Wissenschaftliches Geheimnis des Chemnitzer Kunstwerks „Denk- und Wahrnehmungsmodell zum Phänomen der Farbe“ gelüftet
Forschende aus Chemnitz und Besançon entlocken dem markanten Stelenkunstwerk von Stefan Nestler auf dem Campusplatz der TU Chemnitz die unvermutete Eigenschaft als größte bekannte Realisierung eines photonischen Kristalls

-
David Röhlig, Doktorand an der Professur Theoretische Physik - Simulation neuer Materialien, widmet sich seit seiner Bachelorarbeit an der TU Chemnitz der Modellierung der Ausbreitung von Wellen in Kristallgittern. Dabei diente das Kunstwerk „Denk- und Wahrnehmungsmodell zum Phänomen der Farbe“ in mehreren Fällen als Inspirationsquelle für wissenschaftliche Untersuchungen. Foto: Bildarchiv der Pressestelle und Crossmedia-Redaktion/Lili Hofmann -
Inspiriert von der künstlerischen Idee von Stefan Nestler, haben Forschende der Natur- und Ingenieurwissenschaften in den vergangenen Jahren am Kunstwerk zusammengearbeitet und sowohl Simulationen als auch umfangreiche Messungen zur Streuung verschiedener Wellenarten durchgeführt. Dabei kam auch Hochfrequenztechnik (Hornantenne und logarithmische Breitbandantenne) zum Einsatz, um die Eigenschaft der Stelenanordnung als photonischer Kristall nachzuweisen. Foto: David Röhlig -
Die Arbeit der Forschenden zeigt, dass durch den ungewöhnlichen, durch ein Kunstwerk inspirierten Ansatz auf zweierlei Weise Perspektivwechsel möglich sind. Zum einen konnte ein hauptsächlich in der Nanowelt betrachtetes Phänomen in der Makrowelt wissenschaftlich nachgewiesen werden. Zum anderen wurde gezeigt, dass in einem - eigentlich zweckfrei geschaffenen - künstlerischen Objekt fast drei Jahrzehnte nach dessen Erschaffung ein wissenschaftliche und technische Relevanz innewohnen kann. Foto: David Röhlig -
Kunst am Bau: Das Kunstwerk „Denk- und Wahrnehmungsmodell zum Phänomen der Farbe“ wurde 1998 vom Dresdner Künstler Stefan Nestler vor dem Zentralen Hörsaal- und Seminargebäude der TU Chemnitz errichtet. Foto: Bildarchiv der Pressestelle und Crossmedia-Redaktion/Stefan Becker
Hört man das Wort „Kristall“, so hat man unweigerlich Bilder von edlen Steinen vor Augen, die eindrucksvoll glitzern, funkeln oder mit anderen Farbeffekten einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Doch dieser geläufige Begriff erschöpft sich keineswegs im dekorativen Erscheinungsbild mineralischer Kostbarkeiten. Die aufmerksame Betrachtung eines sonnenbeschienen, irisierenden Schmetterlingsflügels, schillernder Pfauenfedern oder des changierenden Farbeindrucks eines Chamäleons enthüllt nicht nur ästhetische Schönheit, sondern gleichsam die konzeptionelle Raffinesse eines gemeinsamen physikalischen Mechanismus: Oberflächen entpuppen sich als hochkomplexe, im Nanometerbereich strukturierte Muster – für das bloße Auge zwar verborgen, doch mit bemerkenswerter optischer Wirkung. Es handelt sich um sogenannte „photonische Kristalle“, die bestimmte Farbbereiche des Lichtes reflektieren – andere hingegen passieren lassen. Aus dem Zusammenspiel von Streuung, Absorption und Transmission erwächst eine spektrale Abhängigkeit, welche zumindest in der Wahrnehmung die Grenzen zwischen Wissenschaft und Kunst eindrucksvoll verschwimmen lässt. Diese Phänomene beruhen auf der von dem niederländischen Naturforscher Christian Huygens um 1650 gefundenen Wellennatur des Lichts. Erklärt werden können sie mit einer Wechselwirkung der Lichtwellen mit regelmäßigen Strukturen an einer Oberfläche, deren typische Strukturbreite etwa der Wellenlänge entspricht. Diese liegt für sichtbares Licht im Bereich zwischen 400 und 700 Nanometer, also etwa dem Hundertstel des Durchmessers eines Haares (etwa 0,05 Millimeter = 50 Mikrometer). Spektrale Eigenschaften von Pfauenfedern oder anderen regelmäßigen Materialstrukturen lassen sich mit der Wellennatur des Lichtes und Streuung und Transmission also gut erklären, und man spricht folgerichtig auch von photonischen Kristallen.
