Preußische Reformen und regionale Identität: das Bergische Land 1814 – 1890
Am 28. Februar 2015 hielt Prof. Dr. Rudolf Boch den Vortrag „Preußische Reformen und regionale Identität: das Bergische Land 1814 – 1890“ während der Tagung "Selbstverortungen. Reformgeschichte und Geschichtskultur im 19. und 20. Jahrhundert". Die vom Bergischen Geschichtsverein veranstaltete Tagung fand anlässlich des 75. Geburtstages des Historikers Jürgen Reulecke an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal statt.
Sehr geehrte Damen und Herren,
vor einem Jahr fragte Dr. Pielhoff bei mir an, ob ich anläßlich des 75. Geburtstages des geschätzten Jürgen Reulecke einen Vortrag zur regionalen Identitätsbildung im Bergischen Land, z. B. im Spannungsfeld zu den preußischen Reformen nach 1815 halten könnte. Da ich ohnehin gerade an einem längeren Beitrag zum 2. Band der Geschichte des Bergischen Landes schrieb und die Fragestellung meine Neugier weckte, sagte ich zu – trotz meiner Skepsis gegenüber dem schillernden Begriff Identität und trotz meiner Skepsis, ob man im 19. Jahrhundert überhaupt noch eine virulente „bergische Identität“ jenseits der bürgerlichen Bemühungen des Bergischen Geschichtsvereins um nachträgliche Identitätskonstruktion heraus kristallisieren könne.
Bei meinem Zugriff auf das Thema klammerte ich Identität, die von außen zugewiesen wird dezidiert aus und konzentrierte mich auf die Identitätsbildung von innen, bei der – so eine weithin akzeptierte Ansicht – eigene Vorstellungen vom Selbst sowohl durch eigene Interessen und Bedürfnisse als auch über Abgrenzung oder Aneignung entwickelt werden. Dennoch erschien mir das Unterfangen als ebenso schwierig wie eine als Einheit zu fassende bergische Geschichte nach der Auflösung des alten Herzogtums 1806 zu schreiben, wurde doch das Herzogtum Berg recht zügig von der Ausbildung moderner Staatlichkeit – seit 1815 im preußischen Gewand – überrollte und auf den ersten Blick erstaunlich schnell ein erheblicher Teil seiner Eigenarten nivelliert.
Noch dazu wurde sein Territorium verschiedenen preußischen Regierungsbezirken zugeteilt: der Süden des Bergischen Landes wurde dem Regierungspräsidium Köln zugeschlagen, der Norden bildete den ebenfalls auch linksrheinische, d. h. vormals nicht zu Berg gehörende Gebiete umfassenden Regierungsbezirk Düsseldorf. Zugleich wurden die neuen preußischen Verwaltungseinheiten zu Teilen eines größeren Ganzen: der Rheinprovinz im Königreich Preußen. Das wiederum scheint überraschend schnell die Ausbildung einer neuen Identität des Wirtschaftsbürgertums der bergischen Gewerbestädte begünstigt zu haben, welches ohnehin überwiegend zu den Gewinnern der preußischen Reformen zählte. Es verstand sich zunehmend als Teil der „bürgerlichen Gesellschaft“ und der entstehenden „bürgerlichen Öffentlichkeit“ der Rheinprovinz, entwickelte mithin – zumindest in großen Teilen – durch Aneignung neue Vorstellungen vom Selbst.
Die durchaus in Berlin gewollte, wenn auch in der politischen Sphäre begrenzte Besserstellung des grundbesitzenden Wirtschaftsbürgertums war für die übergroße Mehrheit der Bevölkerung des verblichenen Herzogtums freilich nicht von Belang. Direkt und selten vorteilhaft betroffen waren die zahlreichen lohnarbeitenden Handwerker, die Bauern, die Tagelöhner, aber auch die kleinbürgerlichen Existenzen dagegen von jenen neuen Gesetzen und Verordnungen sowie den Kontinuitäten im Verwaltungshandeln der preußischen Administration, die tief in das alltägliche Leben und die ökonomische Existenzsicherung eingriffen. Überdauerten vielleicht in Widerstand gegen die neuen Zumutungen für die „kleinen Leute“ eine Art von „bergischer Identität“ oder formte sich dadurch aus? Sieht doch der Dortmunder Politologe Thomas Meyer in seinem 2002 entwickelten Modell von Dimensionen und Ebenen kultureller Identität insbesonders den Traditionalismus, der überkommene kulturelle und soziale Traditionsbestände gegen Veränderungen zu verteidigen trachtet als grundlegend für Identitätsbildungsprozesse. Um etwa aus Traditionsbeständen eine „kollektive Identität“ zu entfalten, bedarf es laut Bernhard Giesen (1999, S. 119) freilich der „Selbsterfahrung kollektiver Akteure im gemeinsamen Handeln“ oder zumindest – so Armin Triebel 2004, S. 77 – „gruppenkonstituierende Identifikationsprozesse“.
