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„Falsche Propheten“ in Sachsen

Soziologen der TU Chemnitz erstellten im Auftrag der Otto-Brenner-Stiftung eine Studie zu Agitationstechniken der extremen Rechten im Sächsischen Landtag

Die extreme Rechte nutzt die parlamentarische Bühne im Sächsischen Landtag  systematisch für ihre agitatorischen Ziele. Entlang der Themen Migration, Klimawandel und Gender werden Bedrohungs- und Angstszenarien aufgebaut, die an verbreitete Ressentiments anschließen und bis hin zu einem Kampf um völkische Selbsterhaltung übersteigert werden. Das zentrale Feindbild ist die Partei Bündnis 90/Die Grünen, aber auch die CDU steht im Fokus. Ihr wird vorgeworfen, die „wahren“ konservativen Werte zu verraten und sich der „grünen Ideologie“ zu unterwerfen. Die extreme Rechte selbst stilisiert sich als Bewahrerin konservativer Politik und beansprucht für sich, märtyrerhaft für die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger zu kämpfen. Das sind zentrale Ergebnisse der Studie „‚Falsche Propheten‘ in Sachsen – Extrem rechte Agitation im Landtag“, die die Otto Brenner Stiftung am 22. August 2024 veröffentlicht hat.

Die Analyse der an der Professur Soziologie mit dem Schwerpunkt soziologische Theorien der Technischen Universität Chemnitz beschäftigten Wissenschaftler Dr. Ulf Bohmann, Moritz Heinrich und Matthias Sommer zeigt detailliert, mit welchen rhetorischen Techniken die extreme Rechte ihre Themen setzt. Hierfür adaptieren und aktualisieren die drei Autoren das Konzept der Agitation, das der deutsche Literatursoziologe Leo Löwenthal für seine wegweisende Studie „Falsche Propheten. Studien zur faschistischen Agitation“ in den 1940er Jahren entwickelt hat. Die aktuelle Studie der Chemnitzer Soziologen zeigt, dass es zwischen der Agitation der heutigen extremen Rechten in Sachsen und den von Löwenthal untersuchten politischen Reden weitreichende thematische Entsprechungen gibt, teilweise bis in die konkrete Wortwahl.

„Agitation ist eine Form der politischen Rede, die allein darauf aus ist, Unzufriedenheit, Misstrauen und Aggressionen zu befördern. Wir sind durchaus überrascht, wie ausgeprägt die extreme Rechte im Sächsischen Landtag auch unter eigentlich zur Mäßigung anhaltenden parlamentarischen Bedingungen ihre agitatorische Rhetorik nutzt“, sagt Studienautor Ulf Bohmann mit Blick auf die Auswertung von 84 Parlamentsreden aus der aktuellen Legislaturperiode des sächsischen Landtages (2019-2024). In diesen werden Migration, Klimaschutz und Gleichstellungspolitik wiederkehrend als massive, verdrängende und überwältigende Bedrohungen für Sachsen dargestellt. Die sächsischen Bürgerinnen und Bürger spricht die extreme Rechte als Mitglieder einer völkischen Gemeinschaft an, die in ihrer Substanz angegriffen werde. „Die Agitation der extremen Rechten ist keine demokratische Oppositionsarbeit. In den agitatorischen Reden geht es nicht um konstruktive Politik, sondern darum, vermeintlich Schuldige für Krisenerfahrungen zu benennen und einen Opfermythos zu verbreiten“, so Ko-Autor Moritz Heinrich. In einer Wir-gegen-Sie-Logik werden Ressentiments, Wut, Angst und entsprechende Abwehrreaktionen besonders gegen Migrantinnen und Migranten, Geschlechterforscherinnen und -forscher, LGBTQ* sowie die Grünen befeuert. In ihrer Selbstdarstellung zeichnet sich die extreme Rechte als eine Bewegung der „einfachen Leute“ und nimmt darin zentrale Motive auf, die die Inszenierung der Führerfigur im Faschismus des 20. Jahrhunderts auszeichnete.

Die Grünen stehen speziell im Fokus: Sie werden als Ursache für das heraufbeschworene Unheil benannt. Als böswillige und gefährliche Elite arbeite die Partei systematisch an der Täuschung der Bürgerinnen und Bürger, ihre „Ideologie“ habe sie bereits über alle parteipolitischen Lager hinweg durchgesetzt. In der Feindbildkonstruktion werden immer wieder auch Assoziationen zur DDR-Vergangenheit aufgerufen, um diese mit der Gegenwart gleichzusetzen und eine kommende „Ökodiktatur“ vorherzusagen. „Die einfache Aufteilung der Welt in Gut und Böse, insinuierende Infragestellungen, alles in Zweifel ziehen und sich selbst als einzigen Träger der Wahrheit inszenieren: Das zeichnet Agitatoren als falsche Propheten aus“, fasst Ko-Autor Matthias Sommer einige der zentralen rhetorischen Techniken extrem rechter Agitation zusammen.

In der Analyse politischer Praktiken der extremen Rechten knüpft die aktuelle Studie an vorliegende Forschungsarbeiten der Professur Soziologie mit dem Schwerpunkt soziologische Theorien an. Im Buch „Risikodemokratie. Chemnitz zwischen rechtsradikalem Brennpunkt und europäischer Kulturhauptstadt“ (Jenni Brichzin/ Henning Laux/ Ulf Bohmann 2022, transcript Verlag) wurde insbesondere das alltägliche öffentliche Auftreten der extremen Rechten jenseits klassischer politischer Institutionen betrachtet. Indem die aktuelle Studie zentrale Elemente agitatorischer Mobilisierung herausarbeitet, eignet sie sich auch für die politische Bildung: „Wie Löwenthal sind wir davon überzeugt, dass es eine genaue Analyse der Agitation bedarf, um ihre Funktionsweise und Anziehungskraft besser zu verstehen und zu entlarven“, so Ulf Bohmann.

Veröffentlichung: Ulf Bohmann / Moritz Heinrich / Matthias Sommer: ‚Falsche Propheten‘ in Sachsen –Extrem rechte Agitation im Landtag, OBS-Arbeitspapier 70, Frankfurt am Main, August 2024 (Arbeitspapier kostenlos online lesen, bestellen oder downloaden: https://www.otto-brenner-stiftung.de/falsche-propheten-in-sachsen/)

Kontakt zu den Autoren: Dr. Ulf Bohmann, Telefon +49 (0)371 531-31153, E-Mail ulf.bohmann@hsw.tu-chemnitz.de

Mario Steinebach
22.08.2024

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