H2020-Projekt CEASEVAL ist auf der Zielgeraden
Am 13. und 14. Juni 2019 konnten Mitglieder des Projektkonsortiums ausgewählte Ergebnisse in den Räumlichkeiten der Europäischen Kommission in Brüssel vorstellen
Das von Prof. Dr. Birgit Glorius ( Professur Humangeographie mit dem Schwerpunkt Europäische Migrationsforschung der Technischen Universität Chemnitz) geleitete zweijährige Forschungsprojekt CEASEVAL zur Evaluierung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems startet ins letzte Projektquartal, welches vor allem der Verbreitung der Forschungsergebnisse gewidmet ist. Am 13. und 14. Juni 2019 hatten Mitglieder des Projektkonsortiums die Gelegenheit, ausgewählte Ergebnisse in den Räumlichkeiten der Europäischen Kommission in Brüssel vorzustellen. Zunächst wurde eine halbtägige Policy Round Table-Diskussion organisiert, an der sich rund 30 Teilnehmer und Teilnehmerinnen von politikberatenden Organisationen, Repräsentanten und Repräsentantinnen der EU-Mitgliedstaaten sowie Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Generaldirektion Migration und Inneres der Europäischen Kommission beteiligten. Am zweiten Tag folgte eine Präsentation von CEASEVAL-Mitgliedern während eines Treffens von rund 50 Mitgliedstaatenvertretern und -vertreterinnen im Generaldirektorat Migration und Inneres. Zentrales Thema war hier die Implementierung und Wirksamkeit der Richtlinie 2011/95/EU in Bezug auf die Gewährung und Ausgestaltung von Flüchtlingsschutz.
Das Policy Round Table bestand aus mehreren thematischen Runden, in denen Forschungsergebnisse vorgestellt und diskutiert wurden. In der ersten Diskussionsrunde arbeitete Minos Mouzourakis (ECRE, Brüssel) die Limitierungen der europäischen Asylrechtsreform heraus und machte deutlich, dass eine vollständige Harmonisierung aufgrund der individuellen Implementierungen in nationales Recht nicht zu erwarten sei. Ein wichtiger Punkt, an dem Verbesserungen möglich wären, sei die Umsetzung von EU- bzw. nationalem Recht im Bereich Asyl in den EU-Mitgliedstaaten. Ein abgestimmtes Monitoring-System könnte dabei helfen, rechtliche Standards in einheitlicher Art und Weise durchzusetzen. Martin Wagner (ICMPD, Wien) referierte zur Frage der Solidarität als handlungsleitendem Prinzip innerhalb der EU, insbesondere hinsichtlich der gemeinsamen Verantwortung für die Aufnahme von Asylsuchenden und der Steuerung von Asylverfahren. Anhand der Ergebnisse aus Experteninterviews in zehn EU-Mitgliedstaaten zeigte er die Meinungsvielfalt hinsichtlich der Verteilung von Asylsuchenden auf und resümierte, dass eine funktionierende Verantwortungsteilung auf einem gemeinsamen Grundverständnis bzw. einer gemeinsamen Vision basieren müsse, die es derzeit nicht gäbe. Für die weitere Reformdiskussion solle das Szenario von Massenankünften ausgeklammert werden. Dr. Blanca Garcés (CIDOB, Barcelona) knüpfte mit Forschungsergebnissen zur Politisierung des Themas Migration und Asyl und den Auswirkungen auf Politikansätze in den EU-Mitgliedstaaten und hinsichtlich der Reform des GEAS an. In der öffentlichen Meinung wird die Verantwortung bei drei verschiedenen Akteursgruppen verortet: den EU-Institutionen, den EU-Mitgliedstaaten und nationalen Regierungen. In den politischen und öffentlichen Diskursen in den Mitgliedstaaten konnte eine Verlagerung der Verantwortungsdebatte beobachtet werden, weg von der Frage, wer die Verantwortung habe, zur Frage, wer für die Situation zur Verantwortung gezogen werden könne. Zudem wird die Frage der Solidarität innerhalb der EU mit der Frage der Legitimität der Europäischen Union als Ganzes verknüpft. Die Wechselwirkungen zwischen Diskurs und Praxis zeigte sich unter anderem in den Wahlergebnissen zur Europa-Wahl, in der europakritische Parteien bedeutende Stimmengewinne erzielen konnten.
