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Szeneviertel statt Problembezirk

Als Stadtteilmanager in Chemnitz widmet sich TU-Absolvent René Bzdok der Quartier-Entwicklung des Chemnitzer Sonnenberges

Breite Straßen mit gemütlichen Eck-Kneipen, malerische Gassen mit kleinen Bars, leise hört man im Hintergrund die Kirchglocken der rötlich leuchtenden Markuskirche. Flaniert man durch die Straßen des Chemnitzer Sonnenberges, findet man sich zwischen geschichtsträchtigen Altbau- und modernen Neubauwohnungen wieder – Tradition und Moderne scheinen hier aufeinander zu prallen. Doch nicht nur sanierte Wohnhäuser und gepflegte Gassen fallen auf dem Sonnenberg auf – auch Müllberge, Bauruinen und verfallene Häuser prägen das Bild dieses Stadtviertels. Inmitten der architektonischen Vielfalt befindet sich das Herz des Stadtteils: das Bürgerzentrum des Sonnenbergs, Sonnenstraße 35 – hier arbeitet René Bzdok.

Der 31-Jährige ist seit 2018 der Stadtteilmanager des Sonnenbergs in Chemnitz. Eine Aufgabe, die nicht nur viel Organisationstalent erfordert, sondern auch soziales Geschick und Durchsetzungsvermögen. Dass ihm die Zusammenarbeit mit Menschen am Herzen liegt, weiß er seit seiner Schulzeit: „Der Umgang mit Menschen war mir schon immer sehr wichtig“, sagt er. Warum? Er tauscht sich gern mit den unterschiedlichsten Menschen aus – spricht mit Ihnen über Gott und die Welt. Während der Schulferien war der gebürtige Stollberger deshalb Kinder- und Jugendbetreuer im Ferienlager und leistete nach seinem Abitur einen Zivildienst im Kreiskrankenhaus Stollberg.

Handwerkszeug an der TU Chemnitz gelernt

Während andere Abiturientinnen und Abiturienten auf Reisen gingen oder ihre Freiheit nach der Schule genossen, wollte Bzdok lieber pflegebedürftige Seniorinnen und Senioren betreuen oder demenzkranken Menschen unter die Arme greifen: 2008 begann er mit der sozialen Arbeit als Pflegehelfer beim „Advita Pflegedienst Chemnitz“.

Doch die soziale Arbeit allein reichte ihm nicht: Bzdok wollte akademische Luft schnuppern und so entschied er sich für ein Studium der Soziologie an der Technischen Universität Chemnitz: „Ich wollte mehr darüber lernen, was die Welt oder besser gesagt die Gesellschaft im Inneren zusammenhält“, sagt Bzdok. Viel Neues und Unerwartetes prallte auf den gebürtigen Stollberger – auch die Studieninhalte waren für ihn zunächst eine Herausforderung: „Das Studium war viel theoretischer, mathematischer und statistischer als gedacht“, erinnert sich Bzdok. Doch er stellte sich der Herausforderung und ist rückblickend stolz auf seine Leistung: „Am Ende war es die richtige Entscheidung“, resümiert er.

Studieninhalte in der alltäglichen Arbeitswelt anwenden

Doch trotz der Vorlesungen und Seminare, die Bzdok begeistert besuchte, konnte er mit der akademischen Welt nicht warm werden: „Da ich über viele Jahre parallel zum Studium vor allem im Pflegeberuf tätig war, schien mir der Spagat zwischen den existentiellen Sorgen von Menschen an ihrem Lebensende und den akademischen Problemen als zu groß“, erklärt er. „Dennoch konnte ich mein erworbenes Wissen aus dem Studium auch in der nichtakademischen, alltäglichen Arbeitswelt verstehend anwenden.“ Statistik und Marktforschung, die ihm im Studium näher gebracht wurden, helfen ihm bei seiner jetzigen Tätigkeit als Stadtteilmanager. So konnte der Soziologe unschätzbare Erfahrungswerte aus der Mischung zwischen akademischem Wissen und Lebenspraxis erlangen.

