Springe zum Hauptinhalt
Pressestelle und Crossmedia-Redaktion
Pressemitteilungen
Pressestelle und Crossmedia-Redaktion 

Pressemitteilung vom 02.06.1998

12.000 Lebensläufe erlauben Blick in die Vergangenheit

12.000 Lebensläufe erlauben Blick in die Vergangenheit
Chemnitzer Wissenschaftlerin auf den Spuren der Herrnhuter Brüdergemeine

(Pressemitteilung 132/98)

Wenn alles gut geht, wird sie in rund vier Jahren Professorin für Geschichte sein: die Chemnitzer Historikerin Dr. Gisela Mettele. Denn sie ist eine von nur 31 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die in das Hochschullehrer-Nachwuchs-Programm der VW-Stiftung aufgenommen wurden. Rund 12,1 Millionen Mark stehen für das ehrgeizige Programm in den nächsten vier Jahren zu Verfügung, mit denen ausschließlich künftige Professoren der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer in den neuen Bundesländern gefördert werden sollen.

Hätte man Frau Dr. Mettele vor rund 15 Jahren gesagt, daß sie sich einmal in Geschichte habilitieren würde, sie hätte wohl schallend gelacht. Damals nämlich hatte die junge Frau nach nur zwei Semestern gerade ein Studium der Theaterwissenschaften und der Philosophie geschmissen - um eine Lehre als Damenschneiderin zu machen. Nach deren Ende kehrte sie jedoch an die Uni zurück, begann, Musik und Geschichte zu studieren, wechselte schließlich ganz zur Geschichte. 1989 dann das Examen, danach fünf Jahre Mitarbeit an einem Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft über das städtische Bürgertum im 19. Jahrhundert. Seit 1994 arbeitet sie an der Chemnitzer Uni am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte bei Prof. Rudolf Boch.

Für ihre Habilitation suchte sich Dr. Mettele ein Thema aus der Religionsgeschichte aus: "Religiöse Gemeinschaft und Lebensentwurf: Die Herrnhuter Brüdergemeine im 18. und 19. Jahrhundert". Bei der Brüdergemeine handelt es sich um eine Religionsgemeinschaft, die 1727 von Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, einem sächsischen Adligen, gegründet wurde. Zinzendorf stellte aus Böhmen und Mähren vertriebenen Glaubensflüchtlingen auf seinem Gut südwestlich von Görlitz an der deutsch-polnischen Grenze Grund und Boden zur Verfügung, auf dem diese dann das Städtchen Herrnhut errichteten. Die Wurzeln der Religionsgemeinschaft reichen allerdings bis zu dem tschechischen Kirchenreformator Jan Hus zurück, der 1415 in Konstanz auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Im Laufe der Zeit stießen auch Menschen aus anderen Regionen und Schichten zu den Herrnhutern.

Die Brüdergemeine, die heute unter Namen wie "Moravians" und "Unitas Fratrum" weltweit verbreitet ist, hat etwa 700.000 Mitglieder. Sie zeichnete sich in der Vergangenheit durch eine ungewöhnliche soziale Struktur aus. So lebten besonders die ledigen Männer und Frauen voneinander getrennt in sogenannten Chorhäusern, die auch so etwas wie ein Familienersatz waren. Wer wen heiratete, wurde per Los entschieden, oft blieben die Gemeinemitglieder auch ledig. Die Kinder wurden häufig nicht in der Familie erzogen, sondern in besonderen Anstalten. Selbst Geschwister unterschiedlichen Geschlechts wurden schon frühzeitig voneinander getrennt. Das getrennte Leben führte andererseits dazu, daß Männer und Frauen im täglichen Leben - für die damalige Zeit ungewöhnlich - nahezu gleiche Positionen einnahmen. Frauen gelangten so in Berufe und Funktionen, die ihnen damals anderswo verschlossen geblieben wären. Ebenso ungewöhnlich war, daß die Herrnhuter Schwestern auf Missionsreisen geschickt wurden und so oft weit in der Welt herumkamen - bis nach Labrador, in die Karibik und Südafrika. Aus dem gleichen Grund war Herrnhut ausdrücklich als Handwerkerkolonie gegründet worden. Die Einwohner sollten sich nicht wie Bauern an den Boden binden, sondern jederzeit bereit sein, an einen anderen Ort zu gehen und sich - wie die Apostel - von ihrer eigenen Arbeit zu ernähren. Im Alter freilich kehrten die Herrnhuter häufig in ihre Heimat zurück.

