Diplomarbeit im "Land der Regeln"
Maschinenbaustudent Philipp Siegel führte bei einem sechsmonatigen Aufenthalt in Japan Versuche für seine Diplomarbeit durch - ein Erfahrungsbericht
Bild oben: Anwendungstechniker von Mori Seiki und Diplomand Philipp Siegel (r.) messen die Prozessenergie beim Drehfräsen. Foto: Philipp Siegel Bild unten: Philipp Siegel mit den Bogenschützen der Universität Tsu. Foto: Takato Ota |
Mit dem Flugzeug von Dresden über Frankfurt entlang der transsibirischen Eisenbahn, vorbei an den Öl- und Gasfeldern in Sibirien, Ulan Bator, Peking mit einem Umweg um Nordkorea ging es im Oktober 2009 nach Nagoya. Vor mir lagen sechs Monate beim Werkzeugmaschinenhersteller Mori Seiki Co., Ltd. am Produktionsstandort auf der japanischen Hauptinsel Honshu nahe Iga-City. Der Nagoya Airport liegt landestypisch auf einer künstlichen Insel im Meer. Am Flughafen wurde ich durch einen Chauffeur (mit Mütze und weißen Handschuhen) freundlich empfangen und samt meiner Fahrradkiste nach Iga chauffiert. Die Fahrt führte über endlose Brücken und Highways, über künstliche Inseln mit Häfen, imposante Industrieanlagen und Freizeitparks in der Ise-Bucht. Gleich nach der Ankunft bekam ich meine Sushi Box und das Stäbchentraining konnte beginnen.
Ziel des Aufenthaltes waren Versuche für meine Diplomarbeit am Institut für Werkzeugmaschinen und Produktionsprozesse der TU Chemnitz zum Thema "Prozessbezogene, energetische Vergleichbarkeit spanender Werkzeugmaschinen". Betreut wurde ich von Morihiro Hideta (Mori Seiki Co., Ltd.) sowie Markus Richter und Jörg Paetzold (Professur für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik der TU Chemnitz). Messungen zur Untersuchung des Energieverbrauchs sowie die Ermittlung energieeffizienter Schnittparameter von spanenden Werkzeugmaschinen standen auf dem Programm.
In der ersten Woche wurde ich im Einzelunterricht an die japanische Arbeitsweise und die strikten Abläufe herangeführt - Uniform, Frühsport, Arbeitssicherheit, Parolen, Reports, Vorträge und vor allem: Regeln! Anschließend war ich noch drei weitere Wochen zur Ausbildung an der Mori Seiki University und wurde umfassend in Programmierung und Bedienung an NC-Drehmaschinen und -Bearbeitungszentren sowie zum JIS, dem japanischen Pendant zur DIN, geschult. Mein üblicher Tagesablauf begann um 8.20 Uhr mit dem Spruch des Tages aus krächzenden Lautsprechern. Es folgte der obligatorische Frühsport zu Pianomusik mit Instruktor: Alle Mitarbeiter finden sich geordnet nach Abteilungen an verschiedenen Freiflächen in den Werkhallen und Büros zur landesweit genormten Morgengymnastik ein. Nun folgte die kollektive fünfminütige Reinigung des Hallenbodens mit weißen Tüchern und danach der Morgenappell mit Arbeitssicherheitsparole. Alle Mitarbeiter berichten kurz vom Stand ihrer aktuellen Arbeit, im Anschluss werden bis 8.45 Uhr Sicherheitsanweisungen erklärt und gemeinsam laut repetiert. Neben dem Führen des Arbeitstagebuches gehörte ein dreiminütiger Vortrag über die Arbeit des Vortages inklusive der neu erlernten Arbeitsschutzparolen zu meinen täglichen Pflichten. Bei meiner allmorgendlichen Ansprache waren teilweise bis zu fünf Lehrkräfte anwesend.
Denn Japan ist auch das Land der Unfallverhütung, Gefahrenabwehr, Arbeitssicherheit und der totalen Organisation: Safety First - Goanzen ni! Beim Betreten der Werkhallen besteht Helmpflicht und die Mitarbeiter können die optimale Laufgeschwindigkeit in der Werkhalle mit einer Lichtschrankenanlage kontrollieren. Auf Autobahnen gelten Geschwindigkeitslimits von 80 Kilometern pro Stunde - die Straßenwacht fährt mit 60 km/h und trägt Helm auch im Auto. Fußgängerampeln in Großstädten, Parkplätzen von Einkaufszentren, Spielcasinos oder sonstige Hindernisse werden durch unermüdlich fahnenschwenkende Mitarbeiter signalisiert und gesichert - bei Baustellen sind oftmals mehr Fahnenschwenker als Bauarbeiter im Einsatz.
Nach der Abschlussprüfung an der Mori Seiki University durfte ich endlich in der Fachabteilung "Cutting Technology" mit meinen Versuchsvorbereitungen beginnen. Die strengen Hierarchieebenen mit jeweils extrem eingeschränkten Befugnissen und die oftmals theoretischen Englischkenntnisse meiner Kollegen, die mit mir meist durch ihre Pocket Translator kommunizierten, erschwerten meine Arbeit erheblich. Japan ist das Land der Regeln - alles was organisiert und reglementiert ist, funktioniert. Vieles ist allerdings auch "verboten". Für meinen studentischen Aufenthalt gab es noch keine festen Regularien. Selbst einfachste für mich essentielle und mit Nachdruck verfolgte Anfragen, zum Beispiel nach einer dauerhaften Internetverbindung am Büroarbeitsplatz, versandeten stets im Geflecht der Zuständigkeiten und Verhaltensregeln. Denn die japanische Kultur der grenzenlosen Hilfsbereitschaft gepaart mit der Unfähigkeit aus Angst vor Gesichtsverlust "Nein" zu sagen, führte auch mich regelmäßig in die Bredouille. Bei Fragen in Geschäften bekam ich oftmals ein Mobiltelefon mit einem vermeintlich englischsprechenden Bekannten des Verkäufers in die Hand gedrückt. Als höflicher Mensch kann man da doch nicht einfach gehen, wenn der Verkäufer nach zwei erfolglosen Telefonübersetzungsversuchen emsig schon den dritten vermeintlich englisch sprechenden Bekannten anwählt.
