Bricht unser Gesundheitssystem zusammen, wenn syrische Ärzte beim Aufbau ihres Landes helfen?
Prof. Dr. Birgit Glorius von der TU Chemnitz ist Expertin für Migration und das europäische Asylsystem – Im Interview spricht sie über aktuelle politische Forderungen zur Rückführung syrischer Flüchtlinge und zu Faktoren für eine erfolgreiche Integration von Flüchtlingen in Deutschland
Die Chemnitzer Migrationsforscherin Birgit Glorius ist irritiert von deutscher Egozentrik: Wenn Syrer arbeiten, ist es gut, wenn nicht, setzen wir sie ins Flugzeug! Zahlenspiele zum Remigrationsverhalten hält sie für ebenso unsinnig wie Rückführungsforderungen für unseriös. Darüber sprach Jens Eumann (Freie Presse) mit Prof. Dr. Birgit Glorius, Inhaberin der Professur Humangeographie mit dem Schwerpunkt Europäische Migrationsforschung an der Techischen Universität Chemnitz.
Was halten Sie von aktuellen politischen Forderungen zur Rückführung syrischer Flüchtlinge?
Natürlich darf die Politik im Aufnahmeland fordern, die Situation neu zu bewerten. Das sollte man aber in besonnener Art tun. So schnell und mit der Eindeutigkeit, in der diese Reaktionen kommen, sind sie unmoralisch. Sie setzen Menschen, die seit zehn Jahren hier leben, unter Druck. Die sind im Angststress. Was mich am meisten irritiert, ist, dass man es ausschließlich aus der Eigenperspektive betrachtet: Wenn sie arbeiten, ist es gut, wenn nicht, setzen wir sie ins Flugzeug. Auch stellt sich die Frage: Ist es überhaupt seriös, solche Forderungen aufzustellen?
Ist es das? Wieviel Augenwischerei wird betrieben, um sich für erwartete Wählerinteressen bei der Neuwahl zu positionieren?
Vieles ist zwar theoretisch möglich, aber nicht umsetzbar. Realitäten haben sich anders entwickelt. Einen ursprünglich gewährten Schutzstatus noch mal zu überprüfen, ist eigentlich nach drei Jahren vorgesehen. Es war aber eine praktische Entscheidung des Bundesamtes zu sagen: Das machen wir nicht mehr, zumindest nicht als Regelfall, höchstens als Stichprobe. Anders schaffen wir das gar nicht. Selbst wenn das Gesetz solche Überprüfungen jetzt ermöglichen würde, die Praxis ließe das nicht zu.
Sie reden jetzt von befristeten Aufenthaltstiteln. Wie ehrlich sind Rückführungsforderungen bei Menschen, die nach fünf Jahren eine dauerhafte Niederlassungserlaubnis haben?
Solche Forderungen sind im höchsten Maße sinnlos, denn die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis bedeutet ja, dass jemand umfassend integriert ist: Man muss Deutsch können, darf keine Transferleistungen beziehen. Selbst wenn also das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Flüchtlingsschutz widerruft, können diese Menschen nicht ausgewiesen werden, sondern sie haben das Recht auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zu anderem Zweck, also etwa der Erwerbstätigkeit. Die Aufenthaltstitel entsprechend zu ändern, ist Sache der kommunalen Ausländerbehörden. Von den jetzt 712.000 Syrern mit Fluchtmerkmalen in Deutschland haben 81.500 eine Niederlassungserlaubnis, 161.000 sind eingebürgert. Das ist ein Drittel, bei dem eine stabile Aufenthaltssituation besteht. Bei dieser Gruppe stellt sich die Frage der Rückführung definitiv nicht. Was gangbar wäre, sind Widerrufsprüfungen von Aufenthaltstiteln bei schwer straffällig gewordenen Menschen, bei denen Interesse besteht, dass sie nicht in Deutschland bleiben. Bei allen anderen sollte man Rückführungsforderungen schnell zur Seite legen.
Sie sagten, man müsse die Gefährdungssituation in Syrien neu bewerten. Was sind Indikatoren dafür, dass man Syrien als ein für Rückkehr geeignetes sicheres Land einstufen kann?