Die Frage musste also lauten: Verletzten preußische Reformen ältere Werthaltungen oder soziale Regelmechanismen, und wenn ja, entwickelte sich daraus ein Grad von Widerständigkeit zumindest einer größeren Gruppe der Bevölkerung, der vielleicht gar die Ebene gemeinsamen Handelns und dadurch identitätsstiftende Kraft erreichte? Lassen Sie uns die wichtigsten Reformgesetze in diesem Sinne Revue passieren.
1. Reformgesetze, Verwaltungshandeln und ihre Rückwirkungen auf breite Bevölkerungsschichten
Zwar sollen die preußischen Beamten und Militärs im Bergischen Land in der Regel freundlicher empfangen worden sein als in den linksrheinischen Gebieten. Fest steht aber: Die verschiedenen neuen Gesetze ließen keineswegs eine borussophile Stimmung aufkommen. So hatten etwa die preußischen Steuerreformen zwischen 1818 und 1822, die auch zu einer Steuervereinheitlichung im Gesamtstaat führten eine bereits kurzfristig wirkende Umverteilung der Steuerlast von Ost nach West und von oben nach unten zur Folge. Auch im Bergischen Land verlagerte sich die Steuerlast auf die ärmere Bevölkerung, freilich ohne dass es über ein beständiges Murren hinaus zu nachhaltigen Protesten kam.
Mit dem Besitzergreifungspatent des preußischen Königs wurde im Bergischen Land zugleich die „Allgemeine Wehrpflicht“ eingeführt. Zwar hatten die immer hastigeren französischen Truppenaushebungen im verbündeten Großherzogtum Berg in der Endphase des napoleonischen Regimes fast das Ausmaß einer allgemeinen Wehrpflicht erreicht. Doch konnten sich Wohlhabende durch Gestellung eines „Replacant“ (bezahlter Ersatzmann) der Einberufung entziehen und hegten die „einfachen Leute“ die Hoffnung, dass der Krieg nicht mehr lange währen und dann wieder eine normale Zeit – wie im alten Herzogtum - ohne verhassten Militärdienst anbrechen würde. Doch die preußische Wehrpflicht war auf Dauer ausgelegt und auch keine Ausnahmeregelung wie etwa die Stellung eines Ersatzmannes vorgesehen. Allerdings wurde im Rahmen der allgemeinen Wehrpflicht eine Ungleichbehandlung „durch die Hintertür“ wieder eingeführt: junge Männer aus wohlhabenden und gebildeten Schichten, die Unterhalt, Uniform und Waffen selbst finanzieren konnten, mussten lediglich eine einjährige Dienstzeit absolvieren und durften noch dazu in Privatquartieren außerhalb der Kasernen wohnen. Trotzdem versuchten viele Söhne von betuchten Wirtschaftsbürgern oder wohlhabenden Bauern häufig erfolgreich – sehr zum Ärger der zuständigen Regierungsstellen in Düsseldorf oder Köln – eine vollständige Befreiung vom Wehrdienst zu erreichen. Das zeigt, wie unbeliebt die preußische Armee selbst in den „staatstragenden“, privilegierten Schichten im Bergischen Land noch für geraume Zeit war. Eingezogen wurden vor allem junge Männer aus den unteren sozialen Schichten. Sie konnten nur auf ihr Glück beim sog. Losverfahren hoffen. Dieses musste bald eingeführt werden, weil es durch das hohe Bevölkerungswachstum mehr junge Männer gab, als das preußische Heer überhaupt an Soldaten benötigte. Der Rekrutierungsdruck auf die wehrpflichtige Bevölkerung hielt sich daher in Grenzen.
