Zehn Irrtümer zur Schuldenkrise
Man muss nicht jeden retten: Prof. Dr. Friedrich Thießen, Professor für Finanzwirtschaft und Bankbetriebslehre, wirft eine andere Sicht auf die Versuche, hochverschuldeten Staaten zu helfen
Krisen im Finanzsektor sind häufig. Aber die derzeitige Staatsanleihenkrise beschäftigt mehr Menschen, als es bei Krisen sonst üblich ist. Die Menschen ängstigen sich jedoch über Dinge, die nicht schlimm sind und übersehen Zusammenhänge, welche Bedeutung haben. Prof. Dr. Friedrich Thießen, Professor für Finanzwirtschaft und Bankbetriebslehre an der Technischen Universität Chemnitz, beschreibt zehn populäre Irrtümer:
Irrtum 1: Wenn ein Land vor dem Bankrott steht, muss man ihm helfen.
Hilfe hört sich immer prima an, muss aber gut durchdacht werden. Zahlungen an eine Regierung, welche dazu benutzt werden, sich selbst und Freunde zu bedienen (Korruption und Vetternwirtschaft), sind nicht sinnvoll. Länder, die vor dem Bankrott stehen, haben oft Strukturprobleme und müssen einen Strukturwandel durchleben. Der wird von diesen Ländern gern aufgeschoben. Die Hilfe sollte dazu dienen, den Strukturwandel zu befördern. Aber welche Struktur für ein Land die beste ist, ist von außen oft schwierig zu erkennen. Von außen aufgezwungene Strukturen können katastrophale Folgen haben. Deshalb kann es günstiger sein, einem Land kein frisches Geld zu geben, sondern eher einen Schuldenerlass zu vereinbaren und es den Strukturwandel selbst bewältigen zu lassen.
Irrtum 2: Staaten haben den Willen, ihre Schulden zu bedienen, aber können leider nicht.
Diese Vorstellung ist grundfalsch. Es gab lange einen Streit unter Wissenschaftlern, ob Staatsschuldenkrisen eher etwas mit Belastungen eines Landes mit Zinsen und Tilgungen zu tun haben oder mit einem fehlenden Willen, Kredite zurückzuzahlen. Empirische Untersuchungen zeigen, dass es praktisch keine Korrelation zwischen Belastungsfaktoren und Staatspleiten gibt. Staatspleiten sind also unabhängig davon, ob Staaten hoch oder wenig belastet sind. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass Staatspleiten eher etwas mit dem "nicht zahlen wollen" als mit dem "nicht zahlen können" zu tun haben. In einigen Ländern reichen schon geringe Ausmaße an Bedrängnis aus, dass sie sich Luft auf Kosten ihrer Gläubiger verschaffen. Sie klagen, sie seien hoch belastet, aber in Wirklichkeit wollen sie nicht zahlen. Daher rührt die berechtigte Angst, dass, wenn ein Land ein Moratorium anfängt, die anderen schnell erklären, wir auch.
Irrtum 3: Schuldnerländer sparen, wo sie nur können.
Diese Vorstellung ist falsch. Gespart wird begrenzt. Empirische Untersuchungen zeigen, dass Staatsmoratorien etwas mit Korruption zu tun haben. In der Korruptionsklasse von Griechenland (Wert 3,5 der Skala von Transparency International) zahlt die Hälfte aller Länder ihre Schulden nicht zurück. In der Korruptionsklasse von Spanien, Portugal und Zypern sind es immer noch rund ein Viertel aller Staaten, die ihre Schulden nicht zurückzahlen. In korrupten Ländern herrschen Clansysteme. Familien und Sippen sind wichtig, weil die Staaten meist unzuverlässig sind. Der Staat dient nur dazu, Gelder zu verteilen und ausgeplündert zu werden. Deshalb wird in solchen Ländern schnell behauptet, es sei unzumutbar zu sparen. Solange die Haushaltsdefizite bestehen, fließt mehr Geld an die Sippen.
Irrtum 4: Wenn es zu einer Staatspleite kommt, dann werden die Lasten gleichmäßig und gerecht auf alle verteilt.
Diese Vorstellung ist falsch. Staatspleiten sind häufig in korrupten Staaten zu finden. Diese haben gar kein Interesse, Lasten gerecht zu verteilen. Wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass ein Unterschied zwischen Inlands- und Auslandsschulden gemacht wird. Ausländer werden sehr gerne zuerst nicht mehr bedient, bevor die Inländer dran kommen. Der Grund liegt in den Clansystemen, die in korrupten Staaten zumeist herrschen. Die Regierungen der Länder wollen die wichtigen Clans schonen. Die Ausländer gehören nicht dazu.
Irrtum 5: Die Regierungen der finanzschwachen Länder tun das Beste für ihr Land.
Diese Vorstellung ist falsch. Regierung und Land sind zwei unterschiedliche Dinge. Die Wissenschaft hat herausgefunden, was mit Regierungen passiert, wenn es zu einem Staatsbankrott kommt. Ergebnis: Die Regierung wird abgewählt. Das heißt, vor einem Staatsbankrott hat man es mit den alten, "sterbenden" Regierungen zu tun. Diese tun nicht unbedingt das, was für ihr Land das Beste ist, sondern was für sie selbst gut ist. Das kann auch bedeuten, dass ein notwendiger Strukturwandel verhindert wird, dass die alte Klientel weiter bedient wird, dass die Vettern und Verwandten mit den letzten verfügbaren Geldern versorgt werden. Das kann für die Sippen ertragreicher sein, als eine unsichere Reform anzufangen.
