Tag1: Lissabon und Aveiro, 21. März
Nach der individuellen Anreise am Vortag trafen alle Exkursionsteilnehmer erstmals morgens um neun Uhr im Apartment in Lissabon aufeinander. Nach einführenden Worten von Thomas Weißmann und kurzer organisatorischer Rücksprache folgte der erste Programmpunkt. Der Historiker Dr. Ricardo Noronha (Universidade Nova de Lisboa) erläuterte uns die Geschichte mit einem Schwerpunkt auf der Wirtschaftsgeschichte des Landes, wobei er nach einem historischen Abriss auch auf die aktuelle Situation Portugals einging.
Mit Dr. Ricardo Noronha in der Unterkunft in Lissabon
Portugal blickt auf eine lange Periode als Kolonialmacht zurück, besonders mit einem Schwerpunkt in Südamerika und Afrika. Doch mit dem Aufstieg des Britischen Empire verringerte sich die Rolle Portugals in der Welt. Portugal konnte – mit Ausnahme einiger weniger hochwertiger Erzeugnisse wie Hüte oder Schuhe – wenige Produkte anbieten, die auf dem Weltmarkt gefragt waren. Somit folgte eine lange Zeit wirtschaftlicher Instabilität und Schwäche. Die Ursachen für die wirtschaftlich prekäre Situation wird von linken und konservativen bzw. liberalen Wissenschaftlern unterschiedlich bewertet. Während das konservative Lager die Gründe für die wirtschaftliche Schwäche Portugals vorranging in der Invasion der Franzosen 1807 und im Verlust der Kolonien sieht, machen linke Wissenschaftler die Handelsstrukturen mit Großbritannien für die Probleme verantwortlich. Denn Großbritannien war lange Portugals wichtigster Handelspartner, beide spezialisierten sich in Produktion und Export gemäß ihrem komparativen Vorteil. Für Portugal lag dieser in der Landwirtschaft, für Großbritannien in der Produktion von Industriegütern. Da Agrargüter am Markt wesentlich niedrigere Preise erzielen als Industriegüter, befand sich Portugal in einer ökonomisch ungünstigen Situation: Das Land exportierte günstig herzustellende Waren und importierte im Gegenzug teure Güter. Mit diesen Entwicklungen im Blick entstand im Folge eines Militärputsches von 1926 die „Estado Novo“ genannte Diktatur unter Führung des Universitätsprofessors António de Oliveira Salazar. Ähnlich wie in Spanien hatte diese Herrschaft über den Zweiten Weltkrieg hinweg bis in die 1970er Jahre Bestand.
Wirtschaftspolitisch wurde im Estado Novo eine protektionistische Strategie verfolgt. Die entscheidenden Wirtschaftssektoren wurden von einigen wenigen Unternehmen beherrscht, es gab keinen Wettbewerb, da Preisabsprachen getroffen wurden. Der Profit war somit garantiert. Als sich nach dem 2. Weltkrieg allmählich die Weltwirtschaft erholte und sich ein dynamischer internationaler Handel entwickelte, wurden die Schwächen Portugals nach und nach sichtbar. Portugal war eines der Gründungsmitglieder der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) und galt als europäisches Entwicklungsland. Durch die intensiven Handelsbeziehungen mit den EFTA-Staaten konnte Portugal zwischen 1960 und 1970 dennoch ein stabiles Wirtschaftswachstum verzeichnen. Erst 1973 begann mit der Ölkrise wieder eine Zeit wirtschaftlicher Instabilität, die Inflation stieg. Die Wirtschaftspolitik des Regimes war geprägt von Exporten in die Länder Europas, welche gerade nach dem Zweiten Weltkrieg einen hohen Bedarf an Rohstoffen hatten. Dennoch stieg der Wohlstand im Land nur langsam an und die verbreitete Armut blieb bestehen. Profitieren konnte hauptsächlich eine alte gesellschaftliche und wirtschaftliche Elite aus wenigen führenden Familien.
Die Kolonien waren schließlich der Faktor, der das Regime dann zu Fall bringen sollte. Die portugiesische Regierung führte über ein Jahrzehnt lang Kriege in Angola, Guinea-Bissau und Mosambik, um die dortigen Unabhängigkeitsbewegungen zu unterdrücken. Diese Kriege waren für das Regime sehr teuer und verlustreich – zahlreiche Soldaten kamen mit Traumata und einer großen Abneigung gegen diese kräftezehrenden und endlosen Kämpfe zurück nach Portugal.