Die Wehrpflicht stärkte bis in die Reichsgründungszeit im Bergischen Land wie auch in der sonstigen Rheinprovinz antipreußische Ressentiments, zu einer besonderen „bergischen Identität“ wuchs sich die negative Haltung zum Wehrdienst aber nicht aus. Die unerlaubte Abwesenheit bei Musterung und Aushebung lag unter den Werten des ostelbischen Preußen. Zwar waren einige bergische Landwehreinheiten in der Endphase der Revolution im Mai 1849 unzuverlässig, die Linienregimenter konnten dagegen stets gegenrevolutionäres Aufbegehren eingesetzt werden. Das Privileg der einjährigen Dienstzeit wurde schon im späten Vormärz offenbar von immer mehr Bürgersöhnen vorbehaltlos angenommen. Die bergischen Rekruten und Reserveoffiziere in den rheinischen Regimentern der preußischen Armee konnten auch 1866 im „Bruderkrieg“ gegen Sachsen und Österreicher ohne erkennbare Widerstände eingesetzt werden und zogen gegen Frankeich schließlich mit Gefühlen nationaler Begeisterung. Die zunehmende Identifikation mit dem neuen deutschen Staat machten aus preußischen Regimentern auch in der Wahrnehmung im Bergischen seit 1870 „deutsche Streitkräfte.“
Die Durchsetzung der vom preußischen König 1827 erlassenen Allgemeinen Schulpflicht wurde zunächst von den zuständigen Behörden nicht so intensiv verfolgt, wie die der Allgemeinen Wehrpflicht. Vor allem waren es in diesem Fall die ländlichen und städtischen Unterschichten, die sich dieser Pflicht entzogen. Schulen wurden noch lange Jahre nur von denjenigen Kindern besucht, die von ihren Eltern nicht bei der Arbeit gebraucht wurden. Weniger die Kinder von Handwerker-Arbeitern der alten Exportgewerbe als vielmehr die Kinder in den frühen Spinnfabriken oder Papiermühlen des Bergischen Landes wuchsen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts mit völlig unzureichendem oder ohne Schulunterricht auf. Zahlreiche Kinder, v. a. in den eher ländlichen, nördlichen Regionen gingen zudem unregelmäßig in die Schule. Für die ökonomischen etwas besser gestellten Handwerker-Arbeiter der nördlichen, mehrheitlich protestantischen und gewerblich hoch entwickelten Gebiete des Bergischen Landes war die Schulpflicht freilich keine neuartige Zumutung der preußischen Administration, sondern längst gelebte Normalität. In den wenigen Jahren des kurzlebigen Großherzogtums Berg als zumindest erste Schritte zur Bestandaufnahme und zur staatlichen Zuständigkeit des Schulwesens unternommen wurden, hatte man schon 1807 festgestellt, dass 83,8 Prozent der Kinder in den protestantischen, aber nur 53,4 Prozent in katholischen Gebieten regelmäßig den – damals noch nicht obligatorischen – Schulunterricht besuchten.
Mit dem Gemeinheitsteilungsgesetz von 1821 beschleunigte die preußische Verwaltung die zuvor zögerlich betriebene Überführung des traditionellen, dem gesamten Dorf gehörenden Gemeindelandes (Allmende) in Privateigentum der örtlichen Landbesitzer. Da sich die preußischen Reformbeamten eine Mobilisierung des Bodenmarktes und eine intensive landwirtschaftliche Nutzung der zumeist wenig fruchtbaren Allmende versprachen, waren die Privatisierungen etwa im Kreis Solingen bereits in den 1830er Jahren weitgehend abgeschlossen. Die landlosen Tagelöhnerfamilien oder auf den Dörfern lebenden Heimarbeiterfamilien verloren dadurch jedoch einen wesentlichen ökonomischen Rückhalt.