Was die Herrnhuter aber für eine Historikerin besonders interessant macht, ist die Sitte, daß nahezu alle Mitglieder vor ihrem Tod einen Lebenslauf verfaßten, der dann bei der Beerdigung am Grabe verlesen wurde. Mehr als 12.000 solcher Lebensläufe, im Schnitt 15, manchmal aber auch über 100 Seiten stark, werden in Herrnhut im Archiv der Gemeine verwahrt - ein nahezu unerschöpflicher Fundus. Die Lebensläufe waren meist handgeschrieben, viele wurden auch gedruckt. Wenngleich auch die meisten dieser Lebensläufe die persönliche religiöse Entwicklung in den Vordergrund stellten, so enthalten sie doch genügend Material, das Aufschluß über die Zeit und über die inneren Strukturen der Brüdergemeine gibt. Außerdem befinden sich im Herrnhuter Archiv auch zahlreiche Berichte aus den einzelnen Gemeinen, dazu Personalakten, Tagebücher, Missionsberichte, Geschäftsakten über wirtschaftliche Aktivitäten und vieles mehr.

Anhand der Unterlagen hofft Dr. Mettele vor allem drei Fragen zu klären: ob die Herrnhuter durch ihre Missionstätigkeit nicht nur fremde Kulturen beeinflußten, sondern auch von diesen beeinflußt wurden; ob die Herrnhuter Schwestern in größerem Maße selbstbestimmt handeln konnten als andere Frauen, die nicht derartigen religiösen Bewegungen angehörten und ob die Annahmen des berühmten Soziologen Max Weber über den Zusammenhang zwischen protestantischer Religion und dem Entstehen des Kapitalismus zutreffen. Einiges spricht dafür, daß die Herrnhuter nach und nach auch fremde Wertvorstellungen übernahmen, wie eine zunehmende Tendenz zur Verweltlichung im 19. Jahrhundert zeigt. Gesichert ist ebenfalls durch eine Fülle von Beispielen, daß religiöse Erweckungsbewegungen den Frauen im vergangenen Jahrhundert oft größere Mitsprache- und Entfaltungsmöglichkeiten boten, also mit einer gewissen Emanzipation verbunden waren. Damit war es freilich meist schnell vorbei, sobald sich die neuen Religionen etabliert hatten - aber gerade den Herrnhuterinnen, so zeigen erste Ergebnisse, gelang es, ihre rechtliche und gesellschaftliche Stellung zu behalten, vermutlich eine Folge der Geschlechtertrennung. So konnte eine Herrnhuter Schwester es durchaus vom Dienstmädchen zur Gemeindevorsteherin und Predigerin bringen, damals anderswo unvorstellbar.

Max Weber wiederum hatte vermutet, daß die puritanische Religiosität besonders der Calvinisten die Entstehung des Kapitalismus gefördert habe. Die Calvinisten nämlich glaubten, daß sich besonders am Erfolg eines Menschen zeige, ob er von Gott auserwählt sei; entsprechend betriebsam und rastlos verhielt er sich. Weber dehnte diese Annahme der "protestantischen Ethik" auf den Protestantismus als Ganzes aus, seit einiger Zeit ist sie unter Wissenschaftlern aber umstritten. Andererseits ist jedoch unübersehbar, daß die Herrnhuter auch wirtschaftlich recht erfolgreich waren. In etwa drei Jahren hofft Dr. Mettele, die Archive soweit durchforscht zu haben, daß sie ihre Habilitationsschrift vorlegen kann. 12 Monate davon wird sie allein im Moravian Theological Seminary in Bethlehem im amerikanischen Bundesstaat Pennsylvania verbringen, dem US-Zentrum der Herrnhuter Bewegung.

(Autor: Hubert J. Gieß)

Weitere Informationen: Dr. Gisela Mettele, Tel. 0371/531-4062, e-mail: gisela.mettele@phil.tu-chemnitz.de