„Ich gehe davon aus, dass sich 16 Jahre als neuer Konsens für ein adäquates Mindestwahlalter in Deutschland herausbilden wird“
Nach einer Anhörung als Sachverständiger im Hessischen Landtag am 19. Januar 2023 ordnet der Wahl- und Meinungsforscher Arndt Leininger von der TU Chemnitz im Interview die Argumente für und gegen eine Absenkung des Wahlalters ein
Juniorprofessor Arndt Leininger, PhD, Inhaber der Juniorprofessur Politische Forschungsmethoden an der Technischen Universität Chemnitz und Experte für Wahl- und Meinungsforschung, hat sich mit verschiedenen Argumenten für und gegen eine Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre bei der Bundestagswahl wissenschaftlich auseinandergesetzt.
Kürzlich veröffentlichte er unter dem Titel „Mehr Wählen wagen? Ungleichheiten beim „Wählen ab 16“ und ihre Folgen“ gemeinsam mit seinem Kollegen Prof. Dr. Thorsten Faas, Leiter der Arbeitsstelle Politische Soziologie der Bundesrepublik Deutschland am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, eine neue Studie zu den Folgen eines ungleichen Wahlrechts.
Darüber hinaus ist er als Sachverständiger zu diesem Themenkomplex gefragt, zuletzt im Rahmen einer Anhörung des Hauptausschusses im Hessischen Landtag am 19. Januar 2023. Hier nahm er Stellung zu einem neuen Gesetzentwurf zur Absenkung des Mindestalters bei Wahlen zum hessischen Landtag.
Hintergrund dieser Diskussion ist das deutsche Wahlrecht, das mit Blick auf die Wahlmöglichkeiten junger Menschen einem Flickenteppich gleicht. Während auf Bundesebene bisher nur Volljährige ihre Stimme abgegeben dürfen, gibt es auf Landesebene – also bei Kommunal- und Landtagswahlen – deutliche Unterschiede zwischen den Bundesländern. Darüber hinaus gibt es bei der Europawahl seit vergangenem Jahr eine neue Regelung: Ab 2024 dürfen junge Menschen grundsätzlich bereits mit 16 Jahren an der Europawahl teilnehmen. Auch die aktuelle Bundesregierung hat das Thema „Wahlalter“ im Blick, denn laut Koalitionsvertrag soll die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre bei Bundestagswahlen kommen.
Im Interview klärt Arndt Leininger über Hintergründe des unterschiedlichen Wahlrechts in den Bundesländern auf, beleuchtete Argumente von Befürworterinnen und Befürwortern sowie Gegnerinnen und Gegner und gibt Einblicke in die Forschung, darunter seine neue Studie.
Herr Leininger, wie stark unterscheidet sich das Wahlrecht für jüngere Menschen zwischen den einzelnen Bundesländern?
Wir haben eine starke Fragmentierung des Wahlrechts. So gibt es Bundesländer, in denen 16-Jährige an Landtags- und Kommunalwahlen teilnehmen dürfen, Bundesländer, in denen 16-Jährige ihre Stimme ausschließlich für Kommunalwahlen abgeben können und Bundesländer, in denen ein Mindestwahlalter von 18 Jahren für beide Wahlarten gilt. Letzteres ist übrigens die kleinste Gruppe, in der sich neben Sachsen noch Bayern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und das Saarland befinden. Darüber hinaus beschloss der Bundestag im vergangenen Jahr eine Änderung des Europawahlgesetzes, mit der das Wahlalter ab 16 Jahren für die Europawahlen ab 2024 eingeführt wurde. Ich gehe daher davon aus, dass sich mittel- bis langfristig 16 Jahre als neuer Konsens für ein adäquates Mindestwahlalter in Deutschland herausbilden wird.
Sie haben gemeinsam mit ihrem Kollegen Thorsten Faas von der FU Berlin jüngst eine neue Studie zu den Folgen einer uneinheitlichen Altersgrenze für Wahlen auf Kommunal-, Landes- und Bundesebene veröffentlicht. Können Sie mehr dazu sagen?
Das ist richtig. Wir haben 5.000 junge Berlinerinnen und Berliner zwischen 15 und 20 Jahren befragt. Die Untersuchung fand im Rahmen der Wahlen vom 26. September 2021 statt. Diese sehr aktuelle Untersuchung ergänzt unsere bisherigen Forschungen im Rahmen der Jugendwahlstudien 2019 und 2021. Zusammengenommen ergibt sich ein recht gutes und vor allem konsistentes Bild davon, was es heißt, als Jungwählerinnen und -wähler altersabhängig in unterschiedlicher Weise wählen zu können.
Was haben Sie herausgefunden?
Wir konnten sehen, dass 16- und 17-Jährige genauso an Politik interessiert sind wie Volljährige. Darüber hinaus informieren sich die 16- und 17-Jährigen genauso über wichtige gesellschaftliche Themen sowie Politikerinnen und Politiker. Ganz besonders konnten wir diese Effekte bei Wahlen auf Bundesebene beobachten. Das spricht also dafür, dass sich junge Menschen der demokratischen Verantwortung von Wahlen bewusst sind.