Mit dem gesetzlichen Begriff des sicheren Herkunftslandes hat das nichts zu tun. Im Asylgesetz gibt es einen Passus, der beschreibt, wann man Flüchtlingsschutz widerrufen kann. Dazu muss man im Einzelfall prüfen, welche Argumente noch gelten, welche ursprünglichen Fluchtgründe fortbestehen. Gibt es noch Gewalt gegen Menschen, staatliche, aber auch nichtstaatliche Gewalt? Im Moment haben wir in Syrien eine Rebellengruppe in der Machtposition, die früher dem Islamischen Staat zugeordnet wurde. Da ist die Situation extrem unübersichtlich. Es muss sich eine Staatlichkeit herausbilden, also eine Ordnung, unter der die verschiedensten Gruppen wieder sicher sind.
Wie lange dauert so etwas im Bestfall?
Vielleicht ist in drei Jahren alles prima, aber im Nahen Osten gibt es eine sehr volatile Großwetterlage. Nehmen Sie den Irak zum Vergleich: Da urteilt man, dass es jetzt eine Demokratie ist. Doch auch dort gibt es Regionen, wo noch Foltergefängnisse vorhanden sind, oder andere, wo man Frauen vom Arbeitsmarkt fernhält. Bei Verfolgung auch durch nichtstaatliche Gewalt ist Schutz geboten bzw. eine Rückführung nicht statthaft. Aber weil die Lage derzeit so unübersichtlich ist, hat das Bundesamt alle aktuellen Asylanträge von Syrern auf Eis gelegt, bis die Situation neu bewertet worden ist.
Dem Vernehmen nach gibt es Syrer, die von sich aus zurückkehren wollen. Wie sehen Sie das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Rückkehrkandidaten aus eigenem Willen und Syrern, die in Deutschland bleiben wollen?
Das lässt sich jetzt nicht seriös sagen. Klar ist, dass, wer viele Jahre in Flüchtlingslagern nicht fern von Syrien gelebt hat, sicher eher zurückgeht, als ein in Deutschland integrierter Mensch, der sich fragt: Fange ich wieder bei null an, gebe alles auf, was ich hier in Deutschland erreicht habe? Viele haben hier Kinder bekommen. Da liegt die Überlegung nahe, erst zurückzugehen, wenn die Kinder ihre Schulausbildung beendet haben, da diese ja überwiegend in Deutschland aufgewachsen sind. Doch herrscht unter Syrern auch eine große Liebe für ihr Land und große Bereitschaft, etwas für ihr Land zu tun. Aber dafür gibt es viele Möglichkeiten, nicht nur die Rückkehr.
Gute Integration hier macht den Schritt zurück also größer. Sie haben dazu geforscht, unter welchen regionalen Umständen Integration gut oder weniger gut klappt. Welche in der Region liegenden Faktoren behindern Integration, welche fördern sie?
Die Wohnungssituation ist ein Faktor, Kita-Plätze sind es, aber auch politische Strategien. Sagt der Bürgermeister: Ich sehe da eine humanitäre Verpflichtung oder eher, nö, das ist nicht meins? Wie ist die Bevölkerung eingestellt? Gibt es viele Akteure, die in der Situation eher Potenzial als Bedrohung erkennen? Hallo, da kommen viele junge Männer, genau die Gruppe, die wir bei unseren Arbeitsmarktverhältnissen brauchen. Wie ist die Diversität - migrantisch und demografisch? Unsere Forschungsergebnisse zeigen, dass eine gut durchmischte lokale Gesellschaft die Integration von Zuwanderern besonders gut unterstützen kann. Helfen würde, wenn wir das kategorische Entweder-oder ablegten: Entweder du bist voll integriert oder du passt nicht zu uns. Friedliche Koexistenz als Grundlage zu akzeptieren, reicht aus. Man sollte sich auf transnationale Familien einstellen. Bei Migranten ist es meist so, dass Beziehungen zum Herkunftsland nie komplett aufgegeben werden. Hier geborene Kinder fühlen sich aber vielleicht eher als Deutsche denn als Syrer. Es sind Wanderer zwischen den Welten.
Bieten durchmischte Städte im Westen dann Vorteile?
