Tagung "Banken, Finanzen und Politik" mit Beteiligung von Prof. Boch
Vom 2. bis 4. Juli 2015 fand in Berlin die Tagung "Banken, Finanzen und Politik. Eine rheinisch-preußische Beziehungsgeschichte im 19. Jahrhundert" mit einem Beitrag von Prof. Dr. Rudolf Boch zum Thema "Rheinisches Wirtschaftsbürgertum und preußischer Staat 1815 - 1870" statt.
Weitere Informationen zur Tagung im Flyer.
Rheinisches Wirtschaftsbürgertum und preußischer Staat 1815 - 1870
von Rudolf Boch
Sehr geehrter Herr Horn, sehr geehrter Herr Fahrenschon, lieber Herr Mölich, sehr geehrte Damen und Herren
Nehmen wir einmal kontrafaktisch an, im Jahr im Jahr 1965 vor nunmehr 50 Jahren, hätte ein wissenschaftliches Kolloquium „150 Jahre Preußen am Rhein“ mit ähnlichem thematischen Zuschnitt wie unsere heutige Tagung stattgefunden. Sehr wahrscheinlich wäre als Resultat einer solchen Veranstaltung ein lautes „Danke Berlin!“ der einschlägigen Wirtschafts- und Sozialhistoriker der frühen Bundesrepublik unüberhörbar gewesen – gänzlich ohne den heutigen ironischen Unterton. Denn vor 50 Jahren war das traditionelle Bild von der durchweg positiven, zentralen Rolle des preußischen Staates und seiner angeblich ökonomisch stets progressiven Reformbürokratie im Industrialisierungsprozeß der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch kaum in Frage gestellt. Zwei Jahrzehnte nach Auflösung des Landes Preußen durch die Alliierten war die „borussophile“ Legende vom industrialisierungsfördernden Staat noch überaus lebendig. Im Unterschied zu einigen – im Westen kaum wahrgenommenen – Publikationen ostdeutscher Historiker brachte erst die 1966 veröffentlichte Studie des jungen US-amerikanischen Wissenschaftlers Richard Tilly diese „master story“ ins Wanken. Tilly – schon bald darauf zum Professor für Wirtschaftsgeschichte an die Universität Münster berufen – arbeitete v. a. für die bereits im frühen 19. Jahrhundert gewerblich weit fortgeschrittene Rheinprovinz überzeugend die entwicklungshemmenden Wirkungen einer im westeuropäischen Vergleich sehr rückständigen Geld,- Bank- und Finanzpolitik Berlins heraus, die wesentlich dem Machterhalt einer bemerkenswert wenig flexiblen Bürokratie folgte. Dass der preußische Staat die Industrialisierung der Rheinlande zwar behinderte, aber nicht verhinderte, ließ in der Perspektive Tillys die Stoßkraft der nichtstaatlichen Akteure, d. h. der rheinischen Unternehmer, um so deutlicher hervortreten.
In den 1970er Jahren erhielt Tillys kritische Beurteilung der Rolle des preußischen Staates im Vormärz durch eine Reihe von Veröffentlichungen weitere Unterstützung. Der Kölner Historiker Friedrich Zunkel, der bereits zuvor die besondere Dynamik der rheinisch-westfälischen Unternehmerschaft im Vormärz beschrieben hatte, konstatierte in einem vielbeachteten Aufsatz die hemmenden Wirkungen des aus dem 18. Jahrhundert stammenden staatlichen „Direktionsprinzip“ auf die Expansion des Ruhrbergbaus spätestens seit den 1830er Jahren. Rainer Fremdlings bedeutende Monographie über den engen Zusammenhang von Eisenbahnen und Wirtschaftswachstum im deutschsprachigen Raum schärfte schließlich den Blick für die langen Jahre erstaunlich geringe staatliche Förderung des Eisenbahnbaus, insbesondere durch den preußischen Staat.
