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Mehr als nur Aktenwälzen - Podcast verfügbar

TU-Absolventin Marlis Rokitta arbeitet in einem Unternehmensarchiv - dort findet sie nicht nur Akten, sondern hin und wieder auch historische Schätze

Als Marlis Rokitta letztes Jahr eine kleine Kiste auf dem Dachboden des Holzspielzeug-Herstellers Wendt & Kühn fand, konnte sie noch nicht ahnen, welcher historischer Schatz sich darin verbarg. In der Kiste befand sich ein Stapel Briefe, die Firmenmitgründerin Grete Wendt als Studentin von ihren Eltern erhalten hatte. Diese Briefe eröffnen die Möglichkeit, Wendt von einer ganz persönlichen Seite kennen zu lernen – die wissenschaftliche Aufarbeitung ist nun Rokittas Aufgabe. Marlis Rokitta ist Historikerin und seit 2016 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Unternehmensarchiv bei Wendt & Kühn. Den Grundstein für ihren Berufsweg im musealen und archivarischen Bereich legte die gebürtige Bautznerin an der Technischen Universität Chemnitz mit dem Studium der Neueren und Neusten Geschichte und Germanistik auf Magister.

Studium in Chemnitz aus pragmatischen Gründen

Die Entscheidung für diese Fächerkombination sei eine pragmatische gewesen, sagt Rokitta: „Ich hatte in meiner Schulzeit den Mathe-Leistungskurs belegt. Da habe ich mich mit viel Mühe durchgebissen, doch es war mir ziemlich klar, dass in der Mathematik oder artverwandten Fächern nicht meine Zukunft liegen kann. Mein Interesse lag doch eher bei Geschichte und Sprachen und so habe ich meinen Schwerpunkt im Studium dann darauf gelegt.“ Die TU Chemnitz sei für sie die beste Wahl gewesen, vor allem da sie nah an ihrem Geburtsort liegt, wo bis heute ihre Familie lebt. Doch auch die Qualität ihres Studiums überzeugte sie: „Ich hatte immer ein großes Interesse an Wirtschafts- und Sozialgeschichte im Allgemeinen. Besonders spannend fand ich Unternehmensgeschichten, ganz speziell von familiengeführten Unternehmen. Da hatte die Professur der TU Chemnitz recht gute Veranstaltungen zu bieten.“ Da der Studiengang nicht überlaufen war, sei auch die Betreuung durch die Professoren und Mitarbeitenden sehr gut gewesen.

Viel Freude habe sie auch an den Sprachkursen der TU gehabt, drei Semester belegte sie Kurse in Chinesisch. Eine witzige Situation zu Beginn des ersten Kurses sei ihr dabei besonders im Gedächtnis geblieben: „Ich besuchte die Kurse damals mit einer Freundin. Wir saßen dort zusammen, lasen die Dialoge und machten dann auch gemeinsam die Hausaufgaben. Eines Tages stand unsere Lehrerin im Unterricht hinter uns, hörte uns beim Chinesisch-Sprechen zu und musste dann lachen. Wir waren etwas verdutzt, weil wir eigentlich ganz sicher waren, was wir da fabrizierten“, erinnert sich Marlis Rokitta. „Die Dozentin meinte aber nur: ‚Interessant ist schon, wie gut ihr euch versteht, aber was auch immer ihr für eine Geheimsprache sprecht, chinesisch ist das nicht‘“, erzählt Rokitta und lacht. „Mittlerweile konnte ich meine rudimentären Kenntnisse im privaten Freundeskreis und auf Reisen auch erfolgreich praktisch testen.“

Ein bestimmtes berufliches Ziel habe sie zu Beginn ihres Studiums noch nicht gehabt. Rokitta: „Es gibt ja ein buntes Potpourri an Möglichkeiten für Geisteswissenschaftler und Geisteswissenschaftlerinnen, aber es war mir alles zu vage. Ich konnte mich schlecht damit identifizieren.“ Erst das studentische Praktikum, welches sie im Sächsischen Industriemuseum Chemnitz absolvierte, verschaffte ihr Klarheit für ihre weitere berufliche Laufbahn. Als freie Mitarbeiterin des Museums konnte sie weiter ihre Leidenschaft für die Museumsarbeit ausleben. Nach dem Studium absolvierte sie erfolgreich ein Volontariat bei den Städtischen Museen Zittau. Kurz danach übernahm sie die Leitung der Städtischen Museen Limbach-Oberfrohna als Elternzeitvertretung.

Die Arbeit im Unternehmensarchiv – mehr als nur Aktenwälzen

Seit 2016 arbeitet Marlis Rokitta als Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Firma Wendt & Kühn. Ihre Aufgabenfelder im Unternehmensarchiv sind vielfältig: Neben dem Betreuen des historischen Firmenarchivs, in dem sich Musterfiguren, Dokumente, Korrespondenzen, Memoiren, Fotos und Kataloge aus der über 100-jährigen Firmengeschichte von Wendt & Kühn befinden, beschäftigt sie sich ebenfalls mit der Inventarisierung, Katalogisierung sowie Digitalisierung. Sie steht dabei im regelmäßigen Austausch mit Fachleuten, Sammlerinnen und Sammlern, Kundinnen und Kunden sowie mit anderen Abteilungen innerhalb der Firma, wie dem Marketing oder der Werkstatt. Bei historischen Fachfragen gibt sie ebenfalls Auskunft. Außerdem kuratiert sie jedes Jahr eine Ausstellung in der Wendt & Kühn-Erlebniswelt.