Diese Situation, gepaart mit sozialer Unzufriedenheit, führte schließlich zur sogenannten Nelkenrevolution von 1974, die wiederum schließlich das Ende der Diktatur besiegelte. Unzufriedene Militärs inszenierten im April des Jahres einen Militärputsch und schafften es, tausende Menschen in Lissabon zu ihrer Unterstützung auf die Straße zu bekommen. In der Folge wurden auch die Kolonialkriege in den afrikanischen Gebieten beendet. Demokratie und Bürgerrechte fanden Einzug in Portugal. Zusätzlich zu den exorbitanten Staatsausgaben, die der Kolonialkrieg verursachte, wurde das Land 1973 hart durch die Ölkrise getroffen, die die wirtschaftliche Instabilität verstärkte. So stieg die Inflation und innerhalb weniger Jahre erlebte das Land zwei Wirtschaftskrisen. Beide Male – 1978 und 1983 – griff der Internationale Währungsfond ein und stellte Gelder zur Verfügung. Mit dem Beitritt Portugals in die Europäische Gemeinschaft 1986 folgten zunächst sechs Jahre des wirtschaftlichen Wachstums, in denen unter anderem die Reallöhne stiegen und Investitionen in das Bildungssystem erfolgten. Ab den neunziger Jahren wuchs der portugiesische Importüberschuss, die Staatsverschuldung stieg an, ebenso die Verschuldung im Privatsektor und eine große Zahl ausländischer Investoren kam ins Land. Bereits stark angeschlagen wurde Portugal 2008 auch von der internationalen Finanzkrise erfasst. In den Folgejahren stieg die Arbeitslosigkeit rapide, viele junge Portugiesen sahen sich gezwungen das Land zu verlassen, um im Ausland eine Anstellung zu finden. Viele zog es hierfür nach Großbritannien, Deutschland, in die Schweiz, aber auch nach Brasilien und Angola. 2011 erhielt Portugal internationale Finanzhilfen und musste im Gegenzug ein strenges Sparprogramm umsetzen. In EU-Kreisen werden diese Reformprogramme und der harte Sparkurs als Erfolg verkauft, tatsächlich ist jedoch der Tourismussektor der einzige Wirtschaftszweig, der floriert. Portugals Wirtschaft kommt nur sehr langsam wieder auf die Beine, von Stabilität kann keine Rede sein. Die Schwächen der portugiesischen Wirtschaft sind dieselben wie schon vor 40 Jahren, es ist bisher nicht gelungen einen umfassenden Modernisierungsprozess in Gang zu bringen. Ein wesentlicher Meilenstein für die wirtschaftliche Entwicklung Portugals stellt der Beitritt zur Europäischen Union im Jahr 1986 dar. Der Beitritt wurde auf allen sozialen Ebenen begrüßt und hat zu einem wirtschaftlichen Aufschwung geführt. Im Zuge der EU-Finanzkrise musste Portugal jedoch unter den EU Rettungsschirm der Troika. Mit einem Hilfspaket von 78 Milliarden Euro hatte die EU Portugal unter strikten Auflagen finanziell unterstützt. Auflagen waren unter anderem Kürzungen der Sozialausgaben und die Erhöhung der Mehrwertsteuer. Als Folge auf die restriktive Finanzpolitik bildeten sich in Portugal Protestbewegungen. So ist die Zahl der Personen, die mindestens an einen Protest teilnahmen, zwischen 2008 und 2012 in Portugal von 3,7 auf 6,8 Prozent gestiegen (Accornero/Pinto 2015: 492). Laut Dr. Noronha verhielt sich die portugiesische Gesellschaft im Zuge der Finanzkrise im Vergleich zu den Protesten in Griechenland zurückhaltend. Als Protest gegenüber der Austeritätspolitik der Europäischen Union haben sich jedoch einzelne Protestformen in Portugal gebildet.
Die Finanzkrise hatte zur Folge, dass ein „Brain Drain“ aus Portugal in andere Staaten der Europäischen Union sowie nach Brasilien und in die ehemalige Kolonie Angola stattfand. Insgesamt haben zwischen 2011 und 2015 500.000 überwiegend junge Menschen Portugal verlassen.
In den letzten Jahren boomt vor allem der Fremdenverkehr. Innerhalb der portugiesischen Wirtschaft stellt der Tourismus einen sehr dynamischen Sektor dar, der einen wichtigen Teil der Wirtschaft in Portugal bildet. World Travel & Tourism beziffert den direkten und indirekten geleisteten Wirtschaftsbeitrag durch die Reise- und Tourismusindustrie auf 15,7 % des BIP in Portugal. Bis 2025 wird ein Anstieg auf über 16 % des portugiesischen BIP prognostiziert. Dies verdeutlicht die signifikante Stellung des Tourismus für den Arbeitsmarkt in Portugal. Im Jahr 2015 waren 7,6 % (350.050 Personen) der Gesamtbeschäftigen in Portugal in der Reise- und Tourismusbranche tätig. Prognosen sehen einen Anstieg der Zahlen bis 2025 auf 9,4 % voraus (Quelle: World Travel & Tourism Council (2015: 3).
