Rückblick auf ein Jahr Massenflucht aus der Ukraine
Prof. Dr. Birgit Glorius von der TU Chemnitz ist Expertin für Migration und das europäische Asylsystem – Im Interview spricht sie über die Fluchtbewegungen aus und innerhalb der Ukraine
Am 24. Februar 2023 jährt sich der russische Überfall auf die Ukraine zum ersten Mal. Prof. Dr. Birgit Glorius, Inhaberin der Professur Humangeographie mit dem Schwerpunkt Europäische Migrationsforschung an der Technischen Universität Chemnitz sowie Mitglied des Sachverständigenrats für Integration und Migration, hat die Entwicklungen seither genau beobachtet. Im Interview mit TUCaktuell spricht sie über die Fluchtbewegungen aus der Ukraine. Zugleich blickt sie nach vorn und skizziert weitere Entwicklungen und Konsequenzen insbesondere mit Blick auf Deutschland.
Frau Glorius, vor einem Jahr prognostizierten sie, dass der russische Überfall auf die Ukraine sich zur größten Fluchtbewegung für Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ausweiten könnte. Wie hat sich die Situation tatsächlich entwickelt?
Wir hatten vor einem Jahr die Fluchtbewegungen aus der Ostukraine als Ansatzpunkt, in der ja bereits seit 2014 Krieg herrscht. Dort war bis 2022 rund ein Viertel der Menschen geflohen, viele davon innerhalb des Landes. Übertragen auf die gesamte Ukraine würde dies bedeuten, dass zehn Millionen der rund 40 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner durch die Kampfhandlungen und die Zerstörungen in die Flucht getrieben werden.
Und ist Ihre Prognose eingetreten?
Die neuesten Zahlen des UNHCR – also des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen – dokumentieren acht Millionen registrierte Flüchtlinge aus der Ukraine innerhalb Europas sowie 5.3 Millionen Binnenflüchtlinge, in Summe also über 13 Millionen. Damit hat sich meine Prognose leider bewahrheitet.
Wie geht es den Menschen heute? Wo und wie sind sie untergekommen?
Nach den Daten des UNHCR leben die meisten Flüchtlinge aus der Ukraine heute in der Russischen Föderation – konkret sind es rund 2,8 Millionen Flüchtlinge, gefolgt von Polen, wo rund 1,6 Millionen Flüchtlinge registriert sind, und Deutschland, wo rund eine Million Flüchtlinge leben. All diese Zahlen sind Schätzungen und mit verschiedenen Unsicherheiten behaftet, insbesondere auch die Zahlen der Binnenflüchtlinge. Vor allem für sie ist die Situation extrem schwierig, viele sind nach 2014 bereits zum zweiten Mal vertrieben worden, und viele haben ihre Existenzgrundlage durch den Krieg verloren. Hinzu kommen die Zerstörungen, die Stromausfälle und die allgemeinen Versorgungsprobleme in der Ukraine. Viele internationale Hilfsorganisationen versuchen diesen Menschen beizustehen, zum Beispiel mit Lebensmittellieferungen oder medizinischen Versorgungseinsätzen. Weniger prekär stellt sich die Situation für die Geflüchteten dar, die über die Grenzen der Ukraine geflohen sind. Bemerkenswert ist hier, dass ein Großteil der Flüchtlinge aus der Ukraine privat untergekommen ist. Das ist nicht nur für Deutschland dokumentiert, sondern beispielsweise auch für Polen. Möglich wurde dies durch den besonderen Schutzstatus, den die EU für die Menschen aus der Ukraine ermöglicht, so dass sie nicht das Asylverfahren durchlaufen müssen und mehr Freiheiten bei der Wahl ihres Zielortes sowie unmittelbaren Anspruch auf Sozialleistungen und Zugang zum Arbeitsmarkt haben.
Sie sprechen von der sogenannten Massenzustrom-Richtlinie der Europäischen Gemeinschaft, die für die Menschen aus der Ukraine in Kraft gesetzt wurde?
Ja, genau. Die Richtlinie heißt eigentlich Temporary Protection Directive, was ihre Funktion genauer trifft, nämlich einen vorübergehenden Schutzstatus auszusprechen. Die EU hat diese Richtlinie für Situationen der Massenankunft vorgesehen, in der pragmatisch gehandelt werden muss und keine Zeit für individuelle und langwierige Verfahren ist. Insgesamt sind in Europa 4,8 Millionen Geflüchtete aus der Ukraine unter dieser Direktive – oder unter einem vergleichbaren nationalen Schutzstatus – registriert.
