Zwischen Technikakzeptanz und Maschinenstürmen
Institut für Europäische Studien und Geschichtswissenschaften der TU Chemnitz wirft eine neue Sicht auf das Verhältnis zwischen Arbeiterinnen bzw. Arbeitern und Maschinen in der Zeit der Industrialisierung in Sachsen
Obwohl Sachsen im 19. Jahrhundert ein Kernland der Industrialisierung bildete, wurde das Verhältnis zwischen Arbeitenden und Maschinen bisher noch nicht systematisch untersucht. Diese Lücke schließt nun eine breit angelegte Studie der Juniorprofessur Antike und Europa der Technischen Universität Chemnitz. „Wir haben nicht nur den Maschinensturm der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfasst, sondern auch das Verhältnis der Arbeiterinnen und Arbeiter zu Maschinen in der Hochindustrialisierung“, sagt Projektleiter Dr. Manuel Schramm. Im Rahmen mehrjähriger Recherchen konnte der Chemnitzer Historiker insbesondere auf die reichhaltige Überlieferung des Sächsischen Staatsarchivs Chemnitz zurückgreifen. Die Forschungsarbeit wurden im Wintersemester im Universitätsverlag Chemnitz unter dem Titel „‘Gemeinschädlich‘ und ‚nervtötend‘ oder ‚treuer Hund‘ und ‚bester Broterwerber‘? Arbeiter/innen und Maschinen in der westsächsischen Textilindustrie, 1790-1914.“ publiziert.
Die Ergebnisse fasst der Autor wie folgt zusammenfassen: „Es wäre verfehlt, das Verhältnis zwischen Arbeiterinnen bzw. Arbeitern und Maschinen in der Industrialisierung ausschließlich oder vorwiegend unter den Kategorien ‚Entfremdung‘ oder ‚Dequalifizierung‘ zu fassen. Für viele Arbeiterinnen und Arbeiter bedeutete das Aufkommen von Fabriken weniger eine Einschränkung als vielmehr eine willkommene zusätzliche Einkommensquelle. Zudem muss zwischen verschiedenen Kategorien von Arbeiterinnen bzw. Arbeitern unterschieden werden: denen, die Maschinen nur überwachten und Routinetätigkeiten ausführten und solchen, die es verstanden, sich eine herausgehobene Stellung im Produktionsprozess zu sichern – wie die meist männlichen Spinner. Proteste gab es vor allem dann, wenn zum Beispiel eine spezifische Gruppe von Arbeitern oder Handwerkern – wie die männlichen Weber – sich durch den technischen Fortschritt, etwa durch die Einführung mechanischer Webstühle, bedroht sah. Sie beschränkten sich auf bestimmte Maschinen und bestimmte Gruppen von Arbeiterinnen bzw. Arbeiter und waren nicht Ausdruck einer allgemeinen Fortschrittsfeindlichkeit. Zumeist ging es vor allem um die sozialen Folgen der Mechanisierung. In Zeiten fehlender sozialer Absicherung musste technologische Arbeitslosigkeit – also der Ersatz von Menschen durch Maschinen – als Bedrohung erscheinen. Mentalitätsgeschichtlich vollzog sich ein Bruch zwischen den 1850er und den 1870er Jahren: Noch 1857 fand der letzte Maschinensturm in Westsachsen statt, und Mitte der 1870er Jahre galt die gewaltsame Zerstörung von Maschinen als verrückt. Dennoch blieb das Verhältnis zwischen Arbeiterinnen bzw. Arbeitern und Maschinen auch nach der Mitte des 19. Jahrhunderts zumindest ambivalent, wenn nicht gar offen feindselig. Das äußerte sich zum einen in der Furcht vor technologischer Arbeitslosigkeit, zum anderen führte die Intensivierung der Arbeit durch Anschaffung neuer Maschinen zu mehreren großen Streiks um 1900, insbesondere dem Crimmitschauer Textilarbeiterstreik.“
Die Publikation richtet sich an alle, die sich für die Geschichte der Industrialisierung und auch die Regionalgeschichte Westsachsens interessieren - in erster Linie an Historikerinnen und Historiker, aber auch an die interessierte Öffentlichkeit.
Bibliografische Angaben: Michael Schramm: „Gemeinschädlich“ und „nervtötend“ oder „treuer Hund“ und „bester Broterwerber“? Arbeiter/innen und Maschinen in der westsächsischen Textilindustrie, 1790-1914. Universitätsverlag Chemnitz, 190 Seiten, ISBN 9783961001408, Preis 7,90 Euro
Weitere Informationen erteilt Dr. Manuel Schramm, Institut für Europäische Studien und Geschichtswissenschaften, E-Mail manueal.schramm@phil.tu-chemnitz.de
Mario Steinebach
14.01.2022