DIE ZEIT: Eines der zehn wichtigsten Sachbücher dieses Herbstes – die Edition „Meinhof, Mahler, Ensslin“
Herausgeber und TU-Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte Alexander Gallus im Gespräch auf der Frankfurter Buchmesse
Die Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT hat zur Frankfurter Buchmesse eine Liste mit den zehn wichtigsten Sachbüchern des Herbstes veröffentlicht. Darunter findet sich auch das Buch "Meinhof, Mahler, Ensslin. Die Akten der Studienstiftung des deutschen Volkes", das der Chemnitzer Zeit- und Ideenhistoriker Alexander Gallus jüngst herausgegeben hat. Gallus, der an der Technischen Universität Chemnitz seit Herbst 2013 die Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte innehat, präsentierte den Band am 21. Oktober 2016 auf der Buchmesse im Gespräch mit ZEIT-Journalist Manuel J. Hartung.
Gallus trug aus den vom ihm editierten, eingeleiteten und kommentierten Akten der späteren Mitbegründer der Rote Armee Fraktion ausgewählte Passagen vor und diskutierte auf der Veranstaltung, die sich eines großen Publikumandrangs erfreute, den Wert der Quellenedition. "Erstmals können wir nun anhand authentischer schriftlicher Unterlagen Einblick in die frühen Jahre Meinhofs, Mahlers und Ensslins nehmen", so Gallus. Die Edition enthält die im Zuge ihrer Bewerbung für die Studienstiftung des deutschen Volkes verfassten Lebensläufe von Meinhof, Mahler und Ensslin, Gutachten von Lehrern und Professoren, die Korrespondenz mit der Geschäftsstelle der Studienstiftung sowie die Semesterberichte, in denen die drei Geförderten über ihr Studium berichten, aber auch hierüber hinausgehende Reflexionen mitteilen. Hartung nannte die Akten "höchst faszinierende Bildungstagebücher".
Aus ihnen lässt sich mit der Zeit auch eine Politisierung und Radikalisierung der drei zum Kreis der Hochbegabten gezählten Stipendiaten ablesen. "Allerdings nicht im Sinne einer linearen Entwicklung", das betonte Gallus, "also einer Entwicklung, die bereits etwas von der späteren lebensgeschichtlichen Entkopplung und dem Gang in den terroristischen Untergrund erahnen lässt." Gerade deshalb fasziniere und irritiere die Lektüre der Akten so. "Das Material ist so ausführlich und intensiv – und doch bleibt die ernüchternde Erkenntnis, wie schwer daraus nur spätere Terroristenlebensläufe zu prognostizieren sind." Und er ergänzte: "Gerade in unserer Zeit, da wir wieder intensiv Fragen danach aufwerfen, wer, wann, warum und wie – auch wie schnell – Terrorist wird, ist das eine beunruhigende Einsicht."
Im Falle von Meinhof, Mahler und Ensslin waren vielfältige andere Biografieverläufe innerhalb eines weit gefassten demokratischen Konsensbereiches denkbar. "An der Brüchigkeit dieser drei Biografien lässt sich erkennen, wie schnell auch stabil sich darbietende Gesellschaften und politische Ordnungen in Schwankungen geraten können." Und Gallus fügte hinzu, „wie wenig nur Intelligenz und Bildung offenbar Garant für eine mäßigende Haltung sind". Meinhof, Mahler und Ensslin lernten – nicht zuletzt während ihrer Stipendiatenjahre – eine liberale Streitkultur kennen, die sie später gegen ein kompromissloses Freund-Feind-Denken auswechselten.
Außer Gallus präsentierten auf der Buchmesse am ZEIT-Stand u.a. Wolf Biermann, die diesjährige Gewinnerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels Carolin Emcke (einst ebenfalls Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes) sowie die Schriftsteller Bodo Kirchhoff und Leon de Winter ihre Werke.
Lesen Sie auch: "Alle drei hatten ein ausgesprochenes Gerechtigkeitsempfinden", erschienen in DIE ZEIT Nr. 36/2016, sowie "Die Akten dreier Hochbegabter", erschienen in der Freien Presse am 14. Oktober 2016.
Mario Steinebach
23.10.2016