Internationale Forscherkarriere nahm Anfang in Chemnitz
Prof. Nam-Trung Nguyen gehört zum Leitungsstab der Griffith University in Brisbane und ist TU-Alumni – Die TU hat der Vietnamese sowohl als Student als auch als Forscher zu verschiedenen Zeiten und aus verschiedenen Perspektiven erlebt
Prof. Nam-Trung Nguyen, wie war das, als Sie in den 1990er Jahren und 2004 als internationaler Student an der TU Chemnitz studierten?
Meine Erfahrungen an der Technischen Universität Chemnitz erstrecken sich vom Ende der 1980er bis zur Mitte der 1990er Jahre. Diese Zeit war ungemein interessant und prägend. Ich habe mein erstes Semester im Spätsommer 1988 an der Technischen Universität Karl-Marx-Stadt begonnen und Chemnitz 1997 mit einem Doktortitel verlassen. In meinem zweiten Studienjahr ist die Mauer gefallen und mit ihr die DDR. Daher muss ich mein Studentenleben in die Zeit vor und nach der Wiedervereinigung einteilen. Kurz gesagt: Die Erfahrung vor der Wiedervereinigung war geprägt durch sozialistische Solidarität, das Leben war durchgeplant – es gab nicht viel Freiheit, aber man war frei von Sorgen. Die Erfahrung nach der Wiedervereinigung würde ich mit den Worten Überleben, Freiheit, Selbstbestimmung und Möglichkeiten beschreiben. 2004 kehrte ich nach Chemnitz zurück, um meine Habilitation zu verteidigen.
Was sind die zentralen Erfahrungen, die Sie während Ihres Studiums an der TU gewonnen haben? Spielen diese heute noch eine Rolle in Ihrem Leben?
Ich habe in meiner Zeit in Chemnitz viel gelernt, was mich bis heute begleitet. Zuerst habe ich erfahren, dass wahre Freundschaft ein Leben lang besteht. Das stimmt für die Zeit vor und nach der Wiedervereinigung. Ich hatte großartige deutsche Freunde, Lehrer und Mentoren, die mir viele Werte vermittelt haben, die bis heute meine eigenen sind. Das Einfühlungsvermögen, die Solidarität und die Liebe, die sie mir entgegengebracht haben, gebe ich an meine eigenen Studenten und Kollegen weiter. Ich bin im Vietnam der Nachkriegszeit aufgewachsen, also waren Fleiß, Disziplin und Beharrlichkeit wahrscheinlich schon in mir, bevor ich nach Deutschland kam. Pünktlichkeit, Ordnung, Präzision und hohe Ansprüche an alles, was man macht, können jedoch von meiner Studentenzeit in Chemnitz herrühren.
Wie kam es dazu, dass Sie an der Olympiade für Deutsch als Fremdsprache an der TU teilgenommen haben?
Das DDR-System setzte ein hohes Niveau im Bereich Deutsch als Fremdsprache voraus. Es gab drei Kompetenzstufen. Ich habe Level 1 in Vietnam an der Nationalen Universität in Hanoi, Level 2 in Zwickau und Level 3 in Chemnitz abgeschlossen. Level 3 war nicht obligatorisch, weil Level 2 für ein Universitätsstudium ausreichte. Am Ende von Level 3 habe ich 1989 an der wahrscheinlich letzten Olympiade für Deutsch als Fremdsprache an der Universität, teilgenommen. Der 1. Platz ging an einen bulgarischen Studenten, der bereits im Jahr zuvor gewonnen hatte. Ich belegte gleich bei meiner ersten Teilnahme den 2. Platz. Der 3. Platz ging an einen nordkoreanischen Doktoranden. Als Preis gab es eine Reise nach Prag mit der Freien Deutschen Jugend (Ein kommunistischer Jugendverband in der DDR, Anm. d. Red.). Wegen der Reise konnte ich meinen Pass von der vietnamesischen Botschaft in Berlin zurückbekommen. Dort wurden die Pässe damals aufbewahrt, bis man in sein Heimatland zurückreiste. Als die Mauer fiel, gab uns die vietnamesische Botschaft die Pässe engültig zurück und teilte uns mit, dass wir von diesem Moment an auf uns allein gestellt seien. Wir hatten Glück, denn nach der deutschen Wiedervereinigung mussten alle kubanischen und nordkoreanischen Studenten nach Hause zurückkehren.
