Wissenschaftlich Bilanz zum Brexit gezogen
Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei hochkarätig besetzter Konferenz diskutierten an der TU Chemnitz über Auswirkungen des Brexit auf Deutschland und die EU
Knapp eineinhalb Jahre sind seit dem endgültigen Austritt des Vereinigten Königreichs (VK) aus der Europäischen Union und dem EU-Binnenmarkt vergangen. Wie hat sich seitdem das Verhältnis zwischen den beiden Akteuren entwickelt? Das war die Leitfrage, vor deren Hintergrund die Professur Internationale Politik (Leitung: Prof. Dr. Kai Oppermann) der Technischen Universität Chemnitz in Kooperation mit der Konrad-Adenauer-Stiftung und dem Arbeitskreis Europäische Integration e. V. zu einer Tagung mit dem Titel „Brexit – eine erste Bilanz für Deutschland und die EU“ einluden. Die Tagung fand am 19. und 20. Mai 2022 im Alten Heizhaus der Technischen Universität Chemnitz statt.
Nach einem Grußwort des Rektors der TU Chemnitz, Prof. Dr. Gerd Strohmeier, sowie der Eröffnung durch Prof. Dr. Kai Oppermann wurden in insgesamt sechs Panels durch international renommierte Referenteninnen und Referenten aus Forschung und Wirtschaft die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen des Brexit intensiv besprochen.
Zudem diskutierten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer vor dem Hintergrund des Brexit die Zusammenhänge zwischen den Bereichen Sicherheit, Wirtschaft, der deutschen und europäischen Außenpolitik sowie der Zukunft des europäischen Integrationsprojekts. Beleuchtet wurden dabei nicht nur Entstehung und Verlauf des Brexit, sondern auch Fragen zur Zukunft der EU, zur Neuordnung von bi- und multilateralen Kooperationen mit dem VK sowie zu den vielfältigen Auswirkungen des britischen Austritts auf Länder in Ost- und Mitteleuropa.
Durchsetzung des Brexit durch den Machtwillen Boris Johnsons
Im ersten Panel eröffnete Prof. Dr. Roland Sturm von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg die Konferenz, indem er die situationsbezogenen Ursachen, die schließlich zum Referendum über einen EU-Austritt geführt haben, darlegte. Die Durchsetzung des Brexit verortete er dabei besonders im Machtwillen von Boris Johnson. Zudem konstatierte er, dass der Verhandlungsprozess des endgültigen Austritts nur der Beginn eines jahrzehntelangen Prozesses mit ungewissem Ausgang sei.
Auswirkungen des Brexit auf die deutsche Außenpolitik
Prof. Dr. Klaus Stolz, Inhaber der Professur British and American Cultural/Social Studies an der TU Chemnitz, erweiterte diese Darstellung durch den Einbezug der britischen Regionen und der nationalen Identitäten als relevante Abstimmungsfaktoren im Zuge des Referendums und der vorhergehenden Kampagnen.
Im zweiten Panel wurden die Auswirkungen des Brexit auf die deutsche Außenpolitik und Deutschlands Rolle in der EU beleuchtet. Prof. Dr. Sabine Riedel von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) hob im Rahmen der regionalen, föderalen Bestrebungen von Nordirland und Schottland die einschlägigen Erfahrungen Deutschlands in der Ausübung von Föderalismus hervor. Sie betonte hier vor dem Hintergrund der innerdeutschen Wiedervereinigung die besondere historische Expertise.
Neue Chance für Deutschland und die EU
Im Rahmen der „Weltpolitikfähigkeit” der EU und ihrer Mitgliedstaaten, welche durch den Austritt des VK mehr Verantwortung durch die beiden größten Staaten Frankreich und Deutschland voraussetzt, sah Prof. Dr. Gisela Müller-Brandeck-Bocquet von der Julius-Maximilians-Universität Würzburg eine neue Chance für Deutschland und die EU.