Wie lässt sich die Differenz zwischen dieser Zahl und der Gesamtzahl der aus der Ukraine Geflüchteten von acht Millionen erklären?
In den Nicht-EU-Ländern, zum Beispiel in der Russischen Föderation, greift die Direktive ja nicht. Zudem haben nicht alle Geflüchteten in ihren Gastländern einen Schutzstatus beantragt. Manche haben auch ein Arbeitsvisum. Die Ukraine hatte ja bereits vor dem Krieg eine große Diaspora in vielen europäischen Ländern, viele Ukrainerinnen und Ukrainer haben früher bereits im Ausland gearbeitet und zeitweilig gewohnt. An diese Erfahrungen und Netzwerke können sie jetzt anknüpfen.
Kommen wir zur Situation in Deutschland. Seit einigen Wochen melden mehr und mehr Kommunen, dass sie an die Grenzen ihrer Aufnahmekapazitäten stoßen. Wie schätzen Sie die Lage ein? Können wir hier Vergleiche zu der sogenannten Flüchtlingskrise im Jahr 2015 ziehen?
Zwischen 2014 und 2016 hatten wir ebenfalls eine Situation der Massenankunft, die sich vor allem zwischen dem Sommer 2015 und dem Frühjahr 2016 zu einer Unterbringungskrise entwickelte. Damals kamen ja ausschließlich Menschen, die ins Asylverfahren mussten, und damit zunächst in den Landeserstaufnahmeeinrichtungen und dann auf kommunaler Ebene untergebracht werden mussten. Damals mussten Notunterkünfte aus dem Boden gestampft werden wie etwa Containersiedlungen, Zeltlager, Turnhallen. Viele der damals nach Deutschland Geflüchteten konnten auch nach Anerkennung ihres Asylstatus auf Jahre hinaus keine Wohnung finden und leben zum Teil bis heute in den Behelfsunterkünften. Die Unterbringung der Geflüchteten aus der Ukraine lief zumindest anfangs etwas geräuschloser, weil die meisten zunächst von Privatleuten aufgenommen wurden. Aber viele dieser Angebote waren vorübergehend und eignen sich nicht als Dauerlösung. Und so kommt die Unterbringungskrise zwar verspätet, aber jetzt doch in den Kommunen an.
Kann man schon eine Bilanz ziehen, wie sich die Anwendung der Massenzustrom-Richtlinie im Vergleich zum Asylverfahren auswirkt?
Zumindest eine vorläufige Bilanz. Ich denke, drei Punkte sollte man hier herausheben, die durch diese Regulierungen unterschiedlich gehandhabt werden: Verteilung und Unterbringung, Zugang zu Integrationsmöglichkeiten sowie Dauerhaftigkeit des Schutzstatus. Hinsichtlich der Verteilung war der größte Unterschied anfangs die Selbstverteilung der Geflüchteten, während Asylsuchende ja nach einem festgelegten Quotensystem auf alle Bundesländer und dann auf die Kommunen verteilt werden. Die Selbstverteilung hat anfangs zu einer überproportionalen Betroffenheit der Großstädte in Deutschland geführt, die von vielen Ukrainerinnen und Ukrainern bevorzugt angesteuert wurden, weil sie dort Kontakte hatten oder sich gute Arbeitsmöglichkeiten erhofften. Inzwischen ist dieser Unterschied nicht mehr so dramatisch, weil mit dem Bezug von Sozialleistungen – und das ist derzeit die Realität für die meisten ukrainischen Geflüchteten – ja ebenfalls Wohnsitzauflagen greifen und man nicht mehr so spontan umziehen kann.
Kommen wir nun zum Zugang zu Integrationsmöglichkeiten: Im Vergleich zu Menschen im Asylverfahren, die während des Asylverfahrens nur teilweise Zugang zu Sprachkursen und Arbeitsmöglichkeiten haben, erhielten die Ukrainerinnen und Ukrainer mit dem temporären Schutzstatus sofort Zugang zum Arbeitsmarkt sowie zu allen Service- und Vermittlungsleistungen des Jobcenters. Das macht sich bemerkbar, denn im Vergleich zu den 2015 Angekommenen sind relativ viele Ukrainerinnen und Ukrainer bereits auf dem Arbeitsmarkt aktiv oder belegen gerade einen Sprachkurs. Limitierend wirkt sich allerdings der Mangel an Kinderbetreuungsplätzen aus sowie die oft langwierigen Berufsanerkennungsverfahren. Hier treffen wir also auf aktbekannte systemische Probleme in der deutschen Integrations-Infrastruktur.
