Vom Motorsegler bis zum Skylab
Der Luftfahrtjournalist Karl-Dieter Seifert erforscht die Segelflugausbildung an der Staatlichen Akademie für Technik und stellt den Chemnitzer Absolventen Hans Wünscher vor - Vortrag am 26. Mai 2011
Sie tragen den Namen von Hans Wünscher, die NASA-eigenen US-Patente "Serpentuator" von 1968 und "Space Manufacturing Machine" im Folgejahr, Grundlagen für das Arbeiten im schwerelosen Raum. Dieser Hans Friedrich Wünscher wurde am 29. Januar 1915 in Stollberg im Erzgebirge als Sohn eines Berufsschuloberlehrers geboren. Nach dem Besuch der Realschule arbeitete er zwei Jahre als Volontär bzw. Praktikant in Fabrikwerkstätten, darunter bei J. E. Reinecker in Chemnitz. Das war die Vorbedingung für ein Studium an der Staatlichen Akademie für Technik zu Chemnitz. Er begann es im Sommersemester 1933 in der Unterabteilung Flugwesen, die gerade ihre Tätigkeit aufnahm. Schon im ersten Semester war die Segelflugausbildung Bestandteil der Ausbildung und Wünscher wurde Mitglied der akademischen Fliegergruppe. Er war ein geschickter Flugzeugbauer, ein begeisterter und guter Flieger. Seine Segelflugausbildung schloss er am 15. April 1937 mit der amtlichen C-Prüfung ab. Später erwarb er das Segelfliegerleistungsabzeichen Nr. 694. Im Rahmen seines Studiums wurde er als Motorflieger ausgebildet, auch als Jagdflieger. Seine fliegerischen Leistungen führten zur Teilnahme am Deutschlandflug 1938 als Flugzeugführer einer Klemm 35. Seine Kette wurde Zweiter dieses Wettbewerbs.
Nach Abschluss seines Studiums im Februar 1938 mit dem Reifezeugnis der Fachrichtung Flugzeugbau gewann ihn sein Lehrer Prof. Dr. Martin Günther, Leiter der Unterabteilung wie auch der Flugtechnischen Arbeitsgemeinschaft der Akademie (FAG), als Assistenten. Der junge Ingenieur erhielt damit die Gelegenheit, eine bahnbrechende technische Lösung an der Akademie zu verwirklichen. Hans Wünscher löste das Hauptproblem damaliger Motorsegler: Der Motor und die stillstehende Luftschraube beeinträchtigten stark die Segelflugleistung. Der Ingenieur integrierte den Motor in den Rumpf hinter dem Flugzeugführer. Er führte den Leitwerksträger durch die Luftschraubennabe hindurch und lagerte die voneinander unabhängig angebrachten Blätter der Luftschraube schwenkbar zur Luftschraubendrehachse. Damit vermied er in Ruhestellung jede Schädigung der aerodynamischen Güte der Flugzeugkonstruktion. Beim Abstellen des Motors schwenken die Blätter von selbst in den Rumpf. Wurde der Motor eingeschaltet, so richteten sie sich durch die Fliehkraft auf. Die Rumpfverkleidung verschloss die Blätter in Ruhelage. Damit hatte er den ersten wirklichen Motorsegler geschaffen, der im Segelflug eine Gleitzahl von 1:22 und eine Sinkgeschwindigkeit von nur 0,85 Meter pro Sekunde erreichte gegenüber 1:16 bzw. 1,4 m/s bei anderen Konstruktionen. Hans Wünscher erhielt dafür das Deutsche Reichspatent Nr. 726494 "Im unterteilten Rumpf eines Flugzeuges, insbesondere eines Motorseglers angeordnete Luftschraube". Die Deutsche Versuchsanstalt für Luftfahrt (DVL) unterstützte sein Projekt, stellte ihn mit Jahresbeginn 1939 ein und entsandte ihn im Herbst zum Studium an die TH Charlottenburg. In der Chemnitzer Werkstatt begann unter der Leitung des erfahrenen Segelflugzeugbauermeister Karl Fritsch und mit seiner Beteiligung der Bau des C 10 genannten Motorseglers. 1941 wurde Wünscher von der DVL zur Flugtechnischen Fertigungsgemeinschaft Prag GmbH entsandt. Er schloss dort sein Studium 1943 extern als Diplom-Ingenieur ab. Am 5. September 1940 startete er erfolgreich mit der C 10 in Chemnitz zum Erstflug. Das Flugzeug fand große Anerkennung. Bei der Erprobung bei der DVL stürzte am 1. Oktober 1940 einer ihrer Mitarbeiter infolge zu langsamen Fliegens mit dem Flugzeug tödlich ab. Die FAG Chemnitz erhielt unverzüglich den Auftrag der DVL zum Bau eines zweiten verbesserten Musters. Die Flugerprobung der C 10a begann im Sommer 1942 und wurde von Wünscher in Prag fortgesetzt. Das Kriegsgeschehen beendete 1945 eine weitere Arbeit.