Anfang der 1990er Jahre haben dann zwei Studien auf völlig unterschiedlicher Quellenbasis, die auch Aspekte der neueren Ideen- und Mentalitätsgeschichte in ihre wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Darstellungen einbezogen, eine neue Interpretation zum Verhältnis von preußischem Staat und großgewerblicher Wirtschaft – v. a. in den preußischen Westprovinzen – bereit gestellt: Meine 1991 veröffentlichte Habilitationsschrift über die Industrialisierungsdebatte im rheinischen Wirtschaftsbürgertum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die Studie über die Berliner Bürokratie jener Jahrzehnte von Eric Dorn Brose „The Politics of Technological Change in Prussia“ von 1993.
Beide Studien wiesen einen Weg, den so offensichtlichen Widerspruch zwischen den von zahlreichen älteren Historikern hervorgehobenen Bemühungen und Leistungen der preußischen Reformpolitik nach 1806 sowie der Gewerbeförderung nach 1820 und den zu Recht in der späteren Forschung betonten industrialisierungshemmenden Folgen einer restriktiven staatlichen Finanzpolitik oder eines zähen Festhaltens an der staatlichen Kontrolle des Bergbaus aufzulösen. Vielen Beiträgen zur Rolle des Staates im Industrialisierungsprozeß bis 1848 ist nämlich eine Fehldeutung der ökonomischen Zielvorstellungen der Reformbürokratie inhärent, weil sie das wirtschaftsliberale Credo – Gewerbefreiheit, Freihandel - eines gewichtigen Teils der preußischen Beamtenschaft mit der Bereitschaft zu einer dezidierten Industrialisierungspolitik verwechseln oder gar ein relativ modernes Industrialisierungsverständnis unterstellen. Brose hat in seiner detaillierten Untersuchung zu den Denkkategorien, den Erfahrungshorizonten und den Handlungszielen der Akteure in den Berliner Ministerien nachgewiesen, daß noch nicht einmal Peter Christian Beuth (1781 – 1853), dessen stets völlig unterfinanzierte Gewerbeförderungspolitik bereits auf die Einführung von Maschinen und Fabrikarbeit setzte, über ein vergleichsweise modernes Industrialisierungsverständnis verfügte, wie ich es seit spätestens Mitte der 1830er Jahre in der rheinischen Unternehmerschaft festzustellen vermochte. Meine Studie zur Durchsetzung des Wachstumsdenkens im Wirtschaftsbürgertum der Rheinprovinz gibt zahlreiche Hinweise darauf, daß nicht nur König und adlige Machtelite, sondern auch die Spitzen der Berliner Bürokratie lange Zeit an einem ökonomischen Leitideal des „ausgeglichenen Verhältnisses von Landwirtschaft, Handel und Gewerbe“ festhielten. Gewerbeförderung wurde leidenschaftlich und zu höheren Staatszwecken betrieben, solange das Wachstum der Gewerbe nicht über deren untergeordnete Stellung im Gesamtsystem hinauswies. Gewerbefreiheit und eine Orientierung der Zollpolitik am Freihandel sollte zwar allgemeines Wachstum, auch gewerbliches Wachstum, – ermöglichen, dieses Wachstum aber zugleich „natürlich“ begrenzen. Fast allen Entwicklungen in Richtung auf die sog. Große Industrie – auf ein modernes Industriesystem, das die gewerblich-industrielle Produktion und ihre soziale Trägerschicht, die Unternehmer, in den Mittelpunkt der Gesellschaft rückte und dem Staat ein neues Selbstverständnis und völlig neue Staatsfunktionen abverlangte – wurde daher bis Ende der 1840er Jahre ein zäher, keineswegs auf „feudale Interessen“ zu reduzierender Widerstand entgegensetzt.
Die Bilanz für die Rolle des preußischen Staates in der ökonomischen Entwicklung und der Technologieförderung fällt bis zur Mitte der 1830er Jahre vielleicht noch halbwegs positiv aus, danach bis zum Vorabend der Revolution rasch zunehmend negativ. Für die 1840er Jahren kam es er gar zu einem Machtkampf zwischen einer an ihrem gesellschaftlichen Leitungs- und Deutungsanspruch festhaltenden Bürokratie und der aufstrebenden Unternehmerschaft.
