Ein besonderer akademischer Austausch
Michael Giesen, Absolvent der Politikwissenschaft, berichtet von seinem Aufenthalt an der Hebräischen Universität in Jerusalem
Im Herbst 2012 waren mehrere Studierende sächsischer Universitäten im Rahmen eines Forschungsstipendiums an der Hebräischen Universität in Jerusalem, um neben akademischen Erkenntnissen einen eigenen Eindruck von Land und Leuten zu gewinnen. Ermöglicht wurde dies durch die mittlerweile langjährige Kooperation der Hochschulen des Freistaates Sachsen mit ihren Partnereinrichtungen in Israel. Michael Giesen, inzwischen Absolvent der TU Chemnitz, berichtet von seinen Erlebnissen zwischen israelischer Gastfreundschaft, mediterraner Gelassenheit und Raketenwarnungen.
Als sich nach zwei Monaten meine Tage auf dem Mt. Scopus-Campus der Hebräischen Universität dem Ende zuneigten, wollte ich nochmals die Gelegenheit nutzen, um einen Blick Richtung Norden auf die abendlichen Hügel der Palästinenser Gebiete zu werfen. Für einen besseren Ausblick ging ich an den Seiten des Campushügels etwas bergab in Richtung der ersten arabischen Siedlungen des Tals. Von einer Anhöhe aus sieht man neben der Sperrmauer einzelne Mehrfamilienhäuser und am Horizont die Lichter von Jericho. Neben mir wollten offensichtlich auch noch ein halbes Dutzend israelischer Polizisten diese Aussicht genießen, schienen sich aber, als sie mich entdeckten, für eine andere Beschäftigung entschieden zu haben: "Slicha… What do you want here?", war ihre erste Frage, als sie mit Maschinengewehren im Anschlag auf mich zu kamen. "You shouldn´t be here!" Da ich vorher schon öfters ohne Probleme hier war, wurde mir es wieder bewusst - vor allem jetzt ist "hier" nicht irgendein Ort. Hier ist ein heiliger Ort aller drei monotheistischen Weltreligionen, ein Ort der Vielfalt und des Konflikts und ein Ort, an dem auch heute wieder Luftschutzsirenen aufheulten. Und morgen sollte in Tel Aviv in einem Bus eine Bombe detonieren. Dieses Bewusstsein stand plötzlich im starken Kontrast zu den friedlichen Wochen zuvor, in denen sich mir ein anderer israelischer Alltag zeigte.
Ich kam Anfang Oktober am Tel Aviver Ben Gurion Airport an und wurde gleich von der immer noch zu dieser Jahreszeit üblichen stickigen Wärme der Mittelmeermetropole empfangen. Im Sammeltaxi und mit israelischen Pop-Rhythmen ging es nach Jerusalem, dieser Jahrtausende alten Stadt, die sich in allmählich karger werdende Hügelketten schmiegt und langsam nach den hohen Feiertagen Rosch ha-Schana, Jom Kippur und Sukkot wieder zu erwachen schien. Mein Ziel war der Skopus-Hügel am nördlichen Rand der Stadt mit dem Hauptcampus der Hebräischen Universität samt Student Village, das für die nächsten zwei Monate mein Zuhause werden sollte.
Ein Land voller Kontraste
Der Campus hatte diesen Namen wirklich verdient. Von außen wirkte der große zusammenhängende Gebäudekomplex wie eine Trutzburg, die sich nicht nur gegen die frischen Novemberwinde behaupten müsse. Im Inneren zeigte sich jedoch neben den verwobenen Betongängen und kleinen Seminarräumen ein schönes Geflecht aus grünen Parkanlagen. An die Eingangskontrollen vor der Uni und dem Wohnheim inklusive regelmäßiger Taschenkontrollen und Metalldetektoren gewöhnt man sich schnell, zumal sich bei mir der Eindruck verfestigte, dass diese Kontrollen eher dem allgemeinen Sicherheitsgefühl dienten, als ernsthaft nach Sprengstoff und Waffen zu suchen. Vor meiner Ankunft hätte ich diese Szene als grotesk abgestempelt. Dann jedoch selber vor den Erinnerungssteinen der Opfer des Anschlags in der Cafeteria vor zehn Jahren zu stehen und trotzdem zu sehen, wie sich fröhliche Menschenmassen durch die Höfe und Flure der Uni schieben, hat mich anfangs erahnen und später spüren lassen, wie wichtig selbst so ein - möglicherweise grotesk erzeugtes - Gefühl sein kann.
