Die Sprache der Gesten
Warum wir nicht nur mit dem Mund, sondern auch mit unseren Händen sprechen, war das Thema der Antrittsvorlesung von Prof. Dr. Ellen Fricke am 25. November 2015
Gerührt sei sie von all den anerkennenden Worten gewesen, die ihr zuvor im Veranstaltungssaal des Staatlichen Museums für Archäologie Chemnitz (smac) zuteilwurden, sagte Prof. Dr. Ellen Fricke. Die Inhaberin der Professur Germanistische Sprachwissenschaft, Semiotik und Multimodale Kommunikation an der TU Chemnitz hielt am Abend des 25. November 2015 ihre Antrittsvorlesung zum Thema „Grammatik multimodal oder warum wir nicht nur mit dem Mund, sondern auch mit unseren Händen sprechen“ und eröffnete damit zugleich die vom Forschungsprojekt MANUACT initiierte Ringvorlesung „Mit den Händen sprechen“, die noch bis Februar 2016 in interdisziplinären Vorträgen den Themen Gestik und Multimodale Kommunikation nachgeht. „Endlich habe ich die Gelegenheit, die Technische Universität Chemnitz zu ihrem Forschungsprojekt MANUACT beglückwünschen zu können“, freute sich Dr. Sabine Wolfram, die als Direktorin des smac Grußworte an die Gestenforscherin richtete. In dem Chemnitzer Museum ist die Ringvorlesung in diesem Semester zu Gast. Dass hier durchaus Verbindungslinien bestehen, hob Dr. Wolfram anhand des Faustkeils von Sprotta hervor. Das archäologische Fundstück ist nicht nur einst konzeptuell an die paläolithische Hand angepasst worden, es stelle auch die Frage, inwieweit die Sprache für die Verwendung von Werkzeugen damals von Bedeutung war. Mit Zitaten von Goethe und Thomas Mann, die pointiert Handbewegungen in ihren Texten beschreiben, schloss sich die Dekanin der Philosophischen Fakultät und Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Bernadette Malinowski dem Grußwort an. Am Beispiel dieser Zitate ließe sich gut nachvollziehen, wie Gesten die Rede begleiten und ergänzen können. Die Dekanin erinnerte außerdem daran, dass die Gestenforschung ein noch junges wissenschaftliches Feld sei und würdigte den akademischen Werdegang und die wissenschaftlichen Leistungen von Prof. Dr. Ellen Fricke.
Zu Wort kommen sollte nun auch die Wissenschaftlerin selbst. Sie versprach ihren Zuhörern gleich zu Beginn, der Frage, ob die redebegleitende Handbewegung überhaupt ein Gegenstand der traditionellen Sprachwissenschaften sein kann, ausführlich nachzugehen. Sie griff zunächst die Zeigegesten auf, die die Aufmerksamkeit menschlicher Adressaten steuern. Den Hörern ihrer Antrittsvorlesung spielte die Gestenforscherin zur Demonstration die Tonaufnahme einer Wegbeschreibung vor, deren verbalen Ausdrücke wie „hier“ oder „da“ sich erst erschlossen, wenn man auch das dazugehörige Video inklusive der redebegleitenden Gesten sah. Diese Zweiteilung des Sprechens über Raum in einerseits lautsprachliche und andererseits gestische Mittel war Kernstück der weiteren Betrachtung von Ellen Fricke. Anhand eines Videobeispiels eines Buchbinders bei der Arbeit zeigte die Sprachwissenschaftlerin auf, dass die menschliche Hand Handlungen nachahmt, Objekte als Ganzes repräsentiert, sie als zweidimensionalen Umriss zeichnet oder als eine dreidimensionale flüchtige Skulptur modelliert. Diese gestischen Darstellungsweisen nach Müller ergänzte sie durch Kendons Kontinuum der Gesten, das Handbewegungen in unterschiedlichem Ausmaß als sprachlich betrachtet. Damit lud Fricke dazu ein, im Anschluss zu beleuchten, inwiefern sich die deutsche Sprache als multimodal darstellt.
Zunächst widmete sich die Gestenforscherin den verschiedenen Forschungstraditionen und den dort verwendeten Begriffen von Multimodalität. Beim Verhältnis von Gesten und Wörtern war es der Semiotiker und Sprachpsychologe Karl Bühler, der herausstellte, dass man Zeigwörter wie „dieser“ oder „dort“ in bestimmten Situationen nur angemessen verwenden kann, wenn man begleitend eine Zeigegeste ausführt. Eine direkte Rede-Geste-Relation sahen die Gestenforscher Kendon und McNeill, indem sie konstatierten, dass Gesten und lautliches Sprechen Bestandteil desselben Äußerungsprozesses sind, Gesten dabei jedoch den visuellen Kanal nutzen. Multimodalität werde in dieser Forschungstradition als das Zusammenwirken von zwei unterschiedlichen Sinnesmodalitäten verstanden. Die Gesten wirken aufs Auge, das lautliche Sprechen wirkt auf das Ohr. Weiterhin betrachtete die Wissenschaftlerin die Verbindung von Sprache und Bild und stellte Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Geste-Rede-Relationen heraus.