Die Fortführung jener seit 1809 im Großherzogtum bereits angestoßenen Agrarreformen, die auf eine Beseitigung feudaler Obereigentumsrechte und die Ablösung von Geld- und Naturalrenten durch Entschädigungszahlungen der eigentlichen Bauern zielten, war für die neue preußische Administration schwieriger und zeitraubender. Sie waren auch zur Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht vollkommen abgeschlossen. Das hing nicht zuletzt damit zusammen, dass die auf die ostelbischen Kerngebiete Preußens zugeschnittenen Gesetze die Realität des Bergischen Landes verfehlten. Im Herzogtum Berg hatte es im feudalrechtlichen Sinn kaum „geteiltes Eigentum“ zwischen Adel und Bauern gegeben und die vergleichsweise schwach ausgeprägten Geld- und Naturalabgaben beeinflussten nicht die Eigentumsverhältnisse.
Insgesamt hatten die auf die bäuerliche Landwirtschaft zielenden Reformen im Bergischen eine viel geringere Relevanz und gesellschaftliche Tiefenwirkung als im ostelbischen Preußen, nicht zuletzt wegen der überwiegenden Mehrheit gewerblich basierter Existenzen. Selbst im Kreis Solingen, dessen Süden durchaus noch agrarisch geprägt war, lebten im Jahr 1830 im Durchschnitt nur noch 31 Prozent der Familien ausschließlich von der Landwirtschaft. Die ökonomischen Folgewirkungen der Agrarreformen waren ambivalent und es fehlte an „kritischer Masse“ für eine Protestbewegung.
Die konsequente Fortführung der 1809 im Großherzogtum Berg durchgesetzten Gewerbefreiheit unter der preußischen Herrschaft, d. h. das Verbot von Handwerkszünften, Kaufmannskorporationen und institutionellen Regelungen einer verbindlichen Lohnfindung in wichtigen bergischen Großgewerben, hatte dagegen Auswirkungen auf das Leben einer weitaus größeren Zahl von Familien, v. a. im gewerbereichen Norden des Bergischen Landes. Die Verkündung der Gewerbefreiheit 1810/11 in Berlin zielte keineswegs nur auf eine Modernisierung des städtischen Handwerks, d. h. auf einen längst überfälligen Bruch mit der „Nahrungsökonomie“, sondern sollte auch die rechtlichen Voraussetzungen für die Tätigkeit einer freien, d. h. in relativer Autonomie vom Staat agierenden, großgewerblichen Unternehmerschaft begründen. Als Symbol und Prinzip beeinflusste die Gewerbefreiheit fortan – im krassen Gegensatz zu den zunehmenden Versuchen einer Restauration von anachronistisch-ständischen Elementen in der Gesellschaftsordnung – die Grundhaltung der preußischen Bürokratie. Die Gewerbefreiheit machte die fragwürdige wirtschaftsliberale Idealvorstellung eines „freien Arbeitsvertrags“ zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber zur Grundlage der Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit. Aus dieser gewerbefreiheitlichen Denkhaltung heraus enthielt sich die preußische Staatsbürokratie dann auch über Jahrzehnte einer gesetzlichen Regelung drängender sozialer Probleme, wie der zunehmenden Kinderarbeit v. a. in den Spinnfabriken oder dem grassierenden, oft betrügerischen Bezahlen von Aufträgen mit Waren statt mit Bargeld in den Heimgewerben. Unter Hinweis auf die geltende Gewerbefreiheit wurden zudem Versuche zur Wiedereinführung von festen, allgemein gültigen Lohnsätzen – heute würde man sagen „Tariflöhnen“ – etwa im Solinger Schneidwarengewerbe entschieden abgelehnt. Bis 1830, gab es mehrere entsprechende Bittgesuche (Petitionen) der Solinger Handwerker-Arbeiter, die darüber hinaus die Wiedereinführung der Meisterprüfung und das Verbot des Warenzahlens forderten. Schon 1826 hatten die Solinger Schneidwarenschleifer ergebnislos für die genannten Ziele einen kurzlebigen Streik initiiert. Auch die letzte Petition von 1830 die sich – unterstützt von einigen etablierten Firmen - direkt an den König in Berlin richtete, wurde in allen Punkten als (Zitat) „dem in den Rheinprovinzen geltenden Gesetzen zuwider“ abgelehnt. Über das Verbot des Warenzahlens wollte man dagegen „nähere Erwägungen“ anstellen. Diese „näheren Erwägungen“ zogen sich in Düsseldorf und Berlin beinahe 18 Jahre hin, bis die Regierung sich unter dem Druck der Revolution von 1848/49 gezwungen sah, das Warenzahlen zu verbieten. Wie stark das Verlangen nach einer „Reregulierung“ insbesondere in den bergischen Großgewerben mit ihren häufig bereits lohnarbeitenden Handwerkern und Heimgewerbetreibenden war, sollte sich bereits in den ersten Wochen der Revolution zeigen. Nur der Widerstand gegen das preußische Verständnis von Gewerbefreiheit hatte meinem Urteil nach „das Zeug“ zur Identitätsstiftung.