Am Praça do Comércio
Nach dem aufschlußreichen Vortrag von Dr. Ricado Noronha und einer anschließenden Diskussions- bzw. Fragerunde, machte sich die Gruppe auf den Weg Richtung Bahnhof. Ein Zwischenstopp an der Praça do Comércio wurde genutzt, um anhand einiger Schauplätze der Nelkenrevolution die Ereignisse des 25. Aprils 1974 zu erläutern.
Dr. Noronha fasst die Ereignisse der Nelkenrevolution gestenreich zusammen
Während der Nelkenrevolution war dieser Platz das erste Ziel der aus Santarém anrückenden aufständischen Militärs, um die Diktatur zu stürzen. Der Name des Platzes bedeutet so viel wie „Handelsplatz“ und so diente der Ort früher Zoll – und Hafenbüros, sowie heute mehreren Geschäften, Restaurants und Cafés.
Circa zwei Stunden später befanden wir uns im Zug in Richtung Aveiro. Raus aus Lissabon wurde uns bewusst, wie groß die Stadt mit ihren Randvierteln und nahe gelegenen Orten ist. Es verdeutlichte, was Dr. Ricardo Noronha und Herr Weißmann bereits erwähnt haben: In Portugal zentriert sich die Bevölkerung hauptsächlich auf die großen Städte Lissabon und Porto. Je weiter es in das Land rein geht, umso mehr dominieren Dörfer oder gar einzelne Häusergruppen das Landschaftsbild. Eine Folge der Wirtschaftskrise und aktuellen Beschäftigungslage in Portugal: Fabriken mussten reihenweise schließen und Bauern haben es schwer, sich über ihre Erträge zu finanzieren. Es ist nicht leicht, außerhalb des Tourismuszweigs Geld zu verdienen und Touristen zieht es in die größeren Städte oder an die Küste zum Surfen. In Aveiro angekommen und in die Apartments eingecheckt haben wir die Zeit bis zum Abend genutzt, um die Stadt zu erkunden und den örtlichen DAAD-Lektor Sebastian Knoth zu treffen.
Sebastian Knoth, DAAD-Lektor an der Universidade de Aveiro
Aveiro ist eine kleine verträumte Stadt und es war schwer vorstellbar, dass es hier eine Universität gibt. Am Abend haben wir den Sportplatz und einen kleinen Teil von dem Campus der Universität gesehen. Geplant waren ein Treffen mit Germanistikstudenten der Universität Aveiro und ein gemeinsamer Filmabend. Aus technischen Gründen konnten wir uns leider den Film „Dreamocracy“ nicht anschauen. Stattdessen haben die Germanistikstudenten schnell und spontan reagiert und ein Teambuildingspiel organisiert.
Teambuildingmaßnahme mit den Germanistikstudenten der Universität Aveiro
Trotz der deutsch-portugiesischen Gruppen und den damit verbundenen Verständigungshürden, die es zu überwinden galt, wurde schnell das Eis gebrochen und eine entspannte Atmosphäre geschaffen. Bei kleineren Mathematikübungen stellten wir unsere hervorragenden Rechenkünste unter Beweis. Man sollte allerdings festhalten, dass uns unsere portugiesischen Freunde hier in nichts nachstanden. So stellten diese Spiele trotz einiger Startschwierigkeiten eine sehr gute Alternative zum Film dar. Man konnte einen kleinen Einblick in das universitäre Leben der Studenten erhaschen. Sicherlich auch auf Grund der Größe der Universidade de Aveiro kam es uns allen sehr familiär vor und wir fühlten uns durch die lockere Stimmung sehr gut aufgehoben.
Stille Post mit deutschen und portugiesischen Ausdrücken
Während des gemeinsamen Abendbrotes hatten wir die Möglichkeit bei einem Glas Wein oder Bier mit dem DAAD-Lektor Sebastin Knoth aus Deutschland, der Deutsch als Fremdsprache an der Universität in Aveiro unterrichtet, über die aktuelle Situation für Studenten und deren Zukunftsaussichten und Pläne zu reden. Nicht weniger interessant war seine Sicht auf Aveiro und andere Städte in Portugal. Er bestätigte unseren ersten Eindruck einer ruhigen, verträumten Stadt und erklärte, dass er aus diesem Grund in Porto wohnt und jeden Tag nach Aveiro pendelt. Nach und nach löste sich die Gruppe auf, um Erholung in der schlichten, aber sympathischen Unterkunft in Bahnhofsnähe zu suchen. Einige setzten den Abend jedoch noch mit den Studierenden aus Aveiro fort, um die neue Bekanntschaft beim Kartenspiel auf dem Zimmer zu festigen.
Gemeinsames Abendessen in Aveiro
(Text: Anna-Maria Bertko, Josephine Brandt, Benedikt Fink, Swantje Ehlers, Rob Wessel; Fotos: Thomas Weißmann)