0 0
 
 

In Europa findet derzeit eine Hochkonjunktur des Erinnerns statt. Erinnerungsorte sind dabei hauptsächlich der Erste sowie Zweite Weltkrieg. Speziell der Zweite Weltkrieg ist allgegenwärtig in der deutschen Gesellschaft, im kollektiven Gedächtnis der Deutschen hat er den Ersten Weltkrieg verdrängt.

Anders ist dies in Großbritannien und Frankreich, wo der 'Große Krieg', der Erste Weltkrieg, einen sehr großen Stellenwert einnimmt. Und zwar nicht nur durch Bemühen von Historikern, sondern ganz speziell durch die Fülle von Literatur zum und über den Krieg. Im Unterschied zu Deutschland, wo sich dieses Genre, außer mit Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque, keinem großen Bekanntheitsgrad erfreut, ist in Groß-Britannien diese Form der Erinnerung äußerst wichtig.

Ein Großteil der Literatur ist von Männern geschrieben oder gedichtet worden, die selber auf den Schlachtfeldern gekämpft haben. Direkt nach dem Krieg oder sogar währenddessen haben sie einen 'Kampf für das Erinnern' geführt und dabei als Zeitzeugen ihre Geschichte dokumentiert.

Jedoch nicht nur diese großen Kriege nehmen in der europäischen Erinnerung einen zentralen Stellenwert ein. Beispielsweise auch das Regime unter Franco in Spanien und die sowjetische Diktatur spielen eine wichtige Rolle nicht nur in Forschung sondern auch in der Literatur.

In Portugal hingegen findet eine Aufarbeitung der 48 Jahre andauernden Diktatur kaum statt, obwohl auch unter diesem Regime die Staatspolizei PIDE (Polícia Internacional de Defesa do Estado) Gräueltaten verübt und die Bevölkerung bespitzelt hat. Zwar wurden 1994 die Akten der PIDE geöffnet und jeder Portugiese konnte sie von da an mit bestimmten Auflagen einsehen, große Beachtung wurde und wird ihnen jedoch nicht geschenkt. Einzig Forscher interessieren sich dafür, allerdings nur in geringem Ausmaß. Auch die Nachwirkungen der Diktatur im demokratischen Portugal oder die der Systemtransformation blieben eine Grauzone.[1]

Warum ist das Interesse an einer Aufklärung und Aufarbeitung des Estado Novo so gering? Als entscheidende Faktoren für das mangelnde Interesse an einer Aufarbeitung des Estado Novo nennt Andrea Fleschenberg in ihrer Studie zu Vergangenheitsaufklärung in Deutschland und Portugal die relativ geringe Zahl an Opfern, im Vergleich zu Spanien, und den friedlichen Verlauf des Systemwechsels. Auch der schleichende Übergang zur Diktatur Salazars habe für die Erinnerungskultur der Portugiesen eine große Rolle gespielt: Das Regime begründete sich nicht auf einem Bürgerkrieg und endete auch nicht mit einem.[2]

Der einzige Erinnerungsort der Diktatur ist ihr Ende. Der 25. April 1974, der Tag der Befreiung vom unterdrückenden Regime, ist ein nationaler Feiertag in Portugal und im portugiesischen Gedächtnis als Freudentag verankert. Mit der Revolution verschwand das Regime Salazars wie eine "Maske, die einem (...) demokratischen Volk und (...) demokratischen Streitkräften übergestülpt war"[3].

Nach dem Ende der Diktatur sei, laut Fleschenberg, in gegenseitigem Einvernehmen nicht mehr an diese gedacht worden. Die Realitäten der Diktatur wurden tabuisiert und es setzte ein kollektives Schweigen ein, das über die Generationen hinweg Bestand hatte. So seien ein radikaler Bruch und die Aufarbeitung der eigenen Geschichte unterblieben.[4]

Jessica Gutsche


[1] Vgl. Fleschenberg 2004: 5, 210.
[2] Vgl. ebd.: 247.
[3] Lourenço 1997: 67.
[4] Vgl. Fleschenberg 2004: 254.



Bibliografie:

  • Fleschenberg, Andrea (2004): Vergangenheitsaufklärung durch Aktenöffnung in Deutschland und Portugal?. Münster: LIT.
  • Lourenço, Eduardo (1997): Portugal - Europa. Mythos und Melancholie. Essays. Frankfurt a.M.: TFM.

Zurück zu Vergessen | Einseitige Erinnerung