In der zweiten thematischen Runde zu Grenzpraktiken und Aufnahmepolitiken referierte zunächst Prof. Dr. Birte Nienaber (Universität Luxemburg) die Forschungsergebnisse zu Grenzsicherungspraktiken in der EU und ihren Auswirkungen auf die Mobilität von Asylsuchenden nach und durch Europa. Sie stellte klar, dass Grenzen und Grenzsicherungsmaßnahmen die Mobilität von Migranten und Migrantinnen zwar verändern, jedoch nicht verhindern können. Die Auswirkungen veränderter Grenzpraktiken zeigen sich unter anderem in geänderten Rollen von Mitgliedstaaten oder Regionen, die z. B. von Transitländern zu Zielländern werden. Grenzen seien zudem nicht nur als physische Begrenzungen wirksam, sondern auch in Form materieller, sozialer oder rechtlicher Exklusionsprozesse. Als vorläufige Politikempfehlung betonte sie die Bedeutung des Schengen-Raums für die Mobilität von Asylsuchenden. Diese Komponente müsse auch in der Reform der Dublin Regulierung berücksichtigt werden. Dr. Irene Ponzo (FIERI, Turin) folgte mit Forschungsergebnissen einer Mehrebenen-Analyse zur Aufnahme von Asylsuchenden in acht EU-Staaten. Sie zeigte die wachsende Heterogenität von nationalen Aufnahmesystemen seit 2015, die sich vor allem durch die Implementierung von Notfallmaßnahmen, die zunehmende Vielfalt und Heterogenität der beteiligten Akteuren sowie die Zunahme von (sehr unterschiedlichen) lokalen Ansätzen zur Flüchtlingsaufnahme erklärt. Sie kritisierte die mangelnde Beteiligung lokaler Akteure und Akteurinnen bei der Entwicklung von nationalen Lösungsansätzen und plädierte für die Unterstützung „lokaler Inseln der Konvergenz“, die durch die Kooperation lokaler und nationaler Behörden sowie zivilgesellschaftliche Organisationen entstehen können.
In der abschließenden Debatte präsentierte Dr. Jeroen Doomernik (University of Amsterdam) als weiteres Projektergebnis verschiedene Reformszenarien für das GEAS und identifizierte folgende drei Kernziele: die volle Berücksichtigung der Genfer Konvention hinsichtlich der humanitären Verpflichtung zur Flüchtlingsaufnahme, ein funktionierender Mechanismus der „Lastenteilung“ sowie ein System der optimalen Verteilung von Asylsuchenden unter Berücksichtigung von individuellen Profilen und Bedürfnissen. Auch hier war wieder das Thema der Weiterwanderung im Schengen-Raum von Bedeutung. Als vorläufige Politikempfehlung wurde die Gewährung der freien Mobilität im Schengen-Raum für anerkannte Geflüchtete herausgearbeitet, um die optimale Allokation von Humankapital (Sprachkenntnisse, berufliche Kenntnisse, demographische Belange aufnehmender Regionen) zu erreichen. Hinsichtlich der Fortführung von Reformbestrebungen wurde empfohlen, eine „Koalition der Willigen“ anzustreben, und dabei auch Akteure auf subnationaler Ebene (z. B. Städtenetze wie Eurocities) zu berücksichtigen. Auf diese Weise könnte der stagnierende Reformprozess wiederbelebt werden.
Am Folgetag hatten Prof. Dr. Birgit Glorius (TU Chemnitz), Minos Mouzourakis (ECRE, Brüssel) und Martin Wagner (ICMPD, Wien) die Möglichkeit, in einer kompakten Präsentation Forschungsergebnisse zur Funktionsweise der Richtlinie 2011/95/EU in Bezug auf die Gewährung und Ausgestaltung von Flüchtlingsschutz vorzustellen und basierend darauf Empfehlung für die weitere Ausgestaltung nationaler Politikansätze zu formulieren. Zentrales Ergebnis ihrer Präsentation war die hohe Divergenz nationaler Praktiken, z. B. hinsichtlich der Unterbringung von Asylsuchenden, der Laufzeit von Aufenthaltserlaubnissen und die Vergabe und Laufzeit von Reisepapieren. Gründe für Divergenz waren unter anderem unterschiedliche nationale Problemwahrnehmungen und Prioritätensetzungen, aber auch divergierende Zugriffe auf Netzwerk- und Beratungskapazitäten. Auch während dieses Termins wurde eine Verbindung zwischen der Asylpolitik und dem generellen Zustand des europäischen Integrationsprozess konstatiert. Eine mögliche Weiterentwicklung des GEAS wird daher auch die Grundbedingungen der europäischen Kooperation in den Blick nehmen müssen, wobei Solidarität wohl nur auf der Basis von gegenseitigem Vertrauen eingefordert und gewährt werden kann.
Die Ergebnisse der Diskussionen werden in den abschließenden, zusammenfassenden Projektbericht einfließen, der anlässlich der Abschlusskonferenz des CEASEVAL-Projekts am 1. und 2. Oktober 2019 an der TU Chemnitz präsentiert wird.
Das durch Fördergelder des EU Horizon2020 Programms (Grant Agreement Nr. 770037) finanzierte Forschungsprojekt zur „Evaluierung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems unter Druck und Empfehlungen für seine zukünftige Entwicklung/ Evaluation of the Common European Asylum System under Pressure and Recommendations for Further Development) (CEASEVAL)“ untersucht die Funktionsweise des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems im Kontext der Flüchtlingsbewegungen der vergangenen Jahre und erarbeitet Vorschläge für seine Reform. Weitere Informationen zum Projekt, unter anderem mehr als 40 aus dem Projekt resultierende Publikationen, sind unter www.ceaseval.eu verfügbar.
(Autorin: Prof. Dr. Birgit Glorius)
Mario Steinebach
17.06.2019