Bis etwa 1830 herrschte zwischen der Staatbürokratie Preußens einerseits und den Großkaufleuten, Verlegern und Fabrikanten der Rheinprovinz - trotz aller Differenzen im einzelnen – noch der „common sense“, daß die Landwirtschaft die gesellschaftlich tragende und ökonomisch sichere Grundlage für eine nicht übermäßig entwickelte gewerblich-industrielle Produktion sein sollte. Die zukünftigen Wachstumschancen schienen allen Beteiligten eher begrenzt. Die gemeinsame Prämisse blieb die Vorstellung von nur sehr begrenzt ausweitbaren Kosumbedürfnissen, die durch den Handel „wegweisend“ auzuloten seien. Wirtschaftsbürgern wie den Staatsbeamten schien England noch in den 1820er Jahren als gewerblich überentwickelt, extrem krisenanfällig und von sozialen Unruhen gefährdet. Man wollte die englische Industrieentwicklung nur ganz partiell imitieren, sich die Vorzüge etwa der englischen Spinnerei ganz pragmatisch aneignen, ohne England insgesamt als Vorbild nachzueifern; nicht zuletzt ein Indiz für ein sektorales Industrialisierungsverständnis auch in der Unternehmerschaft, das den Rahmen einer nur punktuellen Berliner Gewerbeförderungspolitik a là Beuth noch nicht sprengte.
Für den Wandel im Verhältnis von Staat und Wirtschaft im Verlauf des Vormärz, für die Umkehrung dem Momentums vom Staat als zeitweilig eher dynamischem Faktor der Veränderung zum Wirtschaftsbürgertum als vorwärtstreibendes Element ist nun folgende Entwicklung, die ich auf der Grundlage umfangreichen Quellenmaterials rekonstruieren konnte, von zentraler Bedeutung:
Bedingt durch die guten Konjunkturjahre seit Mitte der 1830er Jahre, den kräftigen ökonomischen Impulsen des beginnenden Eisenbahnbaus, den immer neuen Kohlefunden im Ruhrgebiet sowie dem Beispiel einer - trotz aller Schwierigkeiten - funktionierenden neuartigen angebotsorientierten Wirtschaft in England und Belgien, begriffen sich immer mehr Wirtschaftsbürger vor allem in den preußischen Westprovinzen als Teilnehmer an einem anhaltenden Wachstumsprozeß. Die nach 1815 noch sehr konkrete Perspektive einer möglichen Stagnation von Handel und Gewerbe rückte in eine ferne Zukunft. In den 1830er Jahren setzte sich mithin vor allem im zahlreichen rheinischen Wirtschaftsbürgertum die historisch neuartige Auffassung relativ zügig durch, daß die gewerbliche Produktion einer sehr langfristigen, vielleicht unendlichen Ausdehnung fähig sei und die Bedürfnisse im großen Stil vermehrbar seien. „Wo die Grenze der fortschreitenden Bewegung liege, kann nur die Zukunft enthüllen“ - formulierte 1835 etwa der Kölner Großkaufmann und - man beachte - preußischer Ministerpräsident im Revolutionsjahr 1848 Ludolf Camphausen - (ich zitiere weiter) „Allein wir sind berechtigt, den Stillstand in großer Ferne zu suchen.“
Vor der historisch neuartigen Erwartung eines anhaltenden Wachstums zur vom Wirtschaftsbürgertum seit spätestens 1840 massiv geforderten Forcierung dieses Wachstums durch ein modernes Kreditsystem, Aktiengesellschaften und eine grundlegende neue staatliche Infrastruktur - und Zollpolitik war es dann eigentlich nur eine vergleichsweise kleiner Schritt.
Seit Ende der 1830er Jahre war die relative Zufriedenheit mit der preußischen Wirtschaftspolitik, vor allem seit der Zollvereinsgründung 1834, die überaus positiv im Wirtschaftsbürgertum aufgenommen worden war, in eine kritische Stimmung ungeschlagen. Das lag neben der Verweigerung von staatlichen Schutzzöllen und eines eigenständigen Ministeriums für Handel und Gewerbe auch an der zögernden - nach Meinung rheinischer Wirtschaftsbürger unberechenbaren - Haltung des preußischen Staates zum Eisenbahnbau. Aber auch auf anderen zentralen Feldern der Wirtschaftspolitik geriet das immer klarer formulierte und zunehmend vereinheitlichte Interesse des Wirtschaftsbürgertums an einer forcierten Industrieentwicklung in Konflikt mit der Berliner Machtelite.
