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Europäische Geschichte studieren in Chemnitz
Podiumsdiskussion "Arbeiterbewegung in der DDR?"
Europäische Geschichte studieren in Chemnitz 

Gehört die Geschichte der DDR zur Geschichte der Arbeiterbewegung?

 

Zum TagungsprogrammIm Rahmen der Tagung "Die herrschende Klasse? Arbeiterschaft in der DDR" fand am Donnerstag, den 03. April 2014, im Sächsischen Industriemuseum Chemnitz eine Podiumsdiskussion mit Prof. Dr. Rudolf Boch zum Thema "Gehört die Geschichte der DDR zur Geschichte der Arbeiterbewegung?" statt.

 

 

Bei einer solchen Fragestellung stellt sich zunächst die Frage „welcher Arbeiterbewegung“?

Seit spätestens 1920 gab es bis 1933 zwei Arbeiterbewegungen, denn der kommunistischen Minderheitsströmung, die anfangs mit der DDR ihre Gesellschaft und ihren Staat zu realisieren glaubte, kann man schlechterdings nicht absprechen, Teil der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert zu sein.

Die DDR war also zunächst einmal – und das recht eindeutig – Teil der Nachgeschichte der kommunistischen Arbeiterbewegung der Weimarer Republik mit 1932 immerhin 3 Millionen Wählern. Was unterschied diese zentral von der deutschen Sozialdemokratie der Zeit vor 1914, wo kann man den Traditionsbruch verorten?

  1. Die Pervertierung des Marxschen Konzepts einer „Diktatur des Proletariats“ zur Herrschaft einer Avantgardepartei im Anschluß an Lenin. D. h. auch die Bereitschaft zur teilweisen Aufhebung der bürgerlichen Freiheit über den bei Marx als kurz gedachten Moment der „Diktatur des Proletariats“ hinaus.
  2. Die grundsätzliche Zurückweisung der gesellschaftlichen Gestaltungshoheit einer parlamentarischen Demokratie.
  3. Die wachsende Bereitschaft zur Einschränkung bzw. Beseitigung auch der innerparteilichen Demokratie mit dem Ziel des Aufbaus einer schlagkräftigen Kaderpartei.
  4. Zusammengenommen lag der wesentliche Unterschied im unbedingten Willen zur Macht zunächst auch ohne gesellschaftliche Mehrheitsfähigkeit; ein Denken, das in der Konsequenz herrschaftssichernde Maßnahmen von der Bespitzelung bis hin zu staatlich initiierten Repressionen in großem Stil in Kauf nahm und legitimierte.
  5. Hinzu kam, dass die kommunistische Arbeiterbewegung auf die schiefe Bahn geriet und bereits in den 1920/30er Jahren für die Außenpolitik der Sowjetunion (und nach 1945 für deren imperiales Herrschaftsinteresse) instrumentalisiert werden konnte; ein Szenario, das vor 1914 außerhalb des Vorstellungsvermögens lag. Europäische Geschichte → Einfluß von außen. Historisches Auslaufmodell wird durch SU-Truppen in den Sattel gehoben.

Sicherlich war diese Radikalisierung eines Teils der Arbeiterbewegung nicht allein dem Ersten Weltkrieg, dem Wirken Lenins oder der Gründung der Sowjetunion geschuldet, auch war diese Radikalität nicht traditionslos. Der Avantgardegedanke, der Demokratie geringschätzte oder allenfalls in der Arbeiterschaft als revolutionärem Subjekt Formen direkter Demokratie billigte, hatte seine Vorläufer von Weitling über Blanqui bis ins späte 19. Jahrhundert. Doch wichtiger war: Schon in den Jahren vor 1914 gab es eine Ernüchterung hinsichtlich der Wahlergebnisse der SPD, die der Idee der Volksherrschaft durch demokratische Wahlen für kritische Zeitgenossen die Grundlage entzog. Und mit der Fähigkeit oder Bereitschaft gerade auch gestandener, älterer Sozialdemokraten parlamentarisch Demokratie in einer pluralistischen Gesellschaft zu denken und die Partei gar bürgerlichen Koalitionspartnern anzudienen war es nicht weit her; immerhin waren 60 % der KPD-Mitglieder bis 1927 ehemalige Sozialdemokraten! In gewisser Weise war die Radikalisierung seit 1905 Ausdruck der Schwäche, Zeichen dafür, dass die sozialdemokratische Arbeiterbewegung ihren Höhepunkt überschritten hatte. Bei aller Kritik des Verhaltens der MSPD im Ersten Weltkrieg und den Anfangsjahren der Weimarer Republik war es das große Verdienst dieser Partei, die Bewegung für soziale Demokratie des 19. Jahrhunderts in eine pluralistische Gesellschaftsordnung des 20. Jahrhunderts auf massendemokratischer Grundlage zu überführen – selbst wenn sie zunächst v. a. an der Unfähigkeit des Bürgertums zur Akzeptanz einer pluralistischen Demokratie scheiterte.

Die DDR gehörte mithin zur Geschichte der sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts radikalisierenden Minderheitsströmung der Arbeiterbewegung, stand jedoch als Diktatur einer Avantgardepartei in einem Traditionsbruch zur SPD vor 1914 – von der SPD der 1920er Jahre ganz zu schweigen.

