Europäisierung der nachbarschaftlichen Beziehungen
Chemnitzer Wissenschaftler untersuchen Kooperationsbeziehungen in der Europäischen Union nach dem Vertrag von Lissabon - sächsisch-tschechischer Grenzraum wird besonders in den Blick genommen
Noch stärker als das Verhältnis Deutschlands zu anderen Staaten ist das deutsch-tschechische Verhältnis von den historischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts geprägt. Seit dem Beitritt von Tschechien zur Europäischen Union im Jahr 2004 sind die Beziehungen zwischen beiden Ländern zudem rechtlich und organisatorisch in einen größeren europäischen Rahmen eingebettet, der von einer ständigen Ausweitung und Fortentwicklung gekennzeichnet ist. Die daraus resultierenden Konsequenzen für das zwischenstaatliche Verhältnis wurden jetzt auf einer internationalen Fachtagung in Oberwiesenthal diskutiert, die vom 25. bis 27. März 2011 im Panorama-Hotel stattfand und von der Sächsisch-Tschechischen Hochschulinitiative (STHI) an der TU Chemnitz veranstaltet wurde.
70 Teilnehmer befasstzen sich unter anderem mit Fragen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und der gegenseitigen Wahrnehmung sowie dem rechtlichen Rahmen für regionale Zusammenarbeit an der Schnittstelle zwischen nationalem, Europa- und Völkerrecht. Das abwechslungsreiche Programm war von den Chemnitzer Professurinhabern Prof. Dr. Beate Neuss (Professur für Internationale Politik) und Prof. Dr. Matthias Niedobitek (Professur für Europäische Integration mit dem Schwerpunkt Europäische Verwaltung) in Zusammenarbeit mit den tschechischen Wissenschaftlern Dr. Lukas Novotny (J. E. Purkyne-Universität Usti nad Labem) und PhDr. Premysl Rosulek, Ph.D. (Westböhmische Universität Plzen/Pilsen) erarbeitet worden. Rosulek widmete sich in seinem Konferenzbeitrag der Wahrnehmung der Sudetendeutschen in der tschechischen Presse sowie der öffentlichen Debatte im Nachbarstaat - ein Themenfeld, das die Beziehungen gerade Bayerns zur Tschechischen Republik nach wie vor mitprägt. Der Vortragende konnte allerdings Erfreuliches berichten: "Während noch Mitte der 1990er Jahre ein Großteil der Tschechen die Abschiebung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg als gerechtfertigt ansah, wird das damalige Geschehen mittlerweile differenzierter beurteilt." PhDr. Karel B. Mueller (Wirtschaftsuniversität Prag) hob in seinen Ausführungen die Potentiale des Phänomens "Grenze" als Kulturgut hervor: "Grenzen geben uns die Möglichkeit zur Selbstreflexion und können in der Auseinandersetzung mit dem Nachbarn damit zur Entwicklung einer positiven Identität beitragen." Praktisch umgesetzt wurde diese Möglichkeit in der Vertiefung der Referatsthemen in Arbeitsgruppen, in denen Dozenten und Studierende auf Deutsch, Tschechisch und Englisch gemeinsam über Problemfelder in den Kooperationsbeziehungen debattierten. Die Ergebnisse wurden anschließend im Plenum vorgestellt. In zahlreichen weiteren Beiträgen - wie zum Beispiel demjenigen von Dr. Antje Nötzold, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Chemnitzer Professur für Internationale Politik, über die europäische Strategie zur Sicherung der Rohstoff- und Energieversorgung - wurde der deutsch-tschechische Fokus der Konferenz erweitert.
Die Oberwiesenthaler Tagung war bereits die vierte in einer Reihe ähnlicher Veranstaltungen, die von der STHI in den Jahren 2010 und 2011 organisiert und durchgeführt werden. Die aus Mitteln des EU-Programms "Ziel 3/Cíl 3" geförderte Initiative hat es sich zum Ziel gesetzt, die Kooperation der Hochschulen im sächsisch-tschechischen Grenzraum zu intensivieren. Neben der TU Chemnitz sind die Universitäten in Usti nad Labem und Pilsen am Projekt beteiligt. Die nächste Konferenz findet unter der Leitung des Pilsener Wissenschaftlers Petr Cimler (Professur für Marketing, Handel und Dienstleistungen) vom 14. bis 16. April in Marianske Lazne/Marienbad statt. Sie widmet sich dem Thema "Neue Trends der Betriebswirtschaft in Theorie und Praxis in grenzübergreifender Vergleichung".
Weitere Informationen sind unter http://www.sthi.eu sowie bei Ilona Scherm, 0371 531-34503, ilona.scherm@phil.tu-chemnitz.de erhältlich.
(Autor: Martin Munke)
Mario Steinebach
30.03.2011