Nicht zuletzt die von Richard Tilly als Problem identifizierte staatliche Geld- und Bankpolitik wurde zu einem solchen Konfrontationspunkt. Seit den späten 1830er Jahren schälte sich für viele Wirtschaftsbürger immer klarer heraus, daß eine raschere Industrieentwicklung notwendig durch eine Modernisierung des Kreditsystems und Flexibilisierung der restriktiven Berliner Geldmengenpolitik vorbereitet und begleitet werden mußte. Verschiedenen Plänen zur Gründung von privaten Aktienbanken, zumeist mit dem Recht der Notenausgabe, wurde aber von der preußischen Regierung bis 1848 die Zustimmung strikt verweigert. Es waren nicht nur die - seitens des Staates durchaus berechtigten - Sorgen vor inflationären Tendenzen, nicht nur die Angst vor einer eigenständigen bürgerlichen „Geldmacht“ oder die Erwartung eines Gewinnrückgangs der zwei staatlichen Finanzinstitutionen, der Königlichen Bank und der Seehandlung, die die preußische Regierung zum Widerstand gegen eine Modernisierung des Banksystems nach englischem oder amerikanischem Muster trieben. Es war auch die Furcht vor einem substanziellen Anstieg der Zinsen für landwirtschaftliche Kredite, mithin die Rücksichtnahme auf die materiellen Interessen des Adels.
Diese ernüchternde Zurücksetzung industrieller Interessen mündete in eine mit den Jahren schärfer werdende Bürokratiekritik des Wirtschaftsbürgertums, in deren Mittelpunkt die wirtschaftspolitische Inkompetenz einer intransigenten „Beamtenherrschaft“ stand. Bisweilen suchte sich die Kritik, wie ich feststellen musste, ihre Anlässe. Es gab aber immer wieder eklatante Fehlentscheidungen, etwa beim Handelsvertrag mit Holland 1839, die tatsächlich ein hohes Maß an Uninformiertheit über wirtschaftliche Zusammenhänge, an Desinteresse und Arroganz v. a. in den oberen Rängen des Beamtenapparates offenlegten.
Bei aller Bürokratiekritik war den führenden Repräsentanten des rheinischen Wirtschaftsbürgertums aber bewußt, dass Teile vor allem der jüngeren Beamtenschaft bereit waren, sich für einen Vorrang industrieller Interessen einzusetzen. Nicht nur das tendenzielle Übergewicht der ökonomisch konservativen Spitzenbeamten, sondern auch die gegenseitige, bis 1848 anhaltende Blockierung der divergierenden Fraktionen in den Staatsorganen verstärkten aber die allgemeine Verunsicherung des Wirtschaftsbürgertums gegenüber dem Staat. Auf dem Feld der Eisenbahnpolitik prägte sich diese Verunsicherung am stärksten aus. Es war auch der Eisenbahnbau, der den engen Zusammenhang von Industrialisierung und grundlegendem politischen Wandel sinnfällig machte und die im Wirtschaftsbürgertum lange Jahre verdrängte „Verfassungsfrage“ in Preußen wieder auf die Tagesordnung setzte.
Nach Meinung der rheinischen Protagonisten des Eisenbahnbaus sollte eine umfangreiche staatliche Beteiligung das finanzielle Risiko der Privatinvestoren entschärfen, den Bahnbau konjunkturunabhängig machen und zur raschen Vollendung eines Streckennetzes beitragen, das auch unrentable Teilstrecken umfassen konnte. Einer kräftigen monetären Beteiligung stand aber die sog. Staatsschuldenverordnung von 1820 entgegen, in der sich der hochverschuldete preußische Staat – um die Finanzmärkte zu beruhigen – ausdrücklich verpflichtet hatte, die zukünftige Aufnahme von Krediten von der „Zustimmung und ... Mitgarantie der künftigen reichsständischen Versammlung“ abhängig zu machen. Diese Verordnung wirkte fortan wie eine „Schuldenbremse“, wurde die Einberufung eines gesamtstaatlichen Parlaments doch von der seither regierenden Machtelite in Berlin rigoros abgelehnt.