Irrtum 6: Es ist gut, Hilfskredite zu geben. Dann hat man Einfluss und kann Bedingungen stellen.
Diese Vorstellung ist falsch. Seit etwa 100 Jahren marschieren Gläubiger nicht mehr in Schuldnerländern ein, um ihr Geld zurückzuholen. Das wissen auch die Schuldnerländer. Sie sind derzeit praktisch nicht haftbar zu machen. Vor der Kreditgewährung zeigen sie sich geschmeidig, danach störrisch. Die vertraglichen Regelungen europäischer Hilfskredite des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) u. a. sind bei der Frage der Durchsetzung der Bedingungen extrem schwach formuliert. Der Grund: Die EU will sich nicht mit unpopulären und undurchsetzbaren Forderungen die Finger verbrennen. Dies sollen die Gläubigerländer wie Deutschland und Holland selbst erledigen. Aber auch die haben natürlich keinerlei Druckmittel. Bei Krediten an Staaten ist man praktisch machtlos. Hilfskredite sind deshalb eher Geschenke als Kredite. In kleinen Größenordnungen kann man sie geben, in großen wäre es Selbstmord. Deshalb ist es richtig, die Bevölkerung an Hilfsmaßnahmen zu beteiligen.
Irrtum 7: Wachstum ist der schnellste Weg aus der Krise.
Diese Vorstellung ist falsch. Die These lautet, dass man den schwachen Ländern mit frischem Geld helfen müsse, damit sie über Wachstum den Strukturwandel besser bewältigen könnten. Richtig ist, dass die frischen Gelder nur dann den richtigen Strukturwandel beflügeln, wenn sie genau die Struktur hätten, welche das Land nach dem Strukturwandel aufweist. Aber diese Struktur kennt anfänglich keiner. Was ist die optimale Struktur für ein korruptes Land wie Griechenland? Wird die Landwirtschaft neu belebt? Wird das Land ein Hochtechnologieland? Die neue Struktur entwickelt sich erst im "Wettbewerb als Entdeckungsverfahren". Wenn man den alten Regierungen frisches Geld gibt, dann ist die Gefahr sehr groß, dass sie die Gelder in die alten Kanäle leiten. Dann werden nur alte Strukturen noch länger am Leben erhalten. Das Geld verpufft.
Irrtum 8: Wenn die schwachen Länder pleitegehen, kommt der große Crash.
Diese Vorstellung ist wahrscheinlich falsch. Wenn ein Schuldner pleite ist und seine Zahlungen einstellt, dann ist ein allgemeiner Crash nicht zwingend. Der Gläubiger muss in diesem Fall in den sauren Apfel beißen und seine Verluste hinnehmen. Wenn er panikhaft reagiert, wird alles nur noch schlimmer. Das Gute ist: Der Schuldner ist entschuldet. Die Erfahrungen zeigen, dass es wieder aufwärtsgeht. Ein Schuldenmoratorium ist meist der Beginn eines Aufschwungs. Das wissen die Gläubiger. Deshalb sind Panikreaktionen unlogisch.
Irrtum 9: Der Euro ist in Gefahr.
Diese Vorstellung ist falsch. Der Euro ist eine Währung, und eine Währung ist etwas anderes als ein Schuldner. Der Euro hat sich bis heute als stabil und verlässlich erwiesen. Alle Indikatoren, an denen man den Erfolg einer Währung messen könnte, zeigen positive Werte. Wenn es zu einem Staatsmoratorium kommt, dann betrifft das Beziehungen zwischen einem Schuldnerland und Gläubigern. Der Euro ist davon nicht betroffen - es sei denn, die Europäische Zentralbank (EZB) hat zu viele Risiken der Schuldnerländer in ihren Büchern.
Irrtum 10: Schwache Länder brauchen eine eigene Währung.
Diese Vorstellung ist falsch. In korrupten Ländern ist die Zentralbank erfahrungsgemäß eine Marionette der Regierung. Es käme zum Anwerfen der Druckerpresse. Die Inflation würde rasant steigen. Das Misstrauen nähme zu. Kapitalflucht und Destabilisierung wären die Folgen. Die Menschen in den Ländern würden sich nach einem Euroaustritt nichts sehnlicher wünschen als eine stabile Währung.
Fazit: Staatsschuldenkrisen haben viel mit gesellschaftlichen Problemen (Korruption, falsche Wirtschaftsstrukturen) zu tun und wenig mit dem Euro. Einen Crash muss es nicht geben, dazu sind die Strukturen zu durchsichtig. Aber dass niemand Geld verlieren wird, ist auch nicht zu erwarten. Die Gläubiger werden für ihre leichtsinnige Kreditvergabe an schwache Länder noch bestraft werden, denn einen Willen von Staaten, unbedingt zurückzuzahlen, gibt es nicht.
Weitere Informationen erteilt Prof. Dr. Friedrich Thießen, Professur Finanzwirtschaft und Bankbetriebslehre, Telefon 0371 531-26190, E-Mail friedrich.thiessen@wirtschaft.tu-chemnitz.de.
Hinweis: Unter dem Motto "Einspruch - Standpunkte zum Streiten" veröffentlicht die "Freie Presse" in der Ausgabe vom 23. März 2013 diesen Beitrag von Prof. Thießen. Unter dieser Rubrik sollen künftig auch verstärkt kontroverse Meinungen aus Wissenschaft und Gesellschaft öffentlich gemacht werden und die Diskussion anregen. Angehörige der TU Chemnitz, die sich hier auch gern einmal fundiert äußern möchten, sind dazu eingeladen. Kontakt: chefredaktion@freiepresse.de und pressestelle@tu-chemnitz.de.
Mario Steinebach
23.03.2013