2. Die Revolution 1848/49
Bereits in diesen ersten Wochen des politischen Aufbruchs deutete sich an, dass sich das Bergische Land in charakteristischer Weise vom weit größeren linksrheinischen Teil der Provinz unterschied. Die Ausnahmen bildeten nur Düsseldorf sowie recht bald die an Köln grenzenden, katholischen Gebiete des früheren Herzogtums, die eher dem „linksrheinischen Entwicklungsmuster“ des Revolutionsgeschehens als Ausdruck einer breiten demokratischen Volksbewegung folgten. Doch wurde das Bergische Land nicht zu einer „Ruhezone“ der Revolution wie weite Landstriche Nordwestdeutschlands. Vielmehr nahm die Revolution eine deutlich andere Verlaufsform und brachte wegen der ausgeprägten verlagskapitalistischen Gewerbestruktur andere Konfliktmuster hervor.
Am 16. und 17. März 1848 – zwei Tage vor den Berliner Barrikadenkämpfen – entlud sich, scheinbar losgelöst von den „großen“ politischen Ereignissen, ein kollektiver Protest der Solinger Handwerker-Arbeiter gegen die Symbole – so glaubte man – einer neuen Ära kapitalistischer Konkurrenzwirtschaft: die Schneidwaren-Gießerei. Keiner der Beteiligten konnte wissen, dass man eine Produktionstechnik zerstörte, der ohnehin keine große Zukunft beschieden war. Von Bedeutung waren der symbolische Akt und die Manifestation von Gewalt, wenn auch nur gegen Sachen, weil sie zu einer plötzlichen Konzessionsbereitschaft der Solinger Verleger-Kaufleute führten. Diese sahen durchaus den inneren Zusammenhang zwischen den ostentativen Fabrikzerstörungen und der bei den Schneidwarenarbeitern weit verbreiteten Ablehnung einer individuellen Lohnfindung sowie des Warenzahlens. Umgehend kündigten daher zumindest die etablierten Firmen eine Einstellung des Warenzahlens und ihre Bereitschaft zur Mitarbeit bei der Beratung von „Mißständen“ in den Gewerben an. In diesen Wochen des März/April 1848 gab es außerdem seitens der Regierung Düsseldorf keine Behinderung der Suche nach einem sozialen Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit, sondern im Gegenteil eine Förderung dieses Vorhabens durch den reformorientierten Regierungsrat Carl Quentin, um die Gewerberegion aus der anschwellenden revolutionären Bewegung heraus zu halten.
Bereits auf den ersten Sitzungen der lokalen Beratungsgremien warfen die in diese Gremien kooptierten Handwerker-Arbeiter sowie einige konservative (Peter Knecht in Solingen, Johannes Schuchard in Barmen) oder demokratisch orientierte (Wilhelm Jellinghaus in Solingen, Carl Hecker in Elberfeld) Wirtschaftsbürger die Lohnfrage auf. Die Schnelligkeit, Gleichförmigkeit und Hartnäckigkeit, mit der die Forderung nach festen Lohnsätzen, d. h. branchenspezifischen Mindeststücklöhnen, in fast allen Gewerbestädten des Bergischen Landes erhoben wurde sind Indizien dafür, dass die Erinnerung daran in der arbeitenden Bevölkerung auch 1848 noch überaus lebendig war. Diese Forderung war und blieb der Code der kulturellen Identitätsbildung durch Tradition. Ohne tarifähnliche Vereinbarungen war daher die politische Ruhigstellung der lohnarbeitenden Handwerker im Bergischen Land nicht zu haben. Bereits Anfang April 1848 erstreckten sich die „Stipulationen“ genannten Vereinbarungen in vielen Orten neben paritätischen Kontroll- und Beratungsgremien auch auf die Festlegung von Mindeststücklöhnen in den einzelnen Gewerben. Obwohl die „Tarifbewegung“ und die Gründung von „Arbeits“- oder „Ehrenräten“ nicht auf das Bergische Land beschränkt blieben, sondern auch in einigen anderen Gewerbestädten des Rheinlands und des westlichen Westfalens nachweisbar sind, bildete es doch deren eigentliches Zentrum.