Was die Arbeitszeit und vor allem den Arbeitsschluss angeht herrscht hier Gruppenzwang. Die Arbeitszeit endete offiziell um 17.30 Uhr mit der Lautsprecherdurchsage: "Vielen Dank für Ihre Arbeit. Die Arbeitszeit ist nun zu Ende. Bitte schnallen Sie sich an und halten Sie sich an die Geschwindigkeitsbegrenzungen." Doch die kollegial-optimale Uhrzeit zum Verlassen des Büros lag für mich und meine Abteilung bei zirka 19.45 Uhr. Dies konnte sehr einfach an den Blicken meiner Kollegen beim Gehen ermittelt werden. Mehr als die Hälfte meiner Kollegen war auch gegen 20.30 Uhr noch fleißig. Ab 22 Uhr wird im Anschluss an die energischere "Büro verlassen!"-Durchsage noch fünf Minuten laute Musik eingespielt. Kurz darauf durchquert ein Wachmann mit Pickelhaube das Großraumbüro - der harte Kern verlässt dann gegen 22.30 Uhr die Arbeitsstätte. Kein Wunder - ein Großteil meiner Kollegen wohnt wie ich auf 20 Quadratmetern "all inclusive" in einem der firmeneigenen Wohnheime auf dem Betriebsgelände. So mancher geht auch gern sonntags noch mal ein paar Stündchen ins Büro. Und für viele meiner Kollegen stellt sich die Frage nach Freizeitaktivitäten oder Hobbys gar nicht erst.
Trotz der straffen Arbeitswoche war ich an den Wochenenden viel unterwegs: Zum Beispiel im beschaulichen Iga, der Ninja Hauptstadt Japans. Die Ninjas waren früher die James Bonds unter den Kriegern. Es gibt ein Ninja Museum, Ninja Häuser mit Falltüren, Schwertverstecken, drehbaren Wänden, geheimer Zwischendecke und jede Menge praktische Ninja Werkzeuge zum Öffnen, Klettern, Lauschen, Verstecken und Flüchten. Auf meinen Ausfahrten mit dem Rad in die alten Haupstädte Nara und Kyoto oder nach Suzuka, Tsu, Ise und zum Biwa See, dem größten Binnensee Japans, hab ich nicht nur unzählige Tempel, Schreine, Burgen und Palastanlagen sondern auch viel vom Leben und der Feldarbeit der Landbevölkerung gesehen. Notwendige Entspannung bieten die vielen Onsen, natürliche heiße Quellen, und Sentos, die Badeanstalten mit ihren Sitzduschen und brodelnden Heißwasserbecken. Und die sind wie viele Geschäfte sieben Tage die Woche bis Mitternacht geöffnet. Nur Museen schließen in Japan meist schon um 17 Uhr. Als einziger Ausländer und ohne japanische Sprachkenntnisse war ich unterwegs stets auf englischsprechende Mitmenschen angewiesen. Bei ausgedehnten Ausfahrten weitab der bevölkerungsreichen Metropolen entlang der vielen Reisterrassen und Teefelder und durch unbebaubare Gebirgslandschaften mit tiefen Tälern und langen Tunneln waren einfachste Fragen nach dem Weg ohne Papier, Stift und kreative Zeichnungen nicht möglich.
Trotz meiner umfassenden Erfahrung im fremdsprachigen Ausland und intensiver interkultureller Vorbereitung war das bisher mein aufregendster aber auch höchst anstrengendster Auslandsaufenthalt. Ich habe bei meinem Aufenthalt neben den Versuchsergebnissen sehr viel vor allem an praktischer Erfahrung in Maschinenprogrammierung und -bedienung gewonnen und den kontrollierten Arbeitsalltag in einem typisch japanischen Unternehmen erschlossen und gelebt. Japan ist ein schönes, kulturell noch reiches Land und immer eine Reise wert. Alle Menschen sind sehr zuvorkommend und nett und die japanische Küche kann ich sehr empfehlen: Reis, Fisch und Gemüse in allen Aggregatzuständen, früh, mittags und abends. Nach Abschluss meiner Versuche zur Zeit der Kirschblüte besuchten mich Freunde aus Chemnitz und wir unternahmen eine intensive Rundreise mit Besteigung des Mount Fuji und einem spontanen Abendessen bei der Familie eines Austernfischers.
(Autor: Philipp Siegel)
Kontakt:
Studierenden, die sich ebenfalls für einen Aufenthalt in Japan interessieren, steht Philipp Siegel gern Rede und Antwort: philipp.siegel@s2000.tu-chemnitz.de.
Impressionen zu vielen Erlebnissen in Japan gibt es in seinem Fotoblog: http://www.fbs-zwickau.de/shiegel-san
Katharina Thehos
01.06.2010