Zwar begann der preußische Staat seit 1842 seine wirtschafts- und finanzpolitischen Positionen zu modifizieren, aber die Resultate waren völlig unzureichend. So beschloß das Regierungskabinett unter dem neuen König Friedrich Wilhelm IV. eine staatliche Zinsgarantie für alle im Bau befindlichen privaten Bahnlinien in Höhe von 3,5 Prozent sowie eine weitgehende Steuerbefreiung der Bahngesellschaften. Den unter anderem durch diese Entscheidung mitverursachten Eisenbahnboom bremste die Regierung im Frühjahr 1844 aber dann – zum Nachteil der Konjunktur – durch eine restriktive Börsenverordnung abrupt ab, weil die Umleitung der gesellschaftlichen Ersparnisse in den Eisenbahnsektor die Kreditaufnahme der Großgrundbesitzer verteuert hatte und v. a. die Kurse der Staatschuldscheine und Pfandbriefe in Mitleidenschaft zu ziehen begann. „Die staatliche Politik bewirkte, dass der erste industrielle Boom der deutschen Wirtschaft sich unter der Bedingung einer nicht funktionstüchtigen Börse vollziehen mußte“ (Kopsidis). Auch von einer den ökonomischen Erfordernissen angepaßten Geldpolitik konnte in Preußen weiterhin keine Rede sein. Auf der Basis einer reinen Metallwährung war es kaum möglich, die Geldmenge dem wirtschaftlichen Wachstum entsprechend schnell genug auszuweiten. Zwar erfolgte in Preußen nach dem Zusammenbruch der Kreditmärkte zur Mitte der 1840er Jahre ein langsames Umdenken, und die Königliche Bank wurde 1846 in die Preußische Bank mit höherer Kapitalausstattung, kontingentierter Notenausgabe und einem etwas erweiterten Filialnetz in den Provinzen umgewandelt. Die Preußische Bank verfolgte aber weiterhin eine im Ergebnis restriktive Geldpolitik, griff in die sich anbahnende Wirtschaftskrise 1847 kaum ein und ließ zu Beginn des Jahres 1848 bedeutende Unternehmen und Banken, v. a. in den Westprovinzen, faktisch zusammenbrechen.
In den Augen vieler rheinischer Wirtschaftsbürger der um 1800 geborenen Generation eines Camphausen, die um 1840 führende Positionen in der rheinischen Wirtschaft zu übernehmen begannen, war der antikonstitutionelle preußische Staat mit seiner „Beamtenherrschaft“ weder dazu fähig, die großen Fragen der Zeit zu erkennen, eine langfristige Rahmenpolitik für die angestrebte Industrieentwicklung zu entwerfen und eine gezielte staatliche Infrastrukturpolitik zu betreiben, noch war er dazu in der Lage, die Geldmittel dafür zu mobilisieren.
Aber nicht nur industrialisierungspolitische Erfordernisse führten dazu, daß das rheinischen Wirtschaftsbürgertum seit den frühen 1840er Jahren die „Verfassungsfrage“ stellte und die Teilhabe an der Macht im Gesamtstaat ansteuerte. Denn in einer Zeit rascher ökonomischer Veränderungen und sozialer Spannungen in vielen Ländern Europas schien zunehmend mehr Wirtschaftsbürgern das politische System des preußischen Staates überaus instabil und gefährdet.
