Passagen-Denken in Literatur, Philosophie und Wissenschaft
Prof. Dr. Bernadette Malinowski, Inhaberin der Professur Neuere Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft, hält am 2. November 2011 ihre Antrittsvorlesung
Die Passage ist eine Architekturform, die im 19. Jahrhundert Verbreitung fand. "Sie ist charakterisiert durch Eingang, Durchgang und Ausgang und bildet ein Verbindungsglied zwischen frequentierten Straßen - eine Abkürzung, die nur dem Fußgänger, dem Passanten, zugänglich ist", sagt Prof. Dr. Bernadette Malinowski, Inhaberin der Professur Neuere Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft an der TU Chemnitz. Gesäumt mit Läden, war die Passage vor zwei Jahrhunderten ein Vorläufer der heutigen Warenhäuser und Einkaufszentren. "`Vorübergehend sein und bleiben´: Passagen-Denken in Literatur, Philosophie und Wissenschaft" lautet der Titel der Antrittsvorlesung von Prof. Malinowski am 2. November 2011. Ab 19 Uhr spricht sie im Raum N111 des Hörsaalgebäudes an der Reichenhainer Straße 90 über die Passage in Werken von Louis Aragon, Walter Benjamin, Michel de Montaigne, Friedrich Nietzsche und Michel Serres.
"Literarische Berühmtheit erlangte die Passage durch Louis Aragons `Le Paysan de Paris´", sagt Malinowski. Die Passage, so der Dichter und Schriftsteller Aragon, sei ein "Rauschgift, das von den Randbezirken des Bewusstseins, von den Grenzen des Abgrunds kommt". "Der architektonische Topos der Passage wird hier zum Experimentierfeld surrealistischer Wahrnehmungs-, Denk- und Ausdrucksformen, zu einem poetischen `Visionsraum´, in dem Traum, Rausch und Halluzination `die Dinge aus ihrer gewohnten Welt´ locken, wie Walter Benjamin es schreibt", sagt Malinowski. Der Literaturkritiker und Philosoph Benjamin, dessen "Passagen-Werk" maßgeblich durch Aragon inspiriert wurde, verknüpft surrealistische Wahrnehmungs- und Sprachformen mit geschichtsphilosophischen und gesellschaftspolitischen Reflexionen: Die Passage ist bei ihm Visions- und Erinnerungsraum, Traum und Wachen, Rausch und Nüchternheit, Prophetie/Utopie und Wirklichkeit/Geschichte.
"Etymologisch bezeichnet die Passage aber auch die Bewegung des Reisens, das In-Bewegung-Sein im buchstäblichen wie im metaphorischen Sinn", so Malinowski, die mit dieser Erklärung einen Bogen zum Philosophen Michel de Montaigne schlägt, der bereits im 16. Jahrhundert schrieb: "Ich schildere nicht das Sein, ich schildre das Unterwegssein." Damit beschrieb er sein Betrachten sowohl der Dinge als auch seiner selbst unter jeweils anderen Voraussetzungen und anderen Gesichtspunkten. "Er schreibt dies im Bewusstsein der Wandelbarkeit der Dinge, die nur eine versuchsweise - essayistische - Annäherung erlaubt, ein sich bedingendes Denken, Schreiben und nicht zuletzt auch Lesen in Passagen", erklärt Malinowski.
Für den Philosophen Friedrich Nietzsche ist das Vorübergehen - das Passieren - eine Forderung an denjenigen, der nicht zu lieben vermag: "Wo man nicht mehr lieben kann, da soll man - vorübergehen!", schrieb er. "Dem Epistemologen und Literaten Michel Serres schließlich wird die Passage zum Topos eines wissenschaftlichen Selbstverständnisses, zum gleichermaßen produktiven wie prekären Ort des Inter-Disziplinären", so Malinowski, die in ihrer Antrittsvorlesung auch Serres vielfältigen ästhetischen, epistemologischen, ethischen und kulturhermeneutischen Deutungen der Passage thematisiert.
Weitere Informationen erteilt Prof. Dr. Bernadette Malinowski, Telefon 0371 531-39511, E-Mail bernadette.malinowski@phil.tu-chemnitz.de.
Katharina Thehos
26.10.2011