Was waren die ersten Herausforderungen, vor denen Sie als internationaler Student standen, als Sie zum ersten Mal hierher kamen, um Ihren Abschluss zu machen?
Zu meiner Zeit war der erste Abschluss das Diplom. Dabei kann ich mich nicht als typischen, internationalen Studenten bezeichnen, weil ich ein Stipendiat war. Mitte der 1980er Jahre mussten Schüler in Vietnam zusätzlich zum Abitur eine Aufnahmeprüfung an Universitäten ablegen. Nur 5 Prozent der rund 500.000 Anwärter haben einen Studienplatz erhalten. Wahrscheinlich hatten wiederum 5 Prozent von ihnen dann die Chance, ein Stipendium für ein Studium in einem der damaligen sozialistischen Länder zu erhalten. Bei der Aufnahmeprüfung an der Technischen Universität Hanoi war ich der zweitbeste Student und gewann ein Stipendium für ein Land meiner Wahl. Ich habe die DDR ausgewählt. Mein Studium in Chemnitz lief gut, insbesondere in den Fächern Mathematik, Physik und Technik. Mein größtes Problem war jedoch der Marxismus/Leninismus, nicht nur wegen der Sprache, sondern auch wegen des unsinnigen Inhalts. Ich habe dieses Fach aber mit der Note zwei bestanden.
Was können Sie aus Ihrer Zeit als internationaler Student über Ihr Verhältnis zu den Deutschen sagen?
Die Möglichkeit, in Deutschland zu studieren, sah ich als Chance, komplett in die deutsche Kultur einzutauchen. Um ehrlich zu sein, habe ich keinen Unterschied zwischen mir und meinen deutschen Kommilitonen gesehen. Ich möchte da nur ein Beispiel nennen, das zeigt, wie schwierig es ist, Menschen zu beurteilen. In meinen Jahren in Chemnitz hatte ich zwei deutsche Freundinnen, beide sind hochintelligent, einfühlsam, liebevoll und teilen mit mir gemeinsame Interessen. Dreißig Jahre später unterstützt eine von ihnen syrische Flüchtlinge in Chemnitz, die andere arbeitet für die AfD im Bundestag.
Welche Ratschläge oder Informationen können Sie Studierenden geben, die danach streben, erfolgreiche Wissenschaftler und Forscher wie Sie zu werden?
Nur ein Wort: "Schneid" – eine Kombination aus Leidenschaft, Ausdauer und Beharrlichkeit. Voraussetzung sind natürlich auch fortgeschrittene Fachkenntnisse.
Welche Misserfolge und Herausforderungen gab es auf Ihrem Weg und wie haben Sie diese gemeistert?
Es gab viele Herausforderungen: Ich habe auf vier Kontinenten gearbeitet, in Europa, Nordamerika, Asien und Ozeanien. Jedes Mal, wenn ich umzog, begann ich praktisch als Außenseiter in einem völlig neuen Kultur- und Arbeitsumfeld. Das eigene Netzwerk von Freunden und Kollegen hinter sich zu lassen, ist die größte Herausforderung. Der Schlüssel zum Erfolg eines Forschers sind nicht nur großartige Ideen, sondern auch die Ressourcen, um diese Ideen umzusetzen und die Ergebnisse zu verbreiten. Ich hatte immer Probleme, finanzielle Unterstützung zu bekommen, wenn ich meine Forschung in einem neuen Land begann. Aber mit Schneid ist alles möglich. Ich bin heute Direktor eines relativ großen Forschungszentrums und einer der Leiter der Griffith University in Brisbane. Für diesen Job braucht man auch andere Fähigkeiten, wie Führungskompetenzen, die nicht in der Schule oder an der Universität gelehrt werden.
Woran forschen Sie momentan und welche Auswirkung hat Ihre Forschung auf zukünftige Technologien?
Ich bin einer der Pioniere auf dem Gebiet der „Mikro- und Nanofluidik“, der Wissenschaft und Technologie, die sich mit kleinen Flüssigkeitsmengen befasst. Meine aktuellen Forschungsaktivitäten erstrecken sich auf verschiedene Bereiche: Der erste Bereich ist die digitale Mikrofluidik mit „Liquid Marble“, winzigen Tröpfchen, die mit einer nicht benetzenden Hülle überzogen sind. Die Technologie wird Kunststoffabfälle aus Labor- und medizinischen Tests signifikant reduzieren. Der zweite Bereich ist die Simulation von Organen auf Mikrochips. Mit dem funktionierende Miniatur-Modelle stellen die Funktion von Lungen, Herzen, Darm, Haut und Gehirn für Medizintests nach. Diese Technologie soll Tierversuche überflüssig machen. Außerdem wird die medizinische Behandlung so für jeden Patienten individuell anpassbar. Der dritte Bereich sind Sensortechnologien für extreme und unkonventionelle Umgebungen. Beispiele sind Sensoren für Raumfahrzeugen, die den hohen Temperaturen und der rauen Umgebung standhalten können. Andere Beispiele sind flexible Erfassungssysteme auf der Haut oder Implantate, die den Gesundheitszustand eines Menschen überwachen. All diese Bereiche werden durch Grundlagenforschung in Physik, Mechanobiologie und Biochemie im Mikrobereich unterstützt.
Welche Ihrer Forschungen hat Ihrer Meinung nach Ihren bisherigen beruflichen Werdegang am stärksten beeinflusst?
Ich denke, die Arbeiten zur Entwicklung mikrofluidischer Geräte. Obwohl meine Forschung heutzutage interdisziplinär ist, bin ich immer noch ein Ingenieur, und ich bin stolz auf meinen deutschen beziehungsweise Chemnitzer Technikhintergrund. Die Technische Universität Chemnitz hat mir ein sehr solides Fundament in der Physik und dem Ingenieurswesen gegeben.
Warum haben Sie sich auf die Entwicklung von Mikro- und Nanotechnologien und deren Anwendungen in mikro-und nanofluidischen sowie mikroelektromechanischen Systemen (MEMS) spezialisiert?
Ich habe diese Bereiche nicht ausgewählt. Ich wurde mit einem festen Plan in die DDR geschickt und wollte der Karriere meines Vaters folgen, um Maschinenbauingenieur zu werden. In Chemnitz war nur ein Platz frei und ich konnte nur Gerätetechnik studieren. Diese Disziplin entwickelte sich später zu mikroelektromechanischen Systemen (MEMS) weiter. Ich habe mich während meines Diploms bei Bosch in Stuttgart mit Durchflusssensoren und Kraftstoffeinspritzsystemen befasst. So begann meine Arbeit mit Mikrofluidik.
Kommen wir zu einer persönlichen Frage: Wie war es, in Vietnam aufzuwachsen?
Es war schwierig. Wenn Sie Leute aus der deutschen Nachkriegsgeneration kennen, können diese Ihnen sagen, wie das Nachkriegsleben war. Ich war fünf Jahre alt, als der Vietnamkrieg endete. Das Land war zerbombt, die Menschen waren müde und alles war knapp. Im Gegensatz zur siegreichen Propaganda, war der Preis für die Vereinigung Vietnams Hunger, rationierte Ware und Isolation gegenüber der Welt außerhalb des kommunistischen Blocks. Sogar Papier zum Drucken von Büchern wurden rationiert. Ich war schon immer ein Buchliebhaber und erinnere mich, dass ich knapp 20 Kilogramm Altpapier sammeln musste, um es gegen ein neues Buch einzutauschen. Sie können sich nicht vorstellen, wie glücklich man ist, nach einem so langen und mühsamen Prozess ein neues Buch zu bekommen. Zum Altpapiersammeln gehörte auch der Transport durch Hanoi, mit meinem kaum funktionierenden Fahrrad. Vielleicht kommt mein Schneid aus dieser frühen Zeit.
Was tun Sie, um sich in Ihrer Freizeit zu entspannen?
Ich lese viel und in verschiedenen Sprachen. Ich habe kürzlich die Herausforderung angenommen, die chinesischen Klassiker „Die drei Reiche“ in der chinesischen Originalversion zu lesen. Ich habe ein großes Haus in Australien und verbringe viel Zeit im Garten. Meine beiden älteren Kinder sind bereits erwachsen, aber mein jüngstes ist erst neun Jahre alt. Ich verbringe viel Zeit mit ihm, spiele Fußball und wandere im Wald in der Nähe unseres Hauses.
Ihr akademischer Werdegang zeigt, dass Sie schon immer ein Überflieger waren. Sind sie ein geborenes Genie?
Ich würde nicht sagen, dass ich als Genie geboren wurde, aber vielleicht als begabt. Ich ging im Alter von fünf Jahren zur Schule, besuchte eine Mathematikschule für Begabte und legte die härteste Prüfung in Vietnam ab. Ich bin einer der angesehensten Wissenschaftler auf meinem Gebiet, spreche fließend Vietnamesisch, Deutsch und Englisch und bin ein guter Zeichner und Maler. Ich denke, ich bin begabt und hatte außerdem auch Glück.
Wie bringen Sie Forschung, Lehre und Familie in Einklang?
Das ist der harte Teil meines Lebens: Das akademische Leben in den USA, Asien und Australien ist ein bisschen anders als in Deutschland. Es herrscht ein starker Wettbewerb, entweder man veröffentlicht oder geht buchstäblich unter. Es reicht nicht aus, begabt zu sein. Man muss auch sehr hart arbeiten. Dabei helfen mir meine deutsche Pünktlichkeit und Disziplin. Ich habe ein sehr strenges, persönliches Zeit- und Energiemanagement. Jeden Tag treibe ich mindestens 30 Minuten Sport, bringe meinen Sohn zur Schule und hole ihn auch wieder ab. Natürlich gibt es immer viel zu arbeiten. Arbeitspapiere entstehen, ich arbeite im Labor, schreibe Anträge für Forschungsförderung und habe die Verantwortung für um die 70 Mitarbeiter. Außerdem muss ich unterrichten und an Meetings teilnehmen.
Haben Sie sich in Ihrer Jugend ausgemalt, welchen Einfluss ihre Forschung mal haben wird?
Um ehrlich zu sein, als ich jung war oder als ich in Chemnitz war, wusste ich nicht, was ich am nächsten Tag machen werde. Ich habe promoviert, weil ich sonst nach Vietnam hätte zurückkehren und mich von meinen Freunden verabschieden müssen. Ich habe viel Zeit damit verbracht - vielleicht auch verschwendet - in Clubs und Discos zu gehen. Erst nach meiner Heirat und der Geburt meines ersten Kindes wurden die Dinge strategischer und geplanter.
Welche Eigenschaften unterscheiden Sie von Ihren Kommilitonen und anderen Forschern?
Nichts Besonderes. Ich bin vielleicht eine natürliche Führungskraft, die ein Gespür für Empathie und gute Forschungsideen hat. Ich kann Menschen unterschiedlichster Herkunft zusammenbringen, um auch mit begrenzten Ressourcen Ergebnisse zu erzielen. Ich habe bis heute fast 30 Doktoranden aus der ganzen Welt betreut: China, Singapur, Malaysia, Indien, Iran, Bangladesch, Vietnam, Australien. Die meisten von ihnen wurden erfolgreiche Professoren und leitende Forscher.
(Interview: Olayemi Richard Obagboye / Übersetzung: Evamaria Moore)
Matthias Fejes
18.12.2019