1845 gelang dem rheinischen Liberalismus als politische Bewegung nicht zuletzt aus sicherheitspolitischen Erwägungen heraus der Durchbruch zur Mehrheitsfähigkeit im Wirtschaftsbürgertum der gewerblich entwickelsten Provinz Preußens. Nur ein konstitutioneller preußischer Staat, der den neuen Führungsanspruch der Industrie und die Liberalisierung zentraler Bereiche des öffentlichen Lebens, akzeptierte, konnte - das stand für die Mehrheit nicht nur des rheinischen Wirtschaftsbürgertums im späten Vormärz fest - die industrielle Konkurrenz mit den westeuropäischem Ausland bestehen und die politische Stabilität in einer Zeit beschleunigten Wandels und sozialer Unruhe garantieren.
Politik des Ministeriums Camphausen/Hansemann
Die Auseinandersetzung zwischen Wirtschaftsbürgertum und Staat erreichte auf dem Vereinigten Landtag von 1847 ihren Höhepunkt. Das ausschlaggebende Motiv für die Einberufung dieser ersten gesamtstaatlichen Ständeversammlung war die prekäre Finanzsituation des preußischen Staates: Der Vereinigte Landtag hatte jedoch kaum größere Kompetenzen als die anachronistischen Beratungsversammlungen der Provinziallandtage. Er endete schließlich in einem machtpolitischen Patt zwischen Wirtschaftsbürgertum und Staat. Dieses machtpolitische Patt mit der alten staatlichen Herrschaftselite konnte das preußische Wirtschaftsbürgertum und seine rheinische Führungscrew aber schon wenige Monate später mit einem entschieden liberalen doch zugleich staatsloyalen Programm durchbrechen. Kurz nach den Berliner Barrikadenkämpfen Ende März 1848 mußte sich der König dazu durchringen - um Schlimmeres zu verhüten -, den Kölner Großkaufmann Camphausen (1803 – 1890) zum ersten bürgerlichen Ministerpräsidenten Preußens zu ernennen und den Aachener Wollhändler und Bankier Hansemann (1790 – 1864) zu seinem Finanzminister. Die Politik der wirtschaftsbürgerlichen Kabinette Camphausen und Hansemann, die bereits nach wenigen Monaten im Kreuzfeuer der Kritik von Demokraten und schließlich der konservativen Reaktion scheiterten, spiegeln freilich das Dilemma zwischen einem bereits im Vormärz entwickelten Industrialisierungsprogramm und fehlendem sozialpolitischen Gestaltungswillen des rheinischen Wirtschaftsbürgertums wider. Ohne eine - auch nur ansatzweise - Massenloyalität stiftende gewerbe- und sozialpolitische Konzeption hoffte die Regierung allein auf einen Wirtschaftsaufschwung und auf die, bereits in der Wirtschaftskrise von 1830 erprobten, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.
In den meisten deutschen Staaten gehörten die Überwindung der akuten Wirtschafskrise und die Beseitigung der schon seit Herbst 1847 prekär werdenden Zahlungsmittel- (und damit mittelbar zusammenhängend auch der Kredit-) Knappheit zu den wichtigsten Aufgaben der liberalen „Revolutionsregierungen“. In Preußen wurde „die Herstellung des Kredits im Innern“ von Hansemann besonders konsequent angegangen. Bereits im April 1848 errichtete er in 13 preußischen Städten Darlehenskassen zur Unterstützung der Wirtschaft, die mit 10 Millionen Talern Papiergeld (staatliche Kassenanweisungen) ausgestattet wurden. Darüber hinaus hatte er noch vom ständischen „Vereinigten Landtag“ eine Anleiheberechtigung von 25 Millionen Talern genehmigt bekommen; eine Summe – fast halb so groß, wie der offizielle preußische Jahreshaushalt - , die zu einem erheblichen Teil in die Rettung von Großunternehmen oder an gut organisierte Interessensverbände floß.
Sein entschlossenes Agieren zur Rettung der Schaaffhausenschen Bank in Köln, die mit staatlicher Garantie für die Gläubiger die zu Aktionären gemacht wurden in die erste preußische Aktienbank umgewandelt wurde, verhinderte darüber hinaus den Folgebankrott von zahlreichen Firmen in den rheinischen Gewerbelandschaften, der die Zahl der Arbeitslosen noch einmal beträchtlich erhöht hätte. Das Ministerium Camphausen/Hansemann revolutionierte mit seinen Sofortmaßnahmen zur staatlichen Kreditgarantie das patriarchalische Finanzgebaren des preußischen Staates und wies diesem erstmals, und das war historisch neuartig, die letztendliche Verantwortung für das Wirtschaftsleben zu.