Große Liebe: Chemnitzer Sonnenberg

Obwohl Bzdok in Stollberg aufwuchs, war ihm die Stadt Chemnitz vor seinem Studienbeginn an der TU nicht fremd: „Während meiner Jugendzeit flanierte ich des Öfteren in der Innenstadt und schloss die Stadt immer mehr ins Herz“, erinnert er sich. Mit seiner Arbeit als Pflegehelfer und dem Beginn seines Studiums zog er dann vollständig nach Chemnitz und lernte neben der sozialen Arbeit eine weitere große Liebe kennen: den Chemnitzer Stadtteil Sonnenberg. Dort bezog er nach dem Abitur seine erste eigene Wohnung.

Der Stadtteil grenzt unmittelbar nördlich an das Stadtzentrum an und zählt heute über 15.000 Einwohner. Entstanden ist das Viertel mit der beginnenden Industrialisierung der Stadt Chemnitz Mitte des 19. Jahrhunderts. So entstanden entlang der Straßen die ersten Maschinenbaufabriken, dahinter entwickelte sich auf dem Nordhang das eigentliche Wohngebiet Sonnenberg. Dicht bebaut und in seinen Hochzeiten um 1900 extrem übervölkert ist der Sonnenberg ein typisches Arbeiterviertel der Gründerzeit. Auch der Sonnenberg wurde im Zweiten Weltkrieg Opfer des Bombenangriffs auf Chemnitz: viele Fabriken sowie Wohngebäude wurden zerstört. Am Ende der DDR Zeit wurden nochmals viele alte Gebäude vor allem am südlichen Sonnenberg abgerissen und durch Plattenbauten ersetzt. Seit der Wende kam es zu hohem Leerstand, dem durch eine weitere Abrisswelle im neuen Jahrtausend entgegengetreten werden sollte. Seitdem hat das Stadtviertel einen deutlichen Wandel erlebt, der heute den Zeitgeist und Charme der Gründerzeit widerspiegelt, aber auch Neues zeigt.

Das Aufeinanderprallen von Alt und Neu reizte den damaligen Soziologiestudenten. Besonders zogen ihn die malerischen Gassen, die kulturelle Vielfalt und die idyllischen Parks an. Seit 2015 ist René Bzdok deshalb sogar als Gästeführer in Chemnitz unterwegs und führt Gäste sowie neugierige Einheimische durch seinen Stadtteil. „Durch diese Arbeit sehen ich den Kiez mit anderen Augen“, sagt er. Er habe den Sonnenberg so noch mehr lieben und schätzen gelernt, „obwohl oder gerade weil das Viertel nach wie vor seine Ecken und Kanten besitzt“, fügt der 31-Jährige hinzu.

Vom trostlosen Bezirk zum Szeneviertel

Gerade diese Ecken und Kanten machen das Viertel für Bzdok umso interessanter. Durch die Arbeit als Gästeführer und das Wohnen auf dem Sonnenberg wurde ihm klar: Im Stadtteil steckt viel mehr, als Medien und Außenstehende beschreiben. Längst ist der Sonnenberg kein trostloser Bezirk mehr, sondern wird mehr und mehr zum Szeneviertel – auch dank der Bemühungen von René Bzdok. Der Soziologe wollte mehr, als nur dort leben und arbeiten: Er wollte zur Gestaltung des Viertels beitragen und sich für dessen Veränderung einsetzen. Aus diesem Grund übernahm er 2018 die Arbeit als Stadtteilmanager des Sonnenbergs.

Termine koordinieren, Pressemeldungen verfassen, Fördermittel verwalten, Veranstaltungen und Events planen sowie das Engagement der Bürgerinnen und Bürger umsetzen: René Bzdoks Aufgaben als Stadtteilmanager sind vielseitig. Hierbei steht erneut der Kontakt mit Menschen für Bzdok an oberster Stelle: „Ich mag im Grunde alle Menschen hier, mit all ihren Ecken und Kanten“, erklärt der 31-Jährige. Mit Menschen sprechen, sie zu vernetzen, sie für etwas zu gewinnen und begeistern, anzuregen und zu unterstützen: Das macht dem Soziologen am meisten Spaß. Für die Bewohnerinnen und Bewohner hat er immer ein offenes Ohr und erfüllt seine Aufgaben mit viel Geduld und Hingabe: „Ich kümmere mich gern um die Bewohner des Sonnenbergs und wecke gern Verständnis für viele unterschiedliche Seiten einer Medaille“, erklärt er. So versucht er, Menschen aus den unterschiedlichen sozialen Schichten bei gemeinsamen Events auf dem Sonnenberg zu vereinen und sich untereinander auszutauschen.