Darüber hinaus untermauert die aktuelle Befragung nochmal, dass es wenig Anlass gibt, an der Befähigung 16- und 17-Jähriger zu politischer Teilhabe auch auf Bundesebene zu zweifeln. Im Gegenteil zeigen die Befunde eher, das Wahlalter nicht nur und auch nicht zuerst auf kommunaler Ebene zu senken
Welche Argumente gibt es für und gegen ein niedrigeres Wahlalter?
Es gibt dafür in der öffentlichen und politischen Diskussionen verschiedene Argumente, die je nach Bundesland und politischer Führung greifen. Ein von Gegnerinnen und Gegnern einer Absenkung des Mindestwahlalters ins Feld geführtes Argument lautet, dass 16- und 17-Jährige noch nicht reif genug seien, um zu wählen. Konkret heißt es, sie würden sich nicht genug für Politik interessieren, somit nicht genug wissen und damit nicht wahlfähig sein.
Die politisch motivierten Proteste gerade junger Menschen, die wir seit mehreren Jahren und auch ganz aktuell um die Klimakrise erleben, scheinen dagegen zu sprechen, oder?
Ja, zumindest sagen das auch Befürworterinnen und Befürworter einer Senkung des Wahlalters. Diese verweisen besonders auf engagierte Jugendliche, die sich beispielsweise in Bewegungen wie Fridays for Future engagieren und denen man kaum die Reife und damit auch nicht das Recht auf die Wahlteilnahme absprechen könne. Sie argumentieren weiter, dass die breitere Masse an Jugendlichen sich nicht für Politik interessieren, weil sie nicht mitbestimmen dürfen. Dürften sie wählen, würde sich das auch positiv auf ihr Interesse auswirken.
Wurden diese Argumente schon forschungsseitig untersucht?
Ja, es gibt mehrere Studien zur politischen Reife Jugendlicher, welche in der Politikwissenschaft als politisches Interesse, politisches Wissen oder auch politische Selbstwirksamkeit untersucht wird.
Zu welchen Ergebnissen kommen die Untersuchungen?
In der älteren Forschung kommen die Autorinnen und Autoren der Studien häufig zu dem Schluss, dass Jüngere im Alter bis 18 Jahren kaum Interesse an politischen Themen zeigen. Daher zeigten sich die Autorinnen und Autoren dieser Untersuchungen eher skeptisch bezüglich einer Herabsetzung des Wahlalters. Allerdings wurden hier Kontexte in den Blick genommen, wo Wahlberechtigte nicht oder noch nicht wahlberechtigt waren. Neuere Untersuchungen, wo Menschen ab 16 Jahren wählen durften, kamen zu anderen Ergebnissen.
Das heißt, es macht einen Unterschied, ob jungen Menschen Verantwortung übertragen wird, der sie in Form einer Wahl gerecht werden müssen?
Ja, genau. Auch bei meinen eigenen Befragungen in den Jahren 2017 bis 2018 in Schleswig-Holstein und 2019 in Brandenburg und Sachsen sowie 2021 in Brandenburg, Sachsen und Berlin zeigte sich, dass 16- und 17-Jährige – ja sogar 15-Jährige – politisch genauso interessiert sind wie junge Erwachsene. Auch in Berlin, wo 16- und 17-Jährige am 26. September 2021 an der Kommunalwahl teilnehmen durften, anders als junge Erwachsene aber nicht an der gleichzeitig stattfindenden Landtagswahl, sehen wir bezüglich des politischen Interesses keine relevanten Unterschiede zwischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen.
Diese Ergebnisse betreffen ja erstmal die Argumentation der Gegnerinnen und Gegner einer Herabsetzung des Wahlalters. Wie sieht es mit dem Argument der Gegenseite aus?
Auch zu dieser Frage, also ob junge Menschen sich bewusst politisch zurückhalten, da sie nicht gefordert werden, gibt es einige Studien.
So kommt eine Untersuchung aus Norwegen von 2013 zu dem Ergebnis, dass die Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre keine Auswirkungen auf die Kompetenz- und Interessenunterschiede zwischen 16- und 17-jährigen und älteren Wählerinnen und Wählern hat. Wurde das Wahlalter jedoch gesenkt, stieg das politische Interesse sowohl bei 16- und 17-Jährigen als auch bei jungen Erwachsenen.