Die Finanzmittel kamen nicht – wie bei der Arbeitsbeschaffung in den Krisen von 1816 und 1830/32 oder bei den Maßnahmen der Gewerbeförderung des Vormärz – aus dem laufenden Haushalt, sondern mußten aufgrund der schieren Größenordnung durch Staatsverschuldung bzw. Geldschöpfung gewonnen werden. Dadurch wurde eine neue Qualität erlangt, d. h. die Funktion und Funktionsweise des Staates als industrieller Produktionsfaktor, das staatliche Aufgabenregime selber, veränderte sich. Allein in Preußen betrug die durch Anleihen finanzierte Vermehrung der Staatsausgaben vom Frühjahr 1848 bis zum Jahre 1850 33 Millionen Taler. Erstmals wurde die Finanzpolitik zu einem Wachstumsstimulus.
Die Ära von der Heydt
Obwohl das Wirtschaftsbürgertum in den Revolutionsjahren keine gleichberechtigte Machtteilhabe in Berlin erreichte, konnte es in den 1850er Jahren viele jener Ziele verwirklichen, die es teilweise mehr als ein Jahrzehnt zuvor auf seine Fahnen geschrieben hatte. Unter der Ägide August von der Heydts, der sich im Verlauf des Jahres 1848 vom liberalen rheinischen Oppositionellen zum konservativen Minister wandelte, nahm vor allem die seit langem geforderte, neue Rahmen - und Infrastrukturpolitik des Staates rasch Konturen an.
So setzte von der Heydt (1801 – 1874) – zunächst Handelsminister bis 1862, dann von 1866 bis 1869 einflußreicher Finanzminister – seit 1849 innerhalb weniger Jahre im Abgeordnetenhaus Staatsanleihen für den Eisenbahnbau in Höhe von mehr als fünfzig Millionen Taler durch. Sie dienten anfangs der Übernahme privater Bahngesellschaften und dem Weiterbau stillgelegter Bahnprojekte, dann aber zunehmend dem Ausbau eines verzweigten Streckennetzes v. a. zwischen den Gewerbezentren der Westprovinzen. Darüber hinaus übernahm der preußische Staat bis Ende 1857 Zinsgarantien für private Eisenbahninvestitionen in Höhe von 79 Millionen Talern. Von 1848 bis 1865 nahm der Umfang der Staatsverschuldung in Preußen um mehr als 100 Prozent zu, d. h. um 178 Millionen Taler, die hauptsächlich in den Eisenbahnsektor flossen.
Von der Heydt, der zu einer Art „pro cura“-Verwalter der wirtschaftsbürgerlichen Interessen wurde, stand mit seiner ganzen Person für die Fortdauer der „finanzpolitische Wende“ der Revolutionsjahre Preußens, d. h. für die Inanspruchnahme – nun verfassungskonformen – öffentlichen Kredits für ökonomische Ziele in großem Stil. Denn Preußen hatte nun endlich eine Verfassung und mit dem Abgeordnetenhaus eine Art „Parlament“. Das überzeugte die bereits damals schon internationalen Finanzmärkte. Über das Parlament wurden nämlich die Bürger als Steuerzahler für die Staatschulden in Haftung genommen. Ebenso nachdrücklich wie seine auf eine preußische Staatsbahn zielende Eisenbahnpolitik verfolgte von der Heydt die bereits von Hansemann 1848 eingeleitet Revision des Bergrechts.
Bis Mitte der 1850er Jahre wurden außerdem 63 Prozent des industriellen Anlagekapitals der Staatsholding „Seehandlung“ – des bis dahin größten Unternehmens in Preußen - verkauft. Elf staatliche Fabriken mit einem geschätzten Wert von 6,6 Millionen Talern wechselten in die Hände privater Unternehmer.
