Triebfedern der europäischen Integration?
Das 15. Politik- und Regionalwissenschaftliche Symposium untersuchte die Rolle Polens und Tschechiens in der europäischen Politik
Die europäische Politik wird gegenwärtig von der Schuldenkrise bestimmt. Eine führende Rolle in der Suche nach Lösungsansätzen kommt dabei Deutschland und Frankreich zu, Angela Merkel und Nicolas Sarkozy geben in enger Absprache die politischen Linien vor. Welche Rolle bleibt da für die anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, etwa die deutschen Nachbarn Polen und Tschechien? Können sie eigene Interessen überhaupt noch wirksam artikulieren und durchsetzen? Fragen wie diese wurden auf dem 15. Politik- und Regionalwissenschaftlichen Symposium am 2. Dezember 2011 in Chemnitz diskutiert.
Die große politische Aufmerksamkeit, die die Krise erfordert, zeigte sich auch gleich beim Auftaktreferat der Veranstaltung im Anschluss an die Begrüßung durch die kommissarische Rektorin der TU, Prof. Dr. Cornelia Zanger. Der eigentlich dafür vorgesehene polnische Botschafter in Deutschland, Dr. Marek Prawda, hatte seine Teilnahme kurzfristig absagen müssen. Und so war es an Prof. Dr. Stefan Garsztecki, der das Symposium gemeinsam mit Prof. Dr. Beate Neuss und Ilona Scherm vom Ziel 3-/Cíl 3-Projekt Sächsisch-Tschechische Hochschulinitiative (STHI) konzipiert und vorbereitet hatte, eine erste Analyse der noch bis Ende Dezember andauernden polnischen EU-Ratspräsidentschaft zu versuchen. Der Inhaber der Professur für Kultur- und Länderstudien Ostmitteleuropas verdeutlichte, dass es durch die Schuldenkrise zu einer gewissen "Marginalisierung" der Präsidentschaft gekommen sei - trotz der hohen Erwartungen, die in Polen als einem "europäischen Musterland" mit einem stabilen Wirtschaftswachstum in der vergangenen Zeit an das zweite Halbjahr 2011 gerichtet wurden. "Gleichwohl wird Polens Selbstbewusstsein deutlich, zur Lösung der Krise beitragen zu können, und keine Quelle von Problemen zu sein", erläuterte Garsztecki. Er verdeutlichte dies in seiner Betrachtung der bemerkenswerten Rede des Außenministers Radoslav Sikorski auf dem Berliner Forum Außenpolitik am 27. November, der in einer vertieften Integration die Antwort auf die gegenwärtige europäische "Vertrauenskrise" sieht und dabei eine deutsche Führungsrolle fordert, wenn denn Polen auch als Nicht-Euro-Land in die entsprechenden Entscheidungsprozesse eingebunden wird: "Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit."
Die polnische Innensicht auf gegenwärtige europapolitische Fragen stellten Dr. Agata Szyszko (Bildungsministerium Warschau) und Elzbieta Kaca (Institut für Öffentliche Angelegenheiten Warschau) vor. Szyszko war nach 2009 bereits zum zweiten Mal auf einem Politik- und Regionalwissenschaftlichen Symposium zu Gast. Sie widmete sich dem Ausgang der polnischen Parlamentswahlen - Donald Tusk gelang dabei als erstem Premierminister der Dritten Polnischen Republik die Wiederwahl. Die nationale Bedeutung der Schuldenkrise zeige sich an dessen stark wirtschaftspolitisch ausgerichteten Regierungsprogramm. Der geringen medialen Aufmerksamkeit für die EU-Ratspräsidentschaft konnte Szyszko auch positive Seiten abgewinnen: "Die Präsidentschaft hat vor allem administrative Aufgaben - wenn wenig darüber berichtet wird, dann funktioniert alles." Kaca untersuchte die Fortschritte der "Östlichen Partnerschaft", die im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik von Polen und Schweden initiiert worden war, um die ehemaligen Sowjetrepubliken Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Moldau und Ukraine an die EU heranzuführen. Von der polnischen Ratspräsidentschaft sollten neue Impulse ausgehen, diese Pläne müsse man jedoch als weitgehend gescheitert betrachten: Aufgrund der Schuldenkrise, einer zu geringen Finanzierung, mangelnder Perspektiven für die angesprochenen Länder und anderer außenpolitischer Prioritäten etwa aufgrund des "Arabischen Frühlings" könne Polen hier gegenwärtig keine Rolle als "Triebfeder" einnehmen.
Am Nachmittag wurde das Symposium um die tschechische Perspektive erweitert. Dr. Vojtech Belling, Staatssekretär für europäische Angelegenheiten, sprach über die Erfahrungen aus der Ratspräsidentschaft der Tschechischen Republik im ersten Halbjahr 2009. Damals bestimmen vor allem zwei außenpolitische Themen - die israelische Militäroffensive im Gazastreifen und der russisch-ukrainische Gasstreit - die politische Agenda. Erschwert wurde die Präsidentschaft durch innenpolitische Turbulenzen, die schließlich zu Neuwahlen führten. Weiterhin wurden der sächsisch-tschechische und der sächsisch-polnische Grenzraum stärker in den Blick genommen, als Prof. Dr. Aleksandra Trzcielinska-Polus (Universität Oppeln) und Dr. Vladimír Handl (Karls-Universität Prag) über die jeweiligen bilateralen Beziehungen diskutierten.
Die gut besuchte Veranstaltung im Alten Heizhaus der TU Chemnitz war bereits die 15. interdisziplinäre Fachtagung ihrer Art. Die Politik- und Regionalwissenschaftlichen Symposien werden seit 1997 durchgeführt. Initiatoren waren damals Prof. Dr. Beate Neuss und der inzwischen verstorbene Chemnitzer Sozial- und Wirtschaftsgeograph Prof. Dr. Peter Jurczek. Thematisch konzentrieren sie sich auf die Staaten Mittel- und Osteuropas. Die unmittelbaren Nachbarländer Tschechien und Polen werden dabei besonders prominent behandelt. Neben der Professur für Internationale Politik war in diesem Jahr erstmals die Professur für Kultur- und Länderstudien Ostmitteleuropas federführend an der Durchführung beteiligt.
Weitere Informationen erteilt Ilona Scherm, Telefon 0371 531-34503, E-Mail ilona.scherm@phil.tu-chemnitz.de.
(Autor: Martin Munke)
Katharina Thehos
05.12.2011