Der Weg zum Sozialismus, die Mißachtung oder Geringschätzung der Demokratie und der Freiheitsrechte war der Traditionsbruch, der freilich auch die gesellschaftliche Realisierung anderer Ziele sozialistischer Neuordnung negativ beeinflußte oder ad absurdum führte. Hatte die SPD-Führung doch bereits in den frühen 1890er Jahren in der Auseinandersetzung mit den sog. „Jungen“ in der SPD gemahnt: „Sozialismus ohne Demokratie wird Kasernenhofsozialismus“. Das Hauptziel des Sozialismus des 19. Jahrhunderts, der Abbau der Herrschaft von Menschen über Menschen und das Absterben des Staates als Herrschafts- und Repressionsinstrument wurde von der SED ad acta gelegt. Andere Ziele waren über weite Strecken dem erstaunlich ähnlich was August Bebel in seiner mehr als 50 Auflagen vor 1914 erlebenden, d. h. weit verbreiteten Schrift vage als sozialistische Gesellschaft der Zukunft umrissen hatte. Über das Niveau der letzten Auflagen sind Pieck oder Ulbricht, die seit 1895 bzw. 1912 Mitglieder und Funktionäre der SPD waren, aber auch Honecker nie hinausgekommen. Die Ziele der SED-Diktatur, die sich auf sozialistische Prinzipien berief, waren auch nicht beliebig relativierbar. Besonders ins Auge fallen bei der mehr als nur partiellen Übereinstimmung der Ziele:

  • Das Festhalten am unbedingten Gleichheitsideal des Arbeiterbewegungssozialismus und am Ziel der sozialen Sicherheit sowie der Befriedigung der Grundbedürfnisse der arbeitenden Bevölkerung (oder was man dafür hielt).
  • Mit der Folge der Proklamation des „Rechts auf Arbeit“ (1950), der massiven Öffnung der Bildungschancen und des Festhaltens am egalitären Versorgungssozialismus (Subventionierung der Grundnahrungsmittel und Einfrieren der Mieten).
  • Die gezielte Auflösung der bäuerlichen Familienwirtschaft, die als wenig produktiv und als Hort krasser gesellschaftlicher Ungleichheit galt.
  • Die Gleichberechtigung der Frau. - Die ständig postulierte Gleichberechtigung der Frau wurde vornehmlich – im Anschluß an Bebel und Clara Zetkin - durch das Mittel der forcierten Frauenarbeit vorangetrieben.
  • Ähnliche Vorstellungen von Sexual- und Familienmoral wie Bebel, dazu noch „Reinheit und Kameradschaft in der Geschlechterbeziehung von Mann und Frau“ als Versatzstück der Jugendbewegung. Die Arbeitsteilung in der Familie blieb freilich ungleich verteilt.
  • Die „Veredelung des Arbeiters“ durch Heranführung an die bürgerliche Hochkultur.
  • Die fortgesetzte Kultivierung der sozialdemokratischen Fortschrittseuphorie des späten 19. Jahrhunderts, die freilich damals schon – und um einiges stärker in der DDR – mit der im Kern strukturkonservativen, modernisierungskritischen Haltung großer Teile der Arbeiterschaft kontrastierte.

Diese Feststellung lenkt auf einen sozusagen genetischen Fehler der Zeit der II. Internationale vor dem Ersten Weltkrieg, der – ganz abgesehen vom Traditionsbruch der KPD – auch linkssozialdemokratische Versuche der Sozialisierung von Schlüsselindustrieen oder der Wirtschaftsdemokratie massivste Schwierigkeiten bereitet hätte: Im Gegensatz zu älteren Sozialismusvorstellungen sollten im Denken der II. Internationale die durch den Kapitalismus entwickelten Formen der Vergesellschaftung der Arbeit in der „Großen Industrie“ weiter bestehen und die Grundlage für den Sozialismus bilden. Die Herrschaft der Produktionsbedingungen über die Produzenten, das was man in der romantischen Sprache des Frühsozialismus „entfremdete Arbeit“ genannt hat, blieb somit trotz Abschaffung des Privateigentums bestehen. Die Arbeiter blieben (erst einmal) was sie waren: abhängige Beschäftigte! – Die SED konnte aber gar nicht bei ihrem Konzept von Machtausübung Formen der wirklichen Partizipation der abhängig Beschäftigten entwickeln, weil das ihr Herrschaftsmonopol gebrochen hätte.

Der allseits bekannte zeitgenössische Soziologe Max Weber hat darüber hinaus einen zweiten genetischen Fehler in den Sozialismusvorstellungen der Epoche vor 1914 identifiziert, der sich in der Geschichte des „Realen Sozialismus“ katastrophal auswirkte. Im Gegensatz zu Kautsky und Co., die die Bürokratie als notwendige Begleiterscheinung des Kapitalismus mit janusköpfigem Charakter ansahen, deren despotische Funktion durch die proletarische Revolution beseitigt und deren dirigierende, verwaltende Funktion allmählich irgendwie durch die Gesellschaft übernommen würde, war Weber zu Recht der Meinung, dass der Sozialismus diese despotische Funktion noch verschärfen werde. Seine Ablehnung des Sozialismus beruhte wesentlich auf der Furcht vor einer staatlich-wirtschaftlichen Gesamtbürokratie, welche die Gesellschaft vollends in ein „Gehäuse der Hörigkeit“ sperrt. Während in der kapitalistischen Gesellschaft das „staatliche und privatwirtschaftliche Beamtentum (der Kartelle, Banken, Riesenbetriebe) als getrennte Körper“ nebeneinander ständen und man durch die politische Gewalt die wirtschaftliche letztlich immer im Zaum halten könne, „wären dann beide Beamtenschaften ein einziger Körper mit solidarischen Interessen und gar nicht mehr zu kontrollieren.“*

* Max Weber, Der Sozialismus. Rede zur allgemeinen Orientierung von österreichischen Offizieren in Wien 1918, in: ders.; Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, Tübingen 1974, S. 504.