Zwar blieb das Aktiengesellschaftsrecht von 1843 bestehen, die Konzessionierung neuer Aktiengesellschaften wurde aber im Gegensatz zum Vormärz überaus großzügig gehandhabt. Zwischen 1850 und 1857 wurden in Preußen dreimal so viel Aktiengesellschaften gegründet wie in vier Jahrzehnten zuvor: 295 neue Aktiengesellschaften mit einem Gesamtkapital von 800 Millionen Talern. Dieser wirtschaftspolitische Wandel wurde auch durch einen durch die Revolutionsjahre beschleunigten Wechsel in den Spitzenpositionen der preußischen Bürokratie unterstützt. Eine neue Generation von Beamten – etwa Rudolf Delbrück (1817 – 1903) oder Otto Camphausen (1812 – 1896), der jüngere Bruder von Ludolf Camphausen – rückte auf, die bereits in den Kategorien eines tendenziell unbegrenzten Wirtschaftswachstums, ja sogar eines Primats der Industrie denken konnten. Delbrück und der Rheinländer Otto Camphausen beeinflussten noch bis in die späten 1870er Jahre maßgeblich die Berliner Wirtschaftspolitik.
In der Bankpolitik hielten in den 1850er Jahren die Auseinandersetzungen zwischen Wirtschaftsbürgertum und Staat in Preußen aber an. Der Staat weigerte sich weiterhin, seine Autorität bei der Kredit- und Geldversorgung durch die Gründung weiterer privater Aktienbanken schmälern zu lassen. Erst durch die Gründung zahlreicher Privataktienbanken in kleineren deutschen Nachbarstaaten, nicht selten unter Federführung rheinischer Wirtschaftsbürger, sah sich der Staat 1856 gezwungen – aus Furcht die Kontrolle über die eigene Ökonomie zu verlieren – eine richtungsweisende Modernisierung der Preußischen Bank einzuleiten. V. a. wurde die bis dahin übliche Einschränkung der Notenemission durch im Voraus von der Regierung festgesetzte Höchstmengen aufgegeben. Dadurch wurde es der Preußischen Bank ermöglicht, den Umlauf von Zentralbankgeld kurzfristig zu erhöhen und die Geldmenge erstmals der realwirtschaftlichen Konjunktur anzupassen.
Die beginnende Deregulierung des Bergbaus, die erleichterte Konzessionierung von Aktiengesellschaften und die allgemein erhöhte Anerkennung industrieller Interessen in der staatlichen Bürokratie dürfen aber nicht den Blick dafür verstellen, daß die preußische Wirtschaftspolitik der 1850er Jahre auf eine aktive staatliche Begleitung und Moderierung der nun grundsätzlich akzeptierten Entwicklung der Industrie im großen Stil setzte. In diesem Kontext ist auch die auf verschiedenen Wegen auf Verstaatlichung hinauslaufende Eisenbahnpolitik zu sehen, die auf eine wirkungsvolle gesamtökonomische Feinsteuerung durch Kontrolle des – noch dazu gewinnbringenden – Leitsektors industrieller Entwicklung zielte. Unter von der Heydt wurden Elemente einer Staatsintervention erprobt, die sich dann nach der sog. „liberalen Epoche“ von 1860 bis 1879 als typisch für das Deutsche Kaiserreich ausprägten: die Moderierung des Industrialisierungsprozesses durch eine „produktive Ordnungspolitik“ (Abelshauser).
Fazit: Berlin begann seit den 1850er Jahren die Unabwendbarkeit einer anhaltenden Industrieentwicklung in Richtung auf einen Industriestaat, zumindest aber die Gleichberechtigung industrieller Interessen, gewissermaßen zu internalisieren. Die Industrie sollte nicht mehr – so die Staatsräson des Vormärz – gesamtgesellschaftlich begrenzt werden und der Agrarwirtschaft untergeordnet bleiben. Dieser Kurswechsel, wie zögernd und bejahend auch immer, enthielt das Eingeständnis der alten staatlichen Machtelite, dass die Stärkung der preußischen Staatsmacht fortan untrennbar mit den schrankenlosen Wachstum der Industriekraft zusammenhing.