Wünscher ging nach Kriegsende mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in die USA, wo er als Ingenieur tätig war. 1956 stieß er mit der Bildung des Army Ballistic Missile Centers in Huntsville zum Team von Wernher von braun, ab 1960 Georg c. Marshall Flight Center. Er arbeitete in der Fabrication and Assambly Engineering Division, Manufacturing Engineering Labor überwiegend als Assistant Director Advanced Projects. Wünscher war an bedeutenden Projekten beteiligt, so Saturn V, Apollo-Programm und Skylab. Schon 1961 erwarb er das US-Patent "Recoverable Rocket Vehicle". Die NASA ehrte ihn 1971 mit der Medaille für außergewöhnliche wissenschaftliche Leistungen. In zahlreichen Publikationen befasste er sich unter anderem mit technischen Problemen der Arbeit in der Schwerelosigkeit, der Rückführung von Raketen, der Arbeit im Skylab. Weitere Arbeitsthemen, von denen mehrere zum Patent führten, betrafen später seine Arbeit an einem Querströmungspropeller, Turbinenentwicklungen und der automatischen Steuerung einer Drehflügelströmungsmaschine. Immer wieder war er in Weltraumexperimente und deren Auswertung einbezogen. Am 19. Dezember 1980 schloss er mitten in schöpferischer Arbeit im Alter von 66 Jahren für immer die Augen.
Der Autor dieses Textes - Karl-Dieter Seifert - ist Luftfahrtjournalist und -historiker. Er erforscht die Segelflugausbildung an der Staatlichen Akademie für Technik in Chemnitz und ist als Gastautor mit diesem Absolventenporträt in "175 - Das etwas andere Jubiläumsbuch" vertreten. Das Buch ist für 17,50 Euro unter anderem im Uni-Shop und im Museumsshop des Industriemuseums erhältlich. Von Seifert erscheint außerdem bald im Universitätsverlag und mit Unterstützung des Universitätsarchivs ein Buch mit dem Titel "Die Chemnitzer Akademie und ihre Flugzeuge - ein Beitrag zur Geschichte der Staatlichen Akademie für Technik 1905 bis 1945". Am 26. Mai 2011 um 18 Uhr referiert er zudem im Rahmen der Jubiläumsausstellung "Wissen, was gut ist. 175 Jahre TU Chemnitz" zum Thema "Die Chemnitzer Akademie für Technik und ihre Flugzeuge". Die Veranstaltung findet in der Ausstellung im Sächsischen Industriemuseum Chemnitz (Zwickauer Straße 119) statt.
Zum geschichtlichen Hintergrund: Im Sommerhalbjahr 1935 wurde an der Chemnitzer Staatlichen Akademie für Technik - einem Vorläufer der heutigen TU - eine Unterabteilung für Flugzeugbau gegründet. Bereits im Juli 1928 hatte das sächsische Wirtschaftsministerium zur Bildung von Segelfluggruppen aufgerufen - wenig später, am 19. September 1928, wurde an der Chemnitzer Bildungseinrichtung eine akademische Fliegergruppe gegründet, die Segelflugzeuge baute und Flugveranstaltungen durchführte. Die Ausbildung in Flugwesen und Flugzeugbau war sachsenweit einzigartig. Im Mai 1945 löste die sowjetische Ortskommandantur Chemnitz die Flugtechnische Arbeitsgemeinschaft auf.
Katharina Thehos
23.05.2011