Ihre Arbeit schätzt die Historikerin: „Fachlich bietet mir dieses Archiv einfach ein sehr breitgefächertes Betätigungsfeld. Vieles ist unbearbeitet, sodass man manchmal völlig neue Erkenntnisse erlangen kann. Die Firmengeschichte ist so eng mit der Familiengeschichte verbunden, dass sie die Grundlage unserer Firmen-Philosophie bildet. In dieser Geschichte liegt die Tradition unserer Manufaktur.“ Der Dachbodenfund letztes Jahr sei für sie eine tolle Entdeckung gewesen. Die Briefe der Eltern werden aktuell von der Historikerin transkribiert, danach werden diese mit den vorhandenen Briefen der Tochter verglichen. Am Ende stehe dann die Auswertung der Ergebnisse. Rokitta: „Ich erhoffe mir dadurch ein umfangreiches Bild der damaligen Lebenssituation von Grete Wendt. Noch dazu werden Netzwerke erkennbar, die unsere Firmengründerin hatte. An wenigen Stellen finden sich auch Hinweise auf frühe Figuren- beziehungsweise Produktentwürfe.“

Die Gründerinnen: Zwei starke Frauen

Den Reiz des Fundes mache aber nicht nur seine historische Dimension aus. Die Gründerinnen Grete Wendt und Grete Kühn seien für Rokitta auch selbst spannende Persönlichkeiten. „Sie erscheinen als mutige junge Frauen in einer Zeit, in der Frauen noch nicht die Rechte hatten, wie es heute der Fall ist. Man muss bedenken: Sie studierten in Dresden an der Königlich Sächsischen Kunstgewerbeschule – und zwar in der ersten Damenklasse, die es an der Bildungseinrichtung überhaupt gab. Sicher mussten sie sich oft gegen ihre männlichen Kollegen durchsetzen und sich behaupten. Wahrscheinlich nicht die einfachste Situation“, erzählt Rokitta. „Dann gründen sie 1915, während des Ersten Weltkrieges, eine eigene Firma. Diese Tatsache allein ist schon eine Sensation, wenn man bedenkt, dass Frauen zu dieser Zeit nicht einmal Wahlrecht hatten. Dazu waren Sie noch unverheiratet. Sie steckten ihre Zeit und ihr ganzes Herzblut in dieses Unternehmen.“ Dieses Erbe der Firma fasziniere die Archivarin zusätzlich: „Alles in allem zwei starke Frauen!“ Doch auch die dritte Frau, die die Firma im besonderen Maß geprägt hat, ist für die Entwicklung der Manufaktur wichtig zu nennen: Olly Wendt, geborene Sommer. Ab 1920 arbeitete sie im Betrieb und heiratete 1930 in die Familie ein. Ihre gestalterischen Entwürfe und ihre malerischen Fähigkeiten prägen bis heute den Musterschatz.

Als Geisteswissenschaftler auf dem Arbeitsmarkt bestehen – Geduld und klares Ziel

Rückblickend haben Chemnitz und die TU einen großen Einfluss auf die berufliche Laufbahn Rokittas gehabt: „Ohne das Studium, das Praktikum, meine Magisterarbeit und die Unterstützung durch die Professur und vor allem die Seminare und Vorlesungen durch Professor Boch wäre ich sicher beruflich nicht da angekommen, wo ich heute stehe.“ Dass es Geisteswissenschaftler und Geisteswissenschaftlerinnen oft schwieriger auf den Arbeitsmarkt haben als ihre Kommilitonen etwa aus den Naturwissenschaften, kann die Historikerin bestätigen: „Ich habe nach dem Abschluss unzählige Bewerbungen geschrieben –  und das waren keine schlechten.“ Trotzdem habe es gedauert. Rokittas Tipp: „Wichtig ist es, ein konkretes Ziel zu haben und darauf hinzuarbeiten. Aber vor allem muss man das, was man macht, auch mit Herzblut machen. Dort trennt sich die Spreu vom Weizen. Spezialwissen kann man sich jederzeit aneignen, aber das Herzblut muss man für seinen Beruf mitbringen.“ Und genau diese Einstellung verbindet Archivarin Rokitta mit den Gründerinnen von Wendt & Kühn.

Marlies Rokitta im TUCpodcast: Ein Podcast mit weiteren persönliche Hintergründen zu Marlies Rokitta und ihrer Archivar-Tätigkeit ist im YouTube-Kanal der TU Chemnitz verfügbar: bit.ly/TUCpodcast_Rokitta

(Autorin: Nina Schreyer)

Matthias Fejes
24.10.2018

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