Im 19. Jahrhundert wurde im Zuge des Aufkommens einer auf elektromagnetischen Funksignalen basierten Kommunikationstechnik entdeckt, dass die Ausbreitung von Signalwellen, die eine deutlich längere Wellenlänge als die des Lichtes aufweisen, ebenfalls den Gesetzen der Wellenphysik unterliegt. Diese konnte beispielsweise die Störung der Signale in hügeligem oder bewaldetem Gelände beschreiben. Zu Ehren des französischen Optikers und Ingenieurs Augustin Jean Fresnel (1788-1827), der die Überlegungen Christian Huygens‘ vervollkommnete, wurden solche Bereiche auch „Fresnel-Zonen“ genannt. Allerdings sind diese in der Regel alles andere als regelmäßig geformt und erfüllen somit nicht die Definition eines photonischen Kristalls.
Ein Chemnitzer Kunstwerk und seine unerwartete Bedeutung für die Wissenschaft
Einem interdisziplinären Team aus Mitgliedern und Angehörigen der Fakultät für Naturwissenschaften, der Fakultät für Elektrotechnik und Informationstechnik sowie des Forschungszentrums für Materialien, Architekturen und Integration von Nanomembranen (MAIN) der Technischen Universität Chemnitz, der Universität Marie & Louis Pasteur in Besançon (Frankreich) und des Fraunhofer-Instituts für Elektronische Nanosysteme (ENAS) ist es nun gelungen, den Spuren Huygens‘ und Fresnels folgend, ein künstlerisches Gebilde aus Menschenhand zu finden, dessen weitgehend regelmäßige Struktur und dessen bislang in ihrer Quantität unbekannten wellenbrechenden Eigenschaften es zur bislang größten in der Fachwelt berichteten Realisierung eines photonischen Kristalls machen. Dieser manipuliert die Ausbreitung von Radiowellen, also elektromagnetischer Wellen im Gigahertz-Bereich, die in der Informations- und Kommunikationstechnik eine wichtige Rolle spielen. Das sind Frequenzbereiche, die für die heutigen Mobilfunkstandards 4G und 5G relevant sind.
Die Rede ist vom Kunstwerk „Denk- und Wahrnehmungsmodell zum Phänomen der Farbe“, einem Werk des Dresdner Künstlers Stefan Nestler, das seit 1998 den Vorplatz vor dem Zentralen Hörsaal- und Seminargebäude der TU Chemnitz an der Reichenhainer Straße 90 ziert. Es besteht aus 187 unterschiedlich hohen senkrecht ausgerichteten, regelmäßig angeordneten, im Außenmaß quadratischen und hohlen Stahlstelen, die eigentlich für die Farben aus der sogenannten RAL-Farbskala stehen, die in industriellem Rahmen sowie in der Architektur als Vergleichsmuster eingesetzt werden. Zudem ist dem Stelenkunstwerk eine Glastafel beigestellt, in der ein Zitat des Philosophen Ludwig Wittgenstein (1889-1951) eingraviert ist, was das Nachdenken über die ideale Repräsentation von Farbe beinhaltet und mit den Worten schließt: „Denn vergiss auch nicht, dass Dein Blick schweift und es nicht die Beschreibung dessen gibt, was Du siehst.“
Wie das Team der Forschenden aus Chemnitz und Besançon aktuell in einem Fachartikel in der interdisziplinären Zeitschrift „Scientific Reports“ des Wissenschaftsverlages Springer Nature Portfolio berichtet, versinnbildlicht das Kunstwerk nicht nur eine abstrakte Darstellung von Farben, sondern es bewerkstelligt auch ganz praktisch eine „farbselektive“ Übertragung der Radiowellensignale. Analog etwa zum Farbenspiel eines Schmetterlingsflügels – wenngleich auf einer erheblich erweiterten Größenskala – unterliegen elektromagnetische Wellen bestimmter Frequenzen, die im Bereich der sogenannten Bandlücke liegen. Diese definiert ein Ausbreitungsverbot der Wellen innerhalb der Materialstruktur, sie werden also reflektiert. Ganz klassisch also das Verhalten, was man für einen photonischen Kristall erwartet.
