Springe zum Hauptinhalt
Pressestelle und Crossmedia-Redaktion
TUCaktuell
Pressestelle und Crossmedia-Redaktion 
TUCaktuell Forschung

Black Lives Matter in Europa: Was bleibt von der Bewegung?

Internationales Forschungsteam mit TU-Beteiligung hat Teilnehmerinnen und Teilnehmer sowie die Organisationsstruktur von BLM in vier europäischen Ländern untersucht – Besonders große Kundgebungen in Deutschland und Dänemark

Der gewaltsame Tod von George Floyd durch einen weißen Polizisten am 25. Mai 2020 in Minneapolis löste in den gesamten USA Proteste aus, die kurze Zeit später auch nach Europa und in andere Weltregionen überschwappten. Unter dem Motto „Black Lives Matter“ (BLM) formierte sich nach Floyds Tod eine weltweite Protestbewegung, um gegen Rassismus und Polizeigewalt zu demonstrieren. Wie haben sich die Proteste in Europa formiert? Wer waren Organisatorinnen und Organisatoren in den Ländern und was bleibt von der Bewegung – vor allem auch nach der nun erfolgten Verurteilung von Floyds Mörder?

Ein internationales Forschungsteam mit Beteiligung der Technischen Universität Chemnitz hat Umfang, Form und Resonanz von BLM-Protesten in Deutschland, Italien, Dänemark sowie Polen untersucht und verglichen. Die Ergebnisse lassen neben dem Fokus auf die BLM-Bewegung auch Schlussfolgerungen auf das grundsätzliche Protestgeschehen in diesen Ländern zu. Teil des Teams war Dr. Piotr Kocyba, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur Kultur- und Länderstudien Ostmitteleuropas (Leitung: Prof. Dr. Stefan Garsztecki) der TU Chemnitz. Kocyba hat für diese Studie in Polen geforscht.

Die Forscherinnen und Forscher zeigen verschiedene Ausprägungen und Akzentsetzungen der Proteste in den untersuchten Ländern. Darüber hinaus kommen sie zu dem Schluss, dass die BLM-Protestwelle neue Aktivistinnen und Aktivisten mobilisiert habe und neue Organisationen entstanden seien. Zudem seien die Themen Rassismus und Polizeigewalt stärker in die öffentliche Wahrnehmung gerückt. Dennoch stehe die BLM noch ganz am Anfang.

Die Ergebnisse der Untersuchung sind in der Reihe „DeZIM Research Note“ mit dem Titel „Black Lives Matter in Europe – Transnational Diffusion, Local Translation and Resonance of Anti-Racist Protest in Germany, Italy, Denmark and Poland“ erschienen und online verfügbar. Die Studie entstand für das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung DeZIM e. V., das vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) gefördert wird.

Besonders große Kundgebungen in Deutschland und Dänemark

Grundlage der erhobenen Daten waren Zeitungsberichte sowie Interviews mit Organisatorinnen und Organisatoren der Proteste. Dabei zeigten sich Ähnlichkeiten in der Form der Proteste, die häufig von jungen Schwarzen und People of Colour (PoC)-Aktivistinnen und Aktivisten organisiert wurden. Auffällig war zudem, dass diese selten über Protesterfahrung oder Verbindungen zu etablierten sozialen Bewegungen verfügten. Es zeigten sich aber auch markante Unterschiede in der Größe und geographischen Verteilung sowie der Ausrichtung der Proteste.

Demnach sind die Kundgebungen vor allem in Deutschland mit Schwerpunkten in Berlin und München, aber auch in Dänemark, besonders groß gewesen. In Italien hat es dafür die meisten Proteste gegeben. So hatten rund 200.000 Menschen in Deutschland zwischen Ende Mai und Ende Juli 2020 an über 80 Kundgebungen teilgenommen.

Zudem wurden die Proteste grundsätzlich von Solidarität mit der Bewegung in den USA getragen. Allerdings wurden die Grundthemen in einen je spezifisch lokalen Kontext „übersetzt“.

Auseinandersetzung mit dem Rassismus im eigenen Land – Geflüchtete bei BLM-Protesten in Deutschland weniger im Fokus als in Italien oder Dänemark

So stellten die BLM-Proteste für die Rassismus-Debatte in Deutschland etwa einen Wendepunkt dar. Die Proteste haben hier das Bewusstsein dafür geschärft, dass es bei Rassismus um mehr geht als um individuelle Vorurteile oder gar rechtsextreme Ideologien – sondern dass es sich auch um ein strukturelles Problem handelt. Zudem hat es eine positive Resonanz der Proteste gegeben, zum Beispiel weil erstmals PoC-Aktivistinnen und Aktivisten ausführlich zu Wort kommen konnten.