An der Uni habe ich mich mit Legitimationsmerkmalen internationaler parlamentarischer Versammlungen beschäftigt. Diese parlamentarischen Institutionen sind Versammlungen von Abgeordneten verschiedener nationaler Parlamente, deren Staaten Mitglieder in Internationalen Organisationen wie dem Europarat oder der OSZE sind und von der Öffentlichkeit zwar meist unbemerkt, aber nicht minder wichtige demokratische Prozesse auf internationaler Ebene begleiten. Durch meine Konzeptualisierung mit verschiedenen Kriterien und Skalen der unterschiedlichen Qualität von Legitimationsmerkmalen dieser Versammlungen habe ich den Rahmen erfasst, den die Mitgliedsstaaten durch Satzungen und Verträgen den Versammlungen setzen. Zudem untersuchte ich, ob es dieser Rahmen den Abgeordneten ermöglicht, effektiv ihre besondere demokratische Qualität in die internationale Staatenwelt umzusetzen. Die Versammlung des Europarats hat vis-a-vis der OSZE dafür mehr und bessere Möglichkeiten der Einflussnahme, erfüllt demokratietheoretische Erwartungen aber auch nicht. Ein beispielhafter Blick auf die anfänglichen Kooperationen des israelischen Parlaments, der Knesset, zu diesen Versammlungen zeigt jedoch die Potentiale von Dialog und Sozialisation für die Konfliktlösung.
In Israel sind jedoch nicht nur die Leute mit ihren Hintergründen, Konflikten und Ansichten so vielzählig und kontrastreich wie an wenigen anderen Orten auf der Welt, sondern auch die Landschaft. Mit einer anderthalbstündigen Busfahrt von Jerusalem Richtung Südwesten kommt man nach Be´er Sheva an den Rand der Negev-Wüste und kann dort nicht nur einen Beduinenmarkt antreffen, sondern auch Regionalzüge, die genauso gut zwischen Chemnitz und Dresden verkehren könnten. Eine Stunde nach Osten ist 420 Meter unter dem Meeresspiegel das Tote Meer, das sich zwischen den schroffen vegetationslosen Hügeln des Westjordanlandes dahinstreckt und den Blick auf die steilen Berge auf jordanischer Seite freigibt. Mit einer dreistündigen Autofahrt gen Norden erreicht man die saftig grünen Ebenen des Jordanflusses und will nicht glauben, dass ein paar Kilometer östlich auf syrischer Seite ein blutiger Bürgerkrieg herrscht. Und schließlich kommt man in weniger als einer Stunde nach Westen an das Mittelmeer - nach Tel Aviv in das pulsierend moderne und wirtschaftliche Herz Israels. Die Stadt, von einigen Siedlungen abgesehen gerade etwas über einhundert Jahre alt, prägen Hochhäuser, vielspurige Straßen, unzählige Bäume und eine quirlige Menschenmenge, die zu jeder Zeit die Cafés und den breiten Strand bevölkert. Nur von Sonnenuntergang am Freitagabend bis zum erneuten Sonnenuntergang tags darauf legt die öffentliche Betriebsamkeit eine Pause ein.
Ein Leben zwischen Alltag und Bedrohung
Als ich in Tel Aviv an den Füßen der Wolkenkratzer entlang ging, kamen mir die Berichte und Kommentare der einschlägigen Korrespondenten in den Sinn, die beschrieben, was im Falle eine Luftangriffes etwa von iranischer Seite mit dieser Skyline passieren würde. Dass ich einige Wochen später während den Nachrichten wieder an diesen Moment denken müsste, konnte ich nicht ahnen. Jedoch kamen die Raketen dieses Mal von der Hamas. Am Anfang hatten die Nachrichten für mich noch keine besondere Qualität, da der Beschuss und die israelischen Antworten schon über die letzten Wochen und Monate zugenommen hatten. Da die Situation jedoch weiter eskalierte, bekamen wir von Seiten der Universität täglich Informationen und Hinweise zum Umgang mit der Lage, mussten diese aber glücklicherweise kaum umsetzen, da Jerusalem weitestgehend außerhalb des Einzugsbereichs der Raketen lag. Die ganze Situation wirkte auf mich anfangs unwirklich, da der Alltag normal weiterging. Die Atmosphäre auf den Straßen war zwar etwas angespannter, aber von den eigentlichen Auseinandersetzungen bekam man nur etwas über die Medien mit.
Am Ende meines Aufenthaltes hatte ich so die zwei Seiten des israelischen Alltags gesehen. Ein Leben zwischen normalem Alltag mit all seiner Vielfalt auf der einen und unterschwelliger Bedrohung und Gewalt auf der anderen Seite, wie es ein Professor bei einem Vortrag zur aktuellen Sicherheitslage prägnant ausdrückte. In diesem Spannungsfeld wird der Blick auf Europa, das in diesem Moment weit weg ist, ein anderer. Nämlich auf ein Europa als Hochburg des Friedens und der sozialen Absicherung, das sich selber viel zu oft gering schätzt, für viele andere aber so eine besondere Anziehungskraft hat.
(Autor: Michael Giesen)
Studierenden, die sich ebenfalls für einen Aufenthalt in Jerusalem interessieren, können sich bei zwei Stipendiaten des vergangenen Jahres, Michael Giesen und Christin Becker, informieren: michael.giesen@s2009.tu-chemnitz.de, christin-diana.becker@s2007.tu-chemnitz.de.
Betreut wird das Austauschprogramm von Prof. Dr. Johannes Kopp, Inhaber der Professur für empirische Sozialforschung: Telefon 0371 531-33925, E-Mail johannes.kopp@soziologie.tu-chemnitz.de. Er nimmt auch Bewerbungen für einen Aufenthalt in Jerusalem im Jahr 2013 entgegen, die schnellstmöglich eingesandt werden sollten.
Katharina Thehos
01.03.2013