Und nun zur Dauerhaftigkeit des Schutzstatus: Der temporäre Schutzstatus ist, wie der Name schon sagt, eine vorübergehende Maßnahme, die nach ein bis maximal drei Jahren ausläuft. Inwieweit die Menschen dann in den verschiedenen europäischen Staaten Aufenthaltsrechte erwerben, muss sich erst noch erweisen. Ich gehe zwar nicht davon aus, dass beispielsweise Deutschland keine weiteren Aufenthaltsrechte mehr offeriert, aber es bleibt natürlich ein Stück Unsicherheit. Allerdings ist der Unterschied zu den 2015 Geflüchteten hier gar nicht mal so groß, denn auch deren Schutzstatus wie Flüchtlingsschutz oder subsidiärer Schutz ist zunächst nur temporär und wird erst nach und nach verlängert und verstetigt. Die andere interessante Frage bezüglich der Dauerhaftigkeit ist natürlich, ob es auf absehbare Zeit realistische und sichere Rückkehrmöglichkeiten gibt.
Und wie ist Ihre Einschätzung dazu?
Kollegen von der Universität Warschau haben dazu mehrere Szenarien aufgestellt, die die Rückkehrwahrscheinlichkeit in Abhängigkeit von Kriegsverlauf darstellen. Maßgeblich sind dabei die Dauer des Krieges, das Ausmaß der Zerstörung sowie die Qualität einer Friedensvereinbarung. Was wir derzeit sehen, ist die Abwesenheit einer schnellen Friedenslösung und eine unfassbar massive Zerstörung der zivilen Infrastruktur, was als Nebeneffekt einen hohen ökonomischen Leidensdruck mit sich bringt. Vor diesem Hintergrund müssen wir mit einer dauerhaften Niederlassung eines Teils der ukrainischen Geflüchteten in Deutschland rechnen, gefolgt vom Nachzug von Familienangehörigen. Weiterhin müssen wir mit einem anhaltend hohen Anteil an zirkulärer Migration rechnen, das heißt Ukrainerinnen und Ukrainer, die beispielsweise von ihrem deutschen Wohnsitz aus regelmäßig in die Ukraine pendeln, um dort Familienangehörige zu treffen oder um sich eines Tages am Wiederaufbau zu beteiligen. Der Aufbau einer sicheren Existenz im Gastland inklusive Erwerbstätigkeit wird dabei eine wichtige Stützfunktion haben.
Vielen Dank für das Gespräch.
Zur Person: Prof. Dr. Birgit Glorius
Nach dem Studium der Geographie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg zog es Birgit Glorius zum Auslandsstudium an die University of Texas (Austin). 2007 promovierte sie zum Thema „Polnische Migranten in Leipzig – Eine transnationale Perspektive auf Migranten und Integration“ an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Es schlossen sich daran Tätigkeiten als Wissenschaftliche Mitarbeiterin in Halle und Leipzig an, bevor sie 2013 an die TU Chemnitz wechselte und die Juniorprofessur für Humangeographie Ostmitteleuropas übernahm. Seit Oktober 2018 leitet sie die Professur Humangeographie mit dem Schwerpunkt Europäische Migrationsforschung an der Philosophischen Fakultät der TU Chemnitz. Im Jahr 2019 übernahm sie die Leitung des wissenschaftlichen Beirats des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, dem Beirat gehört sie bereits seit 2019 an. Seit 1. Januar 2023 ist sie zudem Mitglied des Sachverständigenrats für Integration und Migration. Dieser Sachverständigenrat ist ein unabhängiges und interdisziplinär besetztes Gremium der wissenschaftlichen Politikberatung.
Die Forschungsschwerpunkte von Glorius liegen im Bereich der Migrationsforschung und des demografischen Wandels. Sie forscht aktuell zu der Prozesshaftigkeit von Migration und ihren Folgen für Herkunfts- und Ankunftsregionen, zu Transnationalismus sowie zu lokalen Konstellationen der Flüchtlingsaufnahme, der Reaktionen der Aufnahmegesellschaft und lokal-regionalen Politikansätzen der Integration und Teilhabe.
Weitere Informationen erteilt Prof. Dr. Birgit Glorius, E-Mail birgit.glorius@phil.tu-chemnitz.de.
Mario Steinebach
21.02.2023