Eine weitere Studie von 2013 nimmt die Einführung des neuen Wahlalters ab 16 Jahren in Österreich in den Blick. Sie beruht auf einem Vergleich von zur Europawahl 2004 nicht wahlberechtigten 16- und 17-jährigen Österreicherinnen und Österreichern mit wahlberechtigten 16- und 17-Jährigen, die nach der Nationalratswahl 2008 befragt wurden. Zwischen diesen beiden Wahlen hat Österreich das Wahlalter für alle Wahlen auf 16 Jahre gesenkt. Die Forscherinnen und Forscher stellen fest, dass 16- und 17-jährige Wahlberechtigte, die nach der Nationalratswahl befragt wurden, ein größeres politisches Interesse zeigen.
Das deutet auf eine Stichhaltigkeit der Argumente der Befürworterinnen und Befürworter hin.
Nicht unbedingt. Was die Ergebnisse aus Österreich betrifft, kann hier auch ein einmaliger Effekt der erstmaligen Umsetzung der Reform ausschlaggebend sein. Denkbar ist auch, dass die größere Bedeutung der nationalen Wahlen im Vergleich zu den Europawahlen eine Rolle gespielt hat.
Dieser Effekt könnte auch bei einer aktuellen Studie von 2018 aus Schottland der Fall sein. Hier wurden im Vorfeld der Parlamentswahlen im Vereinigten Königreich im Jahr 2015 junge Schottinnen und Schotten, die beim schottischen Unabhängigkeitsreferendum 2014 im Alter von 16 Jahren wählen durften, mit jungen Engländerinnen und Engländer verglichen und festgestellt, dass erstere ein stärkeres politisches Interesse zeigten. Es bleibt jedoch auch hier unklar, ob das der besondere Effekt dieser Wahl und des neuen Wahlstatus war.
Nach aktueller Studienlage bleibt unsicher, ob sich die Erlangung der Wahlberechtigung positiv auf die grundsätzliche politische Orientierung junger Menschen auswirkt – also ob Politik als interessant und relevant für das eigene Leben eingeschätzt wird. Einige Studien deuten dies jedenfalls an.
Wie schätzen Sie die Argumente auf Basis Ihrer eigenen Forschung ein?
Auf Basis meiner eigenen Erhebungen in verschiedenen Bundesländern konnte ich feststellen, dass wahlberechtigte Jugendliche, wie sich auch in anderen Studien zeigt, wahlrelevante Informationen gezielt suchen, die sie verstärkt durch Nutzung des Wahl-O-Mats oder durch Gespräche im sozialem Umfeld bekommen.
Wie ist Ihre Einschätzung bezüglich der Auswirkungen einer generellen Absenkung des Wahlalters?
Hier muss man unterscheiden, welche Effekte man sich erhofft. Falls die Frage im Raum steht, ob eine Absenkung des Wahlalters allein ausreichen wird, um Jugendliche zum Beispiel stärker für Politik zu interessierten, dann stehe ich dem eher skeptisch gegenüber.
Jedoch würde eine Absenkung des Wahlalters mit sich bringen, dass deutlich mehr und potentielle Erstwählerinnen und -wähler noch bei ihren Eltern leben und zur Schule gehen, wo sie Informationen über die bevorstehende Wahl einfacher erhalten können, als wenn sie Elternhaus und Schule schon verlassen haben. Diese Mobilisierung dürfte bei Landtagswahlen noch einfacher und erfolgreicher ausfallen als bei Kommunalwahlen, da erstere in der Bevölkerung als wichtiger wahrgenommen werden.
Welche Effekte erwarten Sie bei einer Absenkung des Wahlalters auf die Wahlbeteiligung?
Kurzfristig führt eine Absenkung des Wahlalters zunächst zu einer minimalen Absenkung der Wahlbeteiligung, denn jüngere Menschen gehen unterdurchschnittlich häufig wählen.
Es gibt jedoch eine wichtige Ausnahme: Ein Blick auf die repräsentative Wahlstatistik zeigt, dass 18- bis 20-Jährige systematisch häufiger wählen als Wahlberechtigte von Anfang bis Ende 20. Dies ist neben dem Effekt der erstmaligen Wahlberechtigung darauf zurückzuführen, dass sich ein Teil dieser Altersgruppe eben noch nicht in einer Umbruchphase des Lebens befindet, sondern noch im Elternhaus lebt, zur Schule geht und im sozialen und gesellschaftlichen Leben verankert ist. Dies gilt umso mehr für 16- und 17-Jährige. Für diese Altersgruppe liegen bisher noch wenige Daten aus der repräsentativen Wahlstatistik vor. Doch dort, wo sie wählen dürfen, liegt ihre Wahlbeteiligung nochmals über der der 18- bis 20-Jährigen.
Gleiches wird auch aus Österreich berichtet. Ein niedrigeres Wahlalter könnte sich somit langfristig positiv auf die Höhe der Wahlbeteiligung auswirken. Denn wir wissen ebenfalls aus der politikwissenschaftlichen Forschung: Wer in Folge der erstmaligen Wahlberechtigung tatsächlich auch wählt, wird dies auch mit großer Wahrscheinlichkeit in der Zukunft tun.
Vielen Dank für das Gespräch.
Matthias Fejes
23.01.2023