Unterschiedliche Seiten einer Medaille: Das macht den Sonnenberg aus. Nicht nur künstlerische Gassen, familienfreundliche Parks und wunderschöne Altbauwohnungen zeichnen das Viertel aus. Auch Schmutz, leerstehende Häuser, Kriminalität und Lärm verbinden die meisten Chemnitzer mit dem Viertel. Mehr als ein Viertel der Bewohner des Stadtteils leben heutzutage von der sozialen Stütze. Die demografische Entwicklung von Chemnitz seit der Wende machte sich auch auf dem Sonnenberg bemerkbar: Rückläufige Bewohnerzahlen bis 2010 führten zu einem Überangebot an Wohnräumen. Das Ende der DDR brach viele Biografien und seit den Reformen der Agenda 2010 geht die soziale Schere verstärkt auseinander. „Diese Prozesse hinterlassen Spuren, die sich in hoher Arbeitslosigkeit, Alters- und Kinderarmut widerspiegeln“, erklärt Bzdok. Auch die nach wie vor starke rechte Szene sei ein Symptom dieser Entwicklungen. Aber seit ein paar Jahren entwickelt sich der Stadtteil auch dank umfangreicher sächsischer, nationaler und europäischer Fördermittel positiv und gehört zu den dynamischsten Wohngebieten in unserer Stadt.

Kaum ein anderes Stadtviertel in Chemnitz erfährt so viele Kontroversen wie der Sonnenberg. Von der Presse häufig als Nazi-Hochburg von Chemnitz abgestempelt, verstärkte sich der schon historisch bedingte schlechten Ruf – völlig zu Unrecht, wenn es nach Bzdok und den übrigen Bewohnern geht. Zahlreiche internationale Cafés, wie das arabische „Zaman Café“ sowie orientalische Lebensmittelmärkte, wie das „Al-Arabi“ vereinen harmonisch die verschiedenen Nationalitäten. Moslems, Christen und andere Glaubensrichtungen leben recht friedlich nebeneinander. Bzdoks Mission für den Sonnenberg lautet ganz klar: Kontakte zwischen den diversen Menschen schaffen und Vorurteile löschen. „Ich möchte zur Schaffung einer Gemeinschaft beitragen und ein harmonisches Miteinander erzeugen“, erklärt er seine Vision. Denn was bringt die Menschen zusammen? „Sport, Musik, Kultur allgemein – das ist der Kitt der Gesellschaft“, findet Bzdok. „So finden die Menschen zusammen und entdecken Gemeinsamkeiten aneinander.“

Gesellschaftliche Vielfalt und kultureller Reichtum

Kultur, Nachhaltigkeit und Miteinander – das alles bietet der Chemnitzer Sonnenberg. „Nach nun fast einem Lebensjahrzehnt im Viertel kann ich sicher sagen, dass der Sonnenberg entgegen vieler Meinungen sehr reich sein kann“, betont Bzdok. „Dieser Reichtum zeigt sich in der Anzahl der Kinder, Kultur- und Freizeitangebote“. Die Vielfalt im Stadtteil fasziniere ihn am meisten: „Selbst für mich gibt es hier täglich etwas Neues zu entdecken“, staunt der Stadtteilmanager.