Völlig unvermutet hat die Europäische Kulturhauptstadt Chemnitz 2025 also ein Kunstwerk zu bieten, welches auch nach eingehender wissenschaftlicher Betrachtung Maßstäbe setzt. So wird Chemnitz 2025 nicht nur zur Bühne für Kunst und Kultur, sondern auch zum Schauplatz einer überraschenden wissenschaftlichen Entdeckung – die ganz im Sinne von Lichtenbergs Zitat zeigt, in welche ungeahnte Vielschichtigkeit unsere menschliche Vorstellung von Farbe wirklich gehen kann.
Das Vorhaben wurde durch die TU Chemnitz im Rahmen der TUCculture2025-Initiative (Projekte „Chemnitz: Holz, Licht, Schall“ und „Wellenspiele“), den Freistaat Sachsen (Sächsisches Landespromotionsstipendium) und die französische Region Bourgogne-Franche-Comté gefördert.
Stimmen aus der TU Chemnitz zur wissenschaftlichen Entdeckung:
David Röhlig, Doktorand an der Professur Theoretische Physik – Simulation neuer Materialien der TU Chemnitz, Stipendiat: “Diese Arbeit ist ein schönes Beispiel dafür, wie eine anfangs utopisch anmutende Idee durch interdisziplinäre Kooperation Wirklichkeit wird.”
Prof. Dr. Angela Thränhardt, Inhaberin der Professur Theoretische Physik - Simulation neuer Materialien und Dekanin der Fakultät Naturwissenschaften der TU Chemnitz: „Es ist schon bemerkenswert: Mitten in der Kulturhauptstadt Chemnitz, sogar auf Uni-Campus, öffnet ein Kunstwerk ein echtes Fenster in die Welt eines physikalischen Grundprinzips – das der Ausbreitung von Wellen in photonischen Kristallen.“
Prof. Dr. Ralf Zichner, Inhaber der Professur Hochfrequenztechnik und Allgemeine Elektrotechnik der TU Chemnitz: „Interdisziplinäre Zusammenarbeit eröffnet neue Perspektiven und fördert Innovation. Dieser Austausch zwischen Disziplinen ermöglicht es uns, neue Erkenntnisse zu gewinnen und bestehende Grenzen des Wissens zu überwinden.“
Dr. Thomas Blaudeck, Geschäftsführer des Forschungszentrums für Materialien, Architekturen und Integration von Nanomembranen: „Die Arbeit ist ein schönes Beispiel dafür, wie Neugier und Serendipität, also die vertiefte Beobachtung und Beschreibung von etwas nicht vorab Gesuchtem und die intellektuelle Auseinandersetzung damit, Wissenschaft ausmachen können.“
Originalveröffentlichung: David Röhlig, Vincent Laude, Ralf Zichner, Felix Thieme, Angela Thränhardt und Thomas Blaudeck „Radio wave attenuation by a large-scale photonic crystal sculpture“, Scientific Reports 15, 12317 (2025), DOI 10.1038/s41598-025-95986-9.
Veranstaltungshinweis: Das Kunstwerk „Denk- und Wahrnehmungsmodell zum Phänomen der Farbe“ von Stefan Nestler lädt auch zum TUCtag 2025 am 10. Mai zu Mitmachexperimenten im Rahmen des TUCculture2025-Projekts „Wellenspiele“ ein. Diese sollen Lust auf ein Studium im Spannungsfeld der Natur- und Ingenieurwissenschaften an der TU Chemnitz machen und finden von 14:00 bis 17:45 Uhr am Kunstwerk vor dem Zentralen Hörsaal- und Seminargebäude der TU Chemnitz, Reichenhainer Str. 90, statt.
Weitere Informationen erteilen Dr. Thomas Blaudeck, Telefon +49 (0)371 531-35610, E-Mail thomas.blaudeck@main.tu-chemnitz.de, und Prof. Dr. Angela Thränhardt, Telefon +49 (0)371 531-37636, E-Mail angela.thraenhardt@physik.tu-chemnitz.de.
(Autor: Dr. Thomas Blaudeck)
Mario Steinebach
17.04.2025