Ohne Reichweitenstress ans Ziel
Thomas Franke untersuchte in seiner Dissertation an der TU, wie Elektroautofahrer das Thema Reichweite erleben - Ergebnisse lassen sich potentiell auf Umgang mit begrenzten Ressourcen verallgemeinern
Nutzer mit einer für Deutschland typischen täglichen Fahrleistung kommen gut mit der Reichweite von Elektroautos zurecht. Allerdings ist die optimale Ausnutzung der Reichweitenressourcen durchaus eine Herausforderung für viele Fahrer. Das ist eins der Ergebnisse der Dissertation, die der Psychologe Thomas Franke an der Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften der Technischen Universität Chemnitz abgeschlossen hat. Er zeigt darin auf, dass typischerweise 20 bis 25 Prozent der verfügbaren Reichweitenressourcen von Elektrofahrzeugen als psychologischer Sicherheitspuffer verlorengehen. Assistenzsysteme könnten dabei helfen, diese Lücke zu schließen. "Die Ergebnisse der Dissertation haben hohe Relevanz für die Weiterentwicklung von Elektromobilitätssystemen", schätzt Prof. Dr. Josef Krems ein. Der Inhaber der Professur Allgemeine und Arbeitspsychologie hat die mit "summa cum laude" bewertete Dissertation betreut und betont: "Durch das entwickelte theoretische Rahmenmodell trägt die Arbeit auch ganz allgemein zu einem besseren Verständnis der Interaktion mit begrenzten Ressourcen bei. Und das ist ja ein grundlegendes Thema unserer Zeit."
"Reichweitenerleben ist sehr subjektiv"
Den Ergebnissen liegen mehr als 400.000 Kilometer elektrische Nutzererfahrung zugrunde, die im Forschungsprojekt "MINI E Berlin powered by Vattenfall" absolviert wurden. Das Projekt wurde vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit gefördert. Die Professur Allgemeine und Arbeitspsychologie der TU Chemnitz war neben BMW und Vattenfall sowie weiteren universitären Partnern von Beginn an daran beteiligt. Während der Feldstudie fuhren insgesamt 79 Nutzer den MINI E für jeweils sechs Monate. Die Chemnitzer Psychologen führten mit ihnen zu mehreren Zeitpunkten qualitative Interviews durch. Außerdem kamen Fragebögen, Tagebuchverfahren und Datenlogger zum Einsatz.
"Dabei hat sich gezeigt: Verschiedene psychologische Faktoren tragen dazu bei, dass aus einer bestimmten technisch verfügbaren Reichweite für jeden Nutzer eine andere nutzbare Reichweite wird", sagt Franke und fasst zusammen: "Das Reichweitenerleben ist sehr subjektiv." Das liege zum einen an der Kompetenz im Umgang mit der Reichweite - wer die Reichweitendynamik des Fahrzeuges verstanden hat, kann die Reichweite gezielter kontrollieren. Zum anderen gehe es um die Frage: Wie groß ist der jeweils bevorzugte Sicherheitspuffer? "Da spielt natürlich auch die Persönlichkeit eine Rolle. Also zum Beispiel: Ist ein Nutzer generell davon überzeugt, dass er technische Probleme durch seine Fähigkeiten lösen kann oder dass das eher nur durch Glück oder Zufall geschieht?", erklärt Franke, der in seiner Dissertation drei psychologische Reichweitenschwellen beschreibt: Die "kompetente Reichweite" ist die für einen Nutzer maximal erreichbare, die "performante Reichweite" ist die im Alltag durchschnittlich verfügbare und die "komfortable Reichweite" ist die, die vom Fahrer wirklich mit einem guten Gefühl genutzt wird. Das Ziel für die weitere Entwicklung ist es also, Fahrern zu helfen, eventuelle Lücken zwischen diesen Reichweitenschwellen zu schließen und so am Ende bei Bedarf mehr nutzbare Reichweite zur Verfügung zu haben, ohne dabei Fahrspaß einzubüßen.
Reichweite muss für Fahrer besser kontrollierbar sein
Die Reichweite wird also typischerweise nur suboptimal ausgeschöpft. "Daraus ergibt sich, dass das Ziel bei der Fahrzeugentwicklung nicht die Steigerung der Batteriekapazität sein muss, sondern die Steigerung der tatsächlich für den Fahrer komfortabel nutzbaren Reichweite", resümiert Franke und betont: "Wenn man überlegt, wie viel es heute kostet, die technische Reichweite von Elektrofahrzeugen um 20 Prozent zu steigern, dann ist es sehr vielversprechend, wenn man eine solche Steigerung potentiell auch durch optimierte Informations- und Assistenzsysteme erreichen könnte." Hierbei habe sich als wichtig erwiesen, dass der Fahrer die Reichweite subjektiv kontrollieren kann - dass es also sichtbare und einfach erreichbare Handlungsoptionen gibt, mit denen man bei Bedarf die Reichweite quasi auf Knopfdruck strecken kann. Die Bereitstellung verschiedener Fahrmodi, durch deren Auswahl mehr Reichweite entsteht, ist dabei beispielsweise eine vielversprechende Strategie.
Einige dieser Ergebnisse gelten möglicherweise nicht nur für Elektrofahrzeuge. "Es ist durchaus plausibel, dass sich einige Befundmuster und Konzepte auch auf andere Situationen übertragen lassen, in denen Menschen mit begrenzten Ressourcen interagieren", so Franke. Beispiele hierfür reichen von der Nutzung von Smartphones und anderen mobilen batteriebetriebenen Systemen bis hin zur Frage: Wann fülle ich meinen Kühlschrank wieder auf?
Elektroautofahrer sind selten im Reichweitenstress
Die Befunde der Dissertation zeigen außerdem, dass Nutzer von Elektroautos bei einer für Deutschland typischen Mobilität nur selten Reichweitenstress erleben. "Bei den anfänglichen Fahrten sind Nutzer oft noch unsicher und fühlen sich bei der ersten längeren Strecke eventuell nicht so wohl", berichtet Franke. Aber: "Das legt sich, sobald man die ersten längeren Strecken mit dem Elektroauto gefahren ist und ein Gefühl dafür hat, wie sich die Reichweite unter verschiedenen Bedingungen entwickelt und welche Strategien helfen, um die Reichweite bei Bedarf zu strecken." Der Umgang mit der Reichweite sei also eher von der Vermeidung und nicht vom Erleben von Reichweitenstress gekennzeichnet. "Zu Beginn der Dissertation existierten kaum Veröffentlichungen über das alltägliche Reichweitenerleben und -verhalten von Elektrofahrzeugnutzern. Das Ziel war es daher, ein detailliertes und theoriegeleitetes psychologisches Verständnis für dieses Thema zu erlangen", erklärt Franke.
Die Dissertation "Nachhaltige Mobilität mit begrenzten Ressourcen: Erleben und Verhalten im Umgang mit der Reichweite von Elektrofahrzeugen" im Volltext: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:ch1-qucosa-133509
Weitere Informationen erteilt Thomas Franke, Telefon 0371 531-37589, E-Mail thomas.franke@psychologie.tu-chemnitz.de.
Katharina Thehos
18.02.2014