Die Menschen zusammenbringen und verschiedene kulturelle Inseln aufeinandertreffen lassen: Das ist zum Beispiel im „Reparatur Cafe“ des Vereins „Stadthalten e.V.“ der Fall. Hier kommen die Bewohnerinnen und Bewohner des Sonnenbergs zusammen und können unter Anleitung eines Fachkundigen gemeinsam ihre Fahrräder, Toaster oder Computer instand setzen. Für eine ökonomisch nachhaltige Versorgung ist auch gesorgt: Im „Peace Food“ werden die Gäste vegan bewirtet und können sogar unverpackt Lebensmittel erwerben. Auch das kulturelle Angebot kommt nicht zu kurz: In der Kulturkneipe „KaffeeSatz“ finden regelmäßig Lesungen, Theater sowie Konzerte in entspannter Wohnzimmeratmosphäre statt. Den Armutstendenzen auf dem Sonnenberg wirkt das Sozialkaufhaus „Sparbüchse“ des „Selbsthilfe 91 e. V.“ entgegen, wo den sozial Benachteiligten mehrfach unter die Arme gegriffen wird. Dort erhalten sie eine Chance, wieder in einen Arbeitsalltag zurückzufinden: „Sie lernen somit, feste Strukturen wieder anzunehmen und in einen geregelten Tagesablauf hinein zu finden“, erklärt Bzdok. Außerdem kann man dort preisgünstig Dinge des täglichen Bedarfs erwerben, die entweder von Mitmenschen abgegeben oder bei Haushaltsauflösungen angefallen sind.

Zusammenhalt schaffen durch abwechslungsreiche Veranstaltungen

Ganz besonders während der Sommerzeit ist auf dem Sonnenberg immer etwas los: Beim „Hang zur Kultur“, einem Abend der offenen Tür auf dem südlichen Sonnenberg, erleben die Chemnitzerinnen und Chemnitzer zahlreiche Mitmach- und Kulturangebote. Zum jährlich stattfindenden Seifenkistenrennen verwandelt sich die Ludwig-Kirsch-Straße in eine Rennstrecke, wenn die Teilnehmer in selbstgebauten Fahrzeugen an den Start gehen und Popcorn und Kuchen verzehren. Auch zum alljährlichen Stadtteilfest auf dem Lessingplatz packen die Bewohnerinnen und Bewohner des Sonnenberges mit an: auf dem Kinder- und Familienfest stellen verschiedene Sozialträger, wie die Mietgesellschaft „GGG“ oder der Betreuungsdienst „Delphin“ ihre Aufgaben und Angebote vor. Auch ein Flohmarkt wird durch die „Sparbüchse“ angeboten. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind hierbei nicht nur Konsumenten, sondern vielmehr Beteiligte. „Das Engagement der Bewohner ist lobenswert und macht den Sonnenberg ein großes Stück lebenswerter“, beurteilt René Bzdok das Mitwirken der Bewohner. Auch auf diese Weise treten die Nachbarn miteinander in Kontakt und schaffen ein harmonisches Zusammenleben im Viertel. 

Dem Arbeitsalltag entkommen fällt schwer

Da René Bzdok selbst auf dem Sonnenberg wohnt und mittlerweile bei den meisten Bewohnerinnen und Bewohnern bekannt und beliebt ist, fällt es ihm schwer, dem Arbeitsalltag zu entkommen. In seiner Freizeit spielt er Tennis und gärtnert für sein Leben gern im eigenen Schrebergarten. Dort kann er auch mal dem Arbeitstrubel entfliehen. Trotzdem ist ihm der zwischenmenschliche Kontakt am wichtigsten: „Auch in meiner freien Zeit spreche ich am liebsten mit Menschen über Gott, die Welt und Politik“, erklärt er. Das lässt sich mit seiner Arbeit perfekt vereinbaren – und so wird seine Arbeit ein Stückchen mehr zur Freizeit.

Große Visionen für Zukunft

Für die Zukunft hat der TU-Absolvent große Pläne: „Ich möchte zur Belebung des Sonnenbergs beitragen und die Menschen noch mehr miteinander vernetzen“, erklärt er. Auch Probleme des Viertels, wie die Verschmutzung der Straßen, möchte er Schritt für Schritt beseitigen.  

(Autorin: Julia Henkel)

Matthias Fejes
19.12.2019

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