Wirtschaftliche Auswirkungen des Brexit
Im dritten und letzten Panel des ersten Konferenztages standen die Auswirkungen des Brexit auf Wirtschaft, Währung und Handel im Fokus. Die Einbindung in den EU-Binnenmarkt und die Zollunion bringt eine Reihe ökonomischer Vorteile mit sich, welche sich positiv auf das Bruttoinlandsprodukt und den Abbau von Handelsbarrieren auswirken. Mit dem Austritt des VK existieren die vier Grundfreiheiten des Binnenmarkts und damit diese Vorteile nicht mehr, wie Prof. Dr. Oliver Holtemöller vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Halle ausführte.
Dr. Jupp Zenzen von der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) fügte dieser Analyse die Dimension der im Vereinigten Königreich ansässigen und mit dem VK Handel treibenden Unternehmen bei. Dabei bestätigten Umfragen die von Holtemöller diagnostizierten Rückgänge besonders im Bereich der Direktinvestitionen sowie des gesamten Handelsvolumens zwischen Deutschland und dem VK.
Politische und gesellschaftliche Entwicklungen
Am zweiten Tag der Konferenz wurden diese Thematiken wieder aufgegriffen und durch weitere Aspekte der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen ergänzt.
Mehr als ein Jahr nach dem Brexit befinde man sich in der Phase der Normalisierung; die Wunden der vergangenen Jahre würden jedoch bleiben, führte Dr. Nicolai von Ondarza von der SWP aus. Trotz der angestrebten Bilateralisierung zwischen dem VK und Deutschland sowie dem „Freundschaftsvertrag“, welcher unter der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel angeregt wurde und ein nach wie vor positives Verhältnis signalisieren soll, seien die Rahmenbedingungen andere. Denn das VK habe den europäischen Tisch verlassen und verfolge nun zunehmend eigene Interessen.
Die Spannungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU bewertet Felix Dane, Direktor des „Ideas Network 2030“ und ehemaliger Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung für das Vereinigte Königreich und Irland, als begründet und bis heute nachhallend. Er appellierte an beide Seiten, die Emotionen beiseitezulegen und besonders im Angesicht der europäischen Sicherheit wieder gemeinsam an den Verhandlungstisch zurückzukommen.
Auswirkungen des Brexit auf Mittel- und Osteuropa
Im fünften Panel wurden die Auswirkungen des Brexit auf Mittel- und Osteuropa in den Mittelpunkt gerückt. Prof. Dr. Ellen Bos von der Andrássy Universität in Budapest stellte die Visegrád-Gruppe um Ungarn, die Tschechische Republik, Polen und die Slowakei und deren politische Ziele der letzten Jahre vor und wie sich diese vor dem Hintergrund des Brexit verändert haben.
Dr. Kai-Olaf Lang von der SWP stellte fest, dass die gemeinsame Vision für die EU sich als zentrale Frage und gleichzeitig größte Ambivalenz für die Visegrád-Gruppe herausstellt.
Brexit und europäische Integration
Im sechsten und letzten Panel der Konferenz standen die Folgen des Brexit für die europäische Integration und die Zukunft der EU im analytischen Fokus. Prof. Dr. Matthias Niedobitek, Inhaber der Jean-Monnet-Professur für Europäische Integration an der TU Chemnitz, analysierte aus juristischer Sicht den Austritt des VK und insbesondere die Austrittsklausel Art. 50 EUV.
Prof. Dr. Mathias Jopp, ehemaliger Direktor des Instituts für Europäische Politik, stellte die Verluste für die EU durch den Austritt des VK heraus. Dabei hob er hervor, dass dies für die EU eine Erfahrung der gemeinsamen Stärke darstellen und den Zusammenhalt der verbleibenden Mitgliedstaaten intensivieren kann.
Die Rolle des VK in der Welt, neu aufkommende Fragen und Probleme in den Regionen Europas und mögliche Chancen und Herausforderungen für die Europäische Union stellten sich am Ende der Konferenz als die zentralen Forschungsbereiche der kommenden Jahre heraus. Sie bilden somit die Grundlage für weitere Diskussionen und Analysen.
(Autorinnen: Anna Gobeli und Sophie Anders)
Matthias Fejes
01.06.2022