Grundsätzlich hat man sich in Deutschland im Zuge der BLM-Proteste ausführlich auch mit dem Rassismus im eigenen Land auseinandergesetzt. Dafür ging es in Deutschland inhaltlich kaum bis gar nicht um die Situation von Geflüchteten, die vor allem in Italien und Dänemark stark im Fokus der Proteste standen.

Innerpolitische Auseinandersetzungen sind Schwerpunkt in Polen

Eine andere Situation erlebt Dr. Piotr Kocyba in Polen, wo er den Schwerpunkt seiner Forschungsarbeit leistete. Demnach habe es hier im Vergleich klare Unterschiede bei der Zusammensetzung der Protestierenden gegeben. Während in Deutschland eher junge Schwarze Frauen aktiv wurden, gingen in Polen vor allem weiße Aktivistinnen und Aktivisten auf die Straße.

Allgemein wurde die BLM-Protestwelle in Polen von innerpolitischen Auseinandersetzungen überschattet, die auch eine Erklärung für die vergleichsweise geringe Mobilisierung darstellen. So habe es in Polen lediglich 17 BLM-Proteste gegeben, an denen insgesamt nur etwa 7.000 Personen teilnahmen.

Ein weiteres Spezifikum in Polen waren die Präsidentschaftswahlen, die während der internationalen BLM-Protestwelle stattfanden. In deren Verlauf hat der wiedergewählte Präsident Andrzej Duda zunehmend auch homophobe Inhalte vorgebracht. Deswegen hat sich in Polen der Fokus der Proteste zunehmend verschoben. Das hat dazu geführt, dass progressive Aktivistinnen und Aktivisten sich im BLM-Sommer 2020 in Polen vor allem für die Rechte der LGBTIQ+ Community eingesetzt haben.

BLM-Proteste in Europa – Durchbruch einer neuen Bewegung?

Die BLM-Protestwelle vom Sommer 2020 hat neue Aktivistinnen und Aktivisten mobilisiert, neue Organisationen entstehen lassen und die Themen Rassismus und Polizeigewalt in den Fokus öffentlicher Debatten gerückt. Auch können, in Deutschland beispielsweise mit dem Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus, erste konkrete politische Erfolge verbucht werden. „Dennoch steht die BLM-Bewegung ganz am Anfang“, so Piotr Kocyba. „Unter den schwierigen Bedingungen der Pandemie hat man es geschafft, sich zu vernetzen und auf die eigenen Belange öffentlich aufmerksam zu machen. Ob es aber eine nachhaltige Wirkung haben wird, sprich, ob sich einzelne BLM-Bewegungen in den verschiedenen europäischen Gesellschaften gleichermaßen etablieren und entfalten werden können, muss sich noch zeigen.“ Dieser spannenden Frage soll in einem Nachfolgeprojekt, das eine intensivere wie auch längerfristige Untersuchung der europäischen BLM-Bewegungen erlauben soll, nachgegangen werden. Ein entsprechendes Konsortium befindet sich gerade im Aufbau.

Veröffentlichung: Noa Milman, Folashade Ajayi, Donatella della Porta, Nicole Doerr, Piotr Kocyba, Anna Lavizzari, Herbert Reiter, Piotr Płucienniczak, Moritz Sommer, Elias Steinhilper and Sabrina Zajak. Black Lives Matter in Europe: Transnational Diffusion, Local Translation and Resonance of Anti-Racist Protest in Germany, Italy, Denmark and Poland. DeZIM Research Notes 6. Juli 2021. https://www.dezim-institut.de/fileadmin/Publikationen/Research_Notes/DeZIM_Research_Notes_06_RZ_210702_web-1.pdf

Hintergrund: Das DeZIM-Institut

Das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) ist eine Forschungseinrichtung, die durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) gefördert wird. Es forscht zu Integration und Migration, zu Konsens und Konflikt sowie zu gesellschaftlicher Teilhabe und zu Rassismus. Das DeZIM wurde 2017 gegründet und stützt sich auf zwei Säulen: das DeZIM-Institut und die DeZIM-Forschungsgemeinschaft. Das DeZIM-Institut hat seinen Sitz in Berlin-Mitte.

Weitere Informationen erteilt Dr. Piotr Kocyba, Telefon 0371 531-38521, E-Mail piotr.kocyba@phil.tu-chemnitz.de.

Multimedia:

Bild zum Videolink

Matthias Fejes
09.08.2021

Alle „TUCaktuell“-Meldungen
Hinweis: Die TU Chemnitz ist in vielen Medien präsent. Einen Eindruck, wie diese über die Universität berichten, gibt der Medienspiegel.