Die Bestrebungen der Handwerker-Arbeiter zur „Reregulierung“ ihrer Großgewerbe wurden – wie gesagt – 1848 noch von einigen konservativen wie linksdemokratischen Wirtschaftsbürgern des Bergischen Landes unterstützt. Der alteingesessene Solinger Schneidwarenverleger Peter Knecht (1798 – 1852) hatte schon zu Beginn des Jahres 1845 in seiner im „Elberfelder Kreisblatt“ veröffentlichten Artikelserie „Nebelbilder aus Solingen“ versucht v. a. das notorische Warenzahlen (Trucksystem), das im 18. Jahrhundert verboten war, zu skandalisieren. Der in der eher liberalen „Elberfelder Zeitung“ publizierende Solinger Gewerbegerichtspräsident Wilhelm Jellinghaus (1813 – 1894), dem demokratischen „Jungen Köln“ nahe stehend, und der konservative Knecht traten dann bis 1848 nachgerade als Konkurrenten in der Aufdeckung der aktuellsten „Mißbräuche“ einer „zu weit getriebenen Gewerbefreiheit“ auf. Der Barmer Verleger-Fabrikant Johannes Schuchard (1782 – 1853), der 1837 als bergischer Abgeordneter des Rheinischen Provinziallandtages erfolgreich eine Gesetzesvorlage für die Einschränkung von Kinderarbeit in preußischen Fabriken eingebracht hatte, war noch aus weit konservativerem Holz geschnitzt als Peter Knecht. Die Kinderarbeit in den neuartigen Fabriken war für Schuchard stets nur ein allgemein Aufmerksamkeit erregendes Symbol für die destruktiven Kräfte, die eine entgrenzte und entregelte Industrie – im Wortgebrauch der konservativen Kritiker: der „Industrialismus“ – freisetzen konnte. Schuchard, 1782 geboren und bereits seit dem Ende der napoleonischen Epoche im Mittelpunkt des öffentlichen Lebens stehend, glaubte sich durchaus berechtigt, als Autor zahlreicher Presseartikel ein Urteil über die bessere Vergangenheit und die schlechte Gegenwart der bergischen Gewerbe abgeben zu können.
3. Das Scheitern eines sozialen Ausgleichs
Die Aufbruchsstimmung des Frühjahrs 1848 für eine „soziale Organisation der Gewerbe“ war spätestens im Winter 1848 verflogen. Die Remscheider Verleger-Kaufleute zogen bereits am 2. September 1848 ihre Unterschriften unter die lokale Vereinbarung offiziell zurück. Ende Oktober 1848 sah sich die Solinger „Schwertschmiedebruderschaft“ gezwungen, den Verleger-Kaufleuten erhebliche Lohnreduktionen zu gewähren. Während etablierte Verleger-Kaufleute den festen Lohnsätzen durchaus eine positive Seite abgewinnen konnten, begannen die kleinen Firmen erneut, die größeren bei anhaltend schlechter Konjunktur auf Kosten der Löhne in den Preisen zu unterbieten. Nur in den Textilgewerben des Wuppertals wurden die Lohnvereinbarungen und „Arbeitsräte“ dank einer überwiegend guten „postrevolutionären“ Konjunktur bis etwa 1852 respektiert. Die „Stipulationen“ des Jahres 1848 waren letztlich politische Konzessionen auf kurze Zeit, bestenfalls „Schönwetter“-Verträge, die bei der nächsten schwachen Konjunktur aufgekündigt wurden. Die „Tarifvertragsbewegung“ des Jahres 1848 war aber keine – von ihren Folgewirkungen her betrachtet – belanglose Episode. Mittelfristig führte das eklatante Scheitern der Suche nