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„Wirtschaftswissenschaften sollten neue Visionen für eine nachhaltigere Welt aufzeigen“

Prof. Dr. Marlen Gabriele Arnold von der Professur für Betriebliche Umweltökonomie und Nachhaltigkeit spricht im Interview über eine nachhaltiger ausgerichtete Entwicklung unserer Gesellschaft und das Annähern von Ökonomie und Ökologie

Prof. Dr. Marlen Gabriele Arnold, Inhaberin der Professur für Betriebliche Umweltökonomie und Nachhaltigkeit der Technischen Universität Chemnitz, zählt zu den Autorinnen und Autoren des vor wenigen Tagen im Murmann Verlag erschienenen Buches „economists4future – Verantwortung übernehmen für eine bessere Welt“. Auch sie wirft einen kritischen Blick auf die etablierten Wirtschaftswissenschaften und fordert ein Umdenken – nicht nur in der Gesellschaft, auch in Hochschulen und bei jedem Einzelnen von uns. Mario Steinebach, Leiter der Pressestelle und Crossmedia-Redaktion der TU Chemnitz, sprach mit ihr.

Der Titel des Buches erinnert an die weltweiten FridaysForFuture-Proteste und klingt wie ein Appell. An wen ist er gerichtet?

Insbesondere an die Wirtschaftswissenschaften und deren Akteure. Als in den vergangenen Jahren hunderttausende Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit ihren Eltern, Großeltern, Lehrerinnen und Lehrern für eine konsequente Klimapolitik eintraten und auch die Stimmen aus der Wissenschaft immer lauter wurden – ich denke da an mehr als 26.000 scientists4future aus verschiedenen Disziplinen – waren kaum Stimmen aus den Wirtschaftswissenschaften zu hören.

Haben Sie dafür eine Erklärung?

Das hängt viel mit erlernten Denkstilen und Wahrnehmungen sowie tradierten Bewertungen und Systemverständnissen zusammen. Diese Denk- und Lösungsansätze greifen bei den heutigen globalen oder lokalen Herausforderungen jedoch kaum. Zudem dominieren Konsum und Innovationen. Viele Innovationen sind heute häufig ökonomisch überbewertet. Das heißt, Problemlösungen werden quasi fortwährend ins Morgen verschoben, immer mit dem Verweis, die richtige, meist technische Innovation bringe die richtige Lösung schon noch mit sich. Doch Reboundeffekte und weitere Nebeneffekte zeigen das Gegenteil. Die Natur kann in Systemkreisläufen noch Vieles besser als menschengemachte Technik. Über alternative Zukünfte wird kaum konstruktiv nachgedacht. Die Wirtschaftswissenschaften sollten neue Visionen für eine bessere Welt aufzeigen sowie den heutigen Herausforderungen angemessene Handlungsrahmen entwickeln und durchsetzen helfen.

Das klingt schon wieder wie ein Appell – gerichtet an eine große Community. Als Professorin für Betriebliche Umweltökonomie und Nachhaltigkeit sind Sie doch auch sicher selbst gefordert, oder?

An meiner Professur stellen wir uns ständig die Frage, wie unsere Gesellschaft zu mehr Nachhaltigkeit kommen kann. Hier kann und muss auch die wirtschaftswissenschaftliche Forschung ansetzen, natürlich nicht allein – am besten interdisziplinär, um der Vielfalt und den möglichen Widersprüchen in unserer Gesellschaft gerecht zu werden. Die Wirtschaftswissenschaften sollten insbesondere auch im Rahmen der Third Mission von Hochschulen aufzeigen, was es gesellschaftlich bedeutet, wenn sich die Ökonomie in diese oder jene Richtung weiterentwickelt beziehungsweise wenn sich die Konsumierenden so und nicht anders verhalten. Sie sollten aufdecken, welche Dynamiken ökonomische Strukturen und Verhaltensweisen von Marktteilnehmerinnen und Marktteilnehmern mit Blick auf soziale Entwicklungen und ökologische Beeinträchtigungen hervorbringen. Es geht darum, nachhaltige Handlungsoptionen zu entwerfen. Wir hier in Chemnitz arbeiten auf jeden Fall auch in Kooperation mit außeruniversitären Akteuren daran, zum Beispiel mit der Stadt Chemnitz an Prozessen der lokalen Agenda 21.

Erreichen Sie dabei bereits viele Menschen in unserer Gesellschaft?

