität Bayreuth), die das Projekt gemeinsam mit Christiane Attig von der TU Chemnitz initiierte.
„Unsere Ergebnisse legen nahe, dass viele kommerziell erhältliche Ernährungs-Apps nur unzureichend mit den Bedürfnissen der Nutzerinnen und Nutzer übereinstimmen, und es daher schnell zu Motivationsverlusten hinsichtlich der kontinuierlichen Nutzung kommen kann. Gleichzeitig zeigt unser Artikel, dass die Faktoren, die zur initialen oder fortgesetzten Nutzung motivieren, oft spiegelbildlich zu den Schwächen stehen. Das heißt, die Implementierung einer speziellen Software-Funktion wie einer vertrauenswürdigen Nahrungsmitteldatenbank wird als Motivator empfunden, während deren Abwesenheit als Barriere wahrgenommen wird“, sagt Laura König. Die Literaturrecherche wurde im Rahmen eines Forschungsaufenthaltes Königs an der TU Chemnitz initiiert.
Über 300 Barrieren und Motivatoren identifiziert
„Wir konnten über 300 einzelne Barrieren und Motivatoren aus den Artikeln extrahieren, die in einem Rahmenmodell zusammengefasst wurden“, führt die Psychologin König weiter aus.
Dieses Rahmenmodell zeigt, dass sich die Nutzungsbarrieren und -motivatoren in vier große Bereiche einteilen lassen. Im ersten Bereich wurden Faktoren zusammengefasst, die sich auf die (potenziellen) Nutzenden von Ernährungs-Apps beziehen. Hierzu zählt beispielsweise das Interesse an diesen Apps oder wie gut die Nutzung solcher Apps mit dem Alltag der Nutzerinnen und Nutzer vereinbar ist. Der zweite Bereich umfasst Faktoren, die sich direkt auf die Technologie beziehen. Hier zeigt das Modell unter anderem, dass die Vertrauenswürdigkeit in die den Apps zugrundeliegenden Datenbanken ausschlaggebend für die Nutzung ist. Manche Datenbanken werden von den Erstellerinnen und Erstellern der App kuratiert; andere Datenbanken erlauben allen Nutzerinnen und Nutzern, weitere Nahrungsmittel und Rezepte hinzuzufügen, was beispielsweise zu ungenauen Nährwertangaben führen kann.
Die Interaktion zwischen App und Person wird im dritten Bereich abgebildet, insofern die Nutzung von Ernährungs-Apps sowohl positive als auch negative Folgen für das Wohlbefinden und die Gesundheit haben kann. So kann die Nutzung einer Ernährungs-App einerseits wie gewünscht zu einer gesünderen Ernährung führen. Die konstante Auseinandersetzung mit dem eigenen Essverhalten kann aber auch Schuldgefühle auslösen, wenn ungesünder gegessen wird als gewünscht. Diese Folgen können wiederum die Motivation zur weiteren Nutzung beeinflussen. Schließlich spielt auch das soziale Umfeld eine Rolle, da – wie der vierte Bereich zeigt – beispielsweise App-Userinnen und -User im Familien- oder Freundeskreis oder medizinisches Fachpersonal zur Nutzung von Ernährungs-Apps animieren können.
Es gibt nicht die eine perfekte Ernährungs-App
Neben der Zusammenfassung des aktuellen Forschungsstandes erläutert das Forschungsteam, welche Bedeutung die Ergebnisse für App-Hersteller haben: „Wir haben acht Design-Richtlinien aus den Ergebnissen ableiten können, die zu einer höheren Zufriedenheit der Nutzerinnen und Nutzer beitragen können, indem beispielsweise die Transparenz hinsichtlich der Datenquellen für die Nährwertangaben erhöht wird", erklärt Christiane Attig.
„Die Literaturrecherche zeigt deutlich, wie divers die Gründe sind, die für viele Menschen für oder gegen die Nutzung von Ernährungs-Apps sprechen. Dabei kristallisiert sich immer wieder heraus, dass es nicht die eine perfekte Ernährungs-App zu geben scheint – vielmehr braucht es Möglichkeiten zur Individualisierung von Apps, sodass unterschiedliche Bedürfnisse adressiert werden können“, so Britta Renner.
Hintergrund: Förderung der Untersuchung und Kooperation
Die Forschungsarbeit der beiden Erstautorinnen Laura König und Christiane Attig wurde von der Fachgruppe Gesundheitspsychologie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs), von dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projekt Smartact sowie dem durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Sonderforschungsbereich (SFB) „Hybrid Societies“ der TU Chemnitz unterstützt.
Die Studie ist eine Kooperation der Gesundheitspsychologinnen Jun.-Prof. Dr. Laura König (Universität Konstanz/Universität Bayreuth) und Prof. Dr. Britta Renner (Universität Konstanz) mit der Ingenieurpsychologin Christiane Attig (TU Chemnitz) und dem Ingenieurpsychologen Prof. Dr. Thomas Franke (Universität zu Lübeck).
Das Projekt wurde durch das Peer-Mentoring Team-Programm der Fachgruppe Gesundheitspsychologie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) gefördert. Weitere finanzielle Unterstützung erhielt es durch das Projekt Smartact, das durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird, sowie durch den Sonderforschungsbereich Hybrid Societies der TU Chemnitz, der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wird.
Veröffentlichung
Originalpublikation: König, L. M., Attig, C., Franke, T., & Renner, B. (2021). Barriers to and facilitators for using nutrition apps: a systematic review and conceptual framework. JMIR mHealth and uHealth, 9(6), e20037. doi: 10.2196/20037
Multimedia
In der ersten Staffel des Podcast-Formats „TUCscicast“ spricht TU-Psychologin Christiane Attig über helfende Maschinen und die Psychologie von Fitness-Trackern.
Matthias Fejes
30.06.2021