Wir haben in einer Studie Landkreise untersucht, zwei davon im Osten, sechs im Westen. Im Vergleich ergab sich, dass die Weiterzugsquote von Flüchtlingen im Osten deutlich höher liegt. Jetzt war ich zu einem Symposium in der Lausitz. Da ging es darum, dass wir internationale Zuwanderung brauchen. Wenn die weiterziehen, weil sie merken, Menschen hier sind richtig ausländerfeindlich, gibt es ein Problem: Gar nicht für die Flüchtlinge, sondern für die Zukunft der Region.
Thema Zukunft, Thema Arbeitsmarkt - in manchen Bereichen, besonders im Gesundheitswesen, haben syrische Einwanderer viele Aufgaben übernommen. Wenn sich all diese Personen entscheiden, zu gehen und lieber beim Aufbau in ihrem Land zu helfen, bricht unser System dann zusammen?
Vom Zusammenbrechen zu sprechen, halte ich für schwierig. Ob das schon der Fall wäre, wenn alle syrischen Ärzte gehen, ist nicht so klar. Sicher ist, dass jeder Arzt fehlen würde. Fakt ist auch, dass wir in Krankenhäusern oft nur noch wenige "Biodeutsche" sehen. Das ist eine sehr internationale Community. Wenn die alle nicht mehr da wären, ja, dann würde unser System zusammenbrechen. Womit wir wieder bei der sehr bequemen Lage sind, aus der heraus wir in Deutschland alles beurteilen. Ähnlich extreme Situationen wie die Flüchtenden mussten die meisten bei uns noch nie erleben. Nur so kommt es zu so egozentrischen Forderungen, die den humanitären Anspruch des Asylrechts verkennen nach dem Motto: Fachkräfte schieben wir nicht ab, ansonsten ab ins Flugzeug.
Hinweis: Unter der Rubrik "Hintergrund" veröffentlichte die "Freie Presse" in der Ausgabe vom 18. Dezember 2024 dieses Interview mit Prof. Dr. Birgit Glorius. Unter dieser Rubrik sollen auch weiterhin verstärkt Meinungen aus Wissenschaft und Gesellschaft öffentlich gemacht werden und die Diskussion anregen. Angehörige der TU Chemnitz, die sich hier auch gern einmal fundiert äußern möchten, sind dazu eingeladen. Kontakt: chefredaktion@freiepresse.de und/oder mario.steinebach@rektor.tu-chemnitz.de.
Zur Person: Prof. Dr. Birgit Glorius
Nach dem Studium der Geographie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg zog es Birgit Glorius zum Auslandsstudium an die University of Texas (Austin). 2007 promovierte sie zum Thema „Polnische Migranten in Leipzig – Eine transnationale Perspektive auf Migranten und Integration“ an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Es schlossen sich daran Tätigkeiten als Wissenschaftliche Mitarbeiterin in Halle und Leipzig an, bevor sie 2013 an die TU Chemnitz wechselte und die Juniorprofessur für Humangeographie Ostmitteleuropas übernahm. Seit Oktober 2018 leitet sie die Professur Humangeographie mit dem Schwerpunkt Europäische Migrationsforschung an der Philosophischen Fakultät der TU Chemnitz. Im Jahr 2019 übernahm sie die Leitung des wissenschaftlichen Beirats des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, dem Beirat gehört sie bereits seit 2019 an. Seit 1. Januar 2023 ist sie zudem Mitglied des Sachverständigenrats für Integration und Migration. Dieser Sachverständigenrat ist ein unabhängiges und interdisziplinär besetztes Gremium der wissenschaftlichen Politikberatung, der für die Bundesregierung jährlich ein Migrationsgutachten, alle zwei Jahre ein Migrationsbarometer erstellt. Die Forschungsschwerpunkte von Glorius liegen im Bereich der Migrationsforschung und des demografischen Wandels. Sie forscht aktuell zu der Prozesshaftigkeit von Migration und ihren Folgen für Herkunfts- und Ankunftsregionen, zu Transnationalismus sowie zu lokalen Konstellationen der Flüchtlingsaufnahme, der Reaktionen der Aufnahmegesellschaft und lokal-regionalen Politikansätzen der Integration und Teilhabe.
Weitere Informationen erteilt Prof. Dr. Birgit Glorius, Telefon 0371 531-33435, E-Mail birgit.glorius@phil.tu-chemnitz.de.
Mario Steinebach
18.12.2024