Gesten und ihr grammatisches Potenzial
Sind Handbewegungen nun aber auch einer Grammatik fähig? Ellen Fricke führte hinsichtlich der Beantwortung dieser Frage die grammatisch voll ausgebildeten Gebärdensprachen an und argumentierte, dass damit auch diejenigen Handbewegungen, die das lautliche Sprechen begleiten, nicht von vornherein aus dem Gegenstandsbereich einer Grammatik des Deutschen ausgeschlossen werden können. Denn die Gebärdensprachen würden zeigen, dass Handbewegungen ein grammatisches Potenzial haben. Um nun nachzuweisen, dass grammatische Strukturen des Deutschen zumindest partiell multimodal sind, untersuchte sie, inwieweit redebegleitende Gesten unter einen grammatischen Attributbegriff fallen und als Attribute in lautsprachliche Nominalgruppen integrierbar sind. Anschaulich machte dies eine Videosequenz, in der ein architektonisches Bauwerk beschrieben wurde. In der multimodalen Äußerung „sone gelb-goldenen Tafeln“, die von einer Geste begleitet wurde, die eine rechteckige Form nachahmte, ließ sich eine Arbeitsteilung zwischen Gesten und Wörtern beobachten. Das Wort „gelb-golden“ bestimmte die Farbqualität der Tafeln, die Rechteck-Geste deren Formqualität. Fricke betonte, dass dies kein Zufall sei, denn die räumlichen Gesten seien aufgrund ihrer medialen Eigenschaften besonders gut geeignet, Formqualitäten und räumliche Lageverhältnisse darzustellen. Nicht nur das Adjektiv „gelb-golden“, sondern auch die Rechteckgeste bestimme das Kernsubstantiv „Tafeln“ in der Nominalgruppe näher und übernehme damit die Funktion eines Attributs.
Interessant war bei den weiteren Beispielen, dass Gesten sich nicht nur auf individuell Wahrgenommenes oder Erinnertes, sondern sich auch direkt auf konventionalisierte, prototypische Wortbedeutungen beziehen können, wie Fricke darlegte. Gesten machen damit Aspekte von Wortbedeutungen zwischen Kommunikationspartnern direkt beobachtbar. Insgesamt gelang es der Wissenschaftlerin nachzuweisen, dass Gesten in den Gegenstandsbereich der Grammatik und der Sprachwissenschaft gehören. „Wir sprechen also wirklich nicht nur mit dem Mund, sondern auch mit den Händen“, resümierte Ellen Fricke in Anlehnung an den Vorlesungstitel. Sie plädierte zum Abschluss für einen Sprachbeschreibungsansatz, der der medialen Verfasstheit und dem historischen Gewordensein von Sprachen einen angemessenen Stellenwert einräumt und sich zugleich zukunftsorientiert für technologiebasierte Anwendungsperspektiven öffnet.
Zur Person: Prof. Dr. Ellen Fricke
Ellen Fricke hat seit dem 1. Oktober 2012 die Professur Germanistische Sprachwissenschaft an der Philosophischen Fakultät inne, deren Denomination seit dem 1. Oktober 2015 um die Fächer Semiotik und Multimodale Kommunikation erweitert wurde. Ab 1986 studierte sie an der TU Berlin Allgemeine Linguistik und Kommunikationswissenschaftliche Grundlagen von Sprache und Musik. Anschließend war sie Stipendiatin der Deutschen Forschungsgemeinschaft am Hamburger Graduiertenkolleg Kognitionswissenschaften und arbeitete als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Berlin. Dort wurde sie 2004 mit Auszeichnung promoviert und erhielt 2005 für ihre Dissertation „Origo, Geste und Raum: Lokaldeixis im Deutschen” den Tiburtius-Anerkennungspreis des Landes Berlin. Ab 2006 war sie Mitantragstellerin und Teilprojektleiterin des interdisziplinären Forschungsprojekts „Towards a Grammar of Gesture“ der Volkswagenstiftung an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. 2008 erfolgte die Habilitation mit einer Arbeit zu den Grundlagen einer multimodalen Grammatik. An der Viadrina vertrat sie von 2008 bis 2010 die Professur für Angewandte Sprachwissenschaft und an der Universität Freiburg von 2010 bis 2012 den Lehrstuhl für Sprachwissenschaft des Deutschen.
Derzeit ist sie Geschäftsführende Direktorin des Instituts für Germanistik und Kommunikation und Gesamtprojektleiterin des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierten Projekts „Hands and Objects in Language, Culture and Technology: Manual Actions at Workplaces between Robotics, Gesture and Product Design (MANUACT) an der TU Chemnitz. Sie gehört dem Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Semiotik an und ist Mitherausgeberin der Zeitschrift für Semiotik sowie des zweibändigen Handbuchs „Body – Language – Communication. An International Handbook on Multimodal Interaction“, das den internationalen Forschungsstand der Gestenforschung auf mehr als 2.200 Seiten dokumentiert.
Weitere Informationen zur wissenschaftlichen Vita von Ellen Fricke unter http://www.ellenfricke.de
Informationen zu weiteren Terminen der Ringvorlesung: http://www.manuact.org/rv/ringvorlesung.html
(Autor: Andy Schäfer)
Katharina Thehos
07.12.2015