Ja, und es werden täglich mehr. Uns geht es unter anderem darum, Menschen über ihr eigenes Konsumverhalten aufzuklären und sie zu befähigen, Ideen einer nachhaltigen Zukunft zu entwerfen. Wir stellen zum Beispiel Kommunikationsinstrumente bereit, wie unsere „Goldenen Regeln für Nachhaltigkeit“, überregionale Poster-Ausstellungen und Ähnliches, und regen auch Personen zum Mitwirken in der AG Nachhaltigkeit unserer Universität an. Auch im Studium ist Nachhaltigkeit an verschiedenen Professuren in der Lehre verankert. Neben digitalen Lern- und Transferformaten werden systemische Lern- und Transferformate notwendig, um so mögliche Zukünfte spürbar und erlebbar zu gestalten, um eigenes Engagement in der Gegenwart auszulösen. Es braucht ebenso Partizipation über die Hochschulgrenzen hinaus. Für die Entwicklung von Verantwortlichkeit müssen vor allem soziale Kompetenzen gefördert werden, die sich in Achtung, Einfühlungsvermögen und Toleranz gegenüber anderen Individuen und Gegenständen sowie dem Leben und der Erde an sich zeigen. Durch die Verzahnung von Hochschule und Gesellschaft, etwa durch verstetigte Kooperationen mit Schulen, Reallaboren, Agenda-21-Prozessen und dergleichen, kann Gesellschaft insgesamt befähigt werden, Verantwortung zu übernehmen.

Das klingt nach einer gewaltigen Aufgabe, die von vielen angepackt werden muss.

In der Tat, auch unsere Fakultät für Wirtschaftswissenschaften engagiert sich stark in der von den Vereinten Nationen beförderten Initiative Principles for Responsible Management Education. Zugleich wissen wir, dass die Bildung für Nachhaltige Entwicklung und die Befähigung von Konsumierenden hinsichtlich Nachhaltigkeitsthemen nur einen Teil umfasst. Unternehmen, Bürgerinitiativen, NGOs und der Staat müssen ebenso ihre Hausaufgaben hinsichtlich Nachhaltigkeit leisten. Die Realisierung der globalen 17 Nachhaltigkeitsziele und der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie braucht jeden einzelnen Akteur.

Sie fordern im Buch in dem von Ihnen und Ihrer Kollegin Dr. Katja Beyer verfassten Beitrag eine Neubewertung des Innovationsverständnisses und damit einhergehend eine nachhaltiger ausgerichtete Entwicklung unserer Gesellschaft mit Hilfe der Wirtschaftswissenschaften. Wie kann das gelingen?

Die Entwicklung zur Nachhaltigkeit verlangt uns eine neue Ganzheitlichkeit ab und damit eine Neubewertung sowie eine Transformation der Wirtschaftswissenschaften. Sie sollten sowohl innerhalb ihrer eigenen Disziplin als auch disziplinenübergreifend forschen und zukunftsfähige Möglichkeitsräume aufzeigen. Diese Möglichkeitsräume können individuell erlebt sein, also beispielsweise die Frage „Möchte ich so eine Zukunft oder nicht?“ in den Mittelpunkt von Diskussionen stellen. Das beinhaltet zugleich die konsequente Ausrichtung von Hochschulen auf ganzheitliche Sozial- und Ökosysteme sowie die Überwindung eines Wissenschaftsverständnisses, das nur menschliches Leben zentral stellt. Die ökonomische Realität greift längst auf allen Ebenen des ökologischen Systems ein und beeinflusst auch die Sinne und Lebenswelten von Tieren, die weit über menschliche Wahrnehmungen hinausgehen – und daher meist nicht vorab bedacht werden.

Ökonomie und Ökologie gilt es also besser zu verzahnen, oder?

In die Gesamtbewertung ökonomischer Prozesse, Produkte und Dienstleistungen sollten andere, insbesondere nutzungsunabhängige und soziokulturelle Werte umfassender berücksichtigt werden, indem Eigenwerte und Genügsamkeit stärker anerkannt und die einseitige Reduzierung auf Effizienzaspekte umgangen werden. In gleichem Maße gilt es, eine gewisse Demut und Würdigung der Natur und allen Lebens in ökonomische Wertmaßstäbe zu integrieren. Die Wirtschaftswissenschaften könnten künftig so auf ein neues Innovationsverständnis hinwirken und sich proaktiv in die Beforschung und Mitgestaltung nachhaltigkeitsausgerichteter Geschäftsmodelle hineinbewegen. Ein Weniger an Innovationen – zum Beispiel an neu gekauften Smartphones pro Jahr – beziehungsweise ein Hin zu modularen Innovationen im Sinne der Nutzungsvielfalt und -intensität sowie Reparaturfähigkeit ist erstrebenswert. Zugleich gilt es, alternative Wege zu reiner Technik- und Wachstumsgläubigkeit aufzuzeigen. Hierzu müssen die Wirtschaftswissenschaften genauso einen Beitrag leisten wie hinsichtlich der Bemühungen, Stoffstromkreisläufe zu schließen.

Das klingt nach einer großen Verantwortung der Wirtschaftswissenschaften.

Ja, es ist Zeit für einen Paradigmenwechsel. Die britische Ökonomin Kate Raworth plädiert zum Beispiel dafür, alle Ökonomie-Lehrbücher neuzuschreiben und zwar mit neuem Fokus auf sozialökologische Bedingungen wirtschaftlicher Prozesse. Natürliche Voraussetzungen und soziale Werte benötigen eine Inwertsetzung im Rahmen ökonomischer Wertschöpfungsprozesse, dies ist ein zentraler Erfolgsfaktor für eine zukunftsfähige Wirtschaft und eine transformative Wirtschaftswissenschaft. Das heißt zugleich, Lebensräume von Tieren in ökonomische Betrachtungen einzubeziehen. Es liegen hinreichende neurowissenschaftliche Forschungsergebnisse vor, die aufzeigen, dass andere Lebewesen über ähnliche neuronale Voraussetzungen verfügen wie wir Menschen. Als fühlendes und empfindungsfähiges Lebewesen muss der Mensch eine verstärkte Akzeptanz und Wertschätzung dieser anderen Lebewesen juristisch, ökonomisch und praktisch verankern. Was Tierrechte betrifft, ist Neuseeland beispielsweise Vorreiter. Europa muss dahingehend noch viel lernen und realisieren. Die Verortung der Menschen im Kreislauf der Natur steht an – das zeigt sich unter anderem anhand der Pandemien sowie der drohenden Antibiotikaresistenzen. Wir Menschen müssen für unsere Aktivitäten erfolgreiche Strategien und Handlungsweisen finden, welche die Biosphäre und die soziale Gemeinschaft schützen oder stützen. Die Nachhaltigkeitswissenschaften sowie die Umwelt- und Ressourcenökonomie integrieren verschiedene Dimensionen bereits seit Jahrzehnten.

Wird damit die in der Marktwirtschaft gepriesene Konsumfreiheit, also Güter nach seinem individuellen Geschmack zu erwerben, eingeschränkt?

Angesichts massiver Naturschäden gehört die Freiheit, jederzeit alles konsumieren zu können, unbedingt auf den Prüfstand. Denn diese Konsumfreiheit und rein ökonomisch ausgerichtete Wertschöpfungsprozesse haben ihren Preis: Sie verursachen nicht nur gewaltige ökologische und soziale Kosten, die als solche häufig nicht eingepreist sind, sondern übertragen diese Kosten auf kommende Generationen. Hinzu kommt, dass die Freiheit des Konsums in wohlhabenden Ländern in großen Teilen auf neuzeitlichen, technischen und ökonomischen Errungenschaften basiert, die eng mit Ausbeutung, Ungleichheiten und Menschenrechtsverletzungen verbunden sind. In diesem Kontext braucht es auch Wirtschaftswissenschaften, die für Verantwortlichkeit einstehen, sie beforschen, vorantreiben und ihre Umsetzung begünstigen.

Vielen Dank für das Interview, das man sicher noch weiterführen könnte. Stehen Sie Interessierten für weitere Diskussionen oder Rückfragen zur Verfügung?

Unbedingt. Transformative Wissenschaft und Hochschulen stehen für den Dialog, den Austausch von Argumenten und die offen geführte Diskussion. Daran beteilige ich mich sehr gern. Ich danke Ihnen ebenso für das Gespräch.

Kontakt: Prof. Dr. Marlen Gabriele Arnold, Telefon 0371 531-38070 (Sekretariat), E-Mail nachhaltigkeit@wirtschaft.tu-chemnitz.de

Bibliographische Angaben: Lars Hochmann (Hrsg.), economists4future – Verantwortung übernehmen für eine bessere Welt, Murmann Verlag, Hamburg, 2020, 280 Seiten, ISBN 978-3-86774-653-3, Preis: 34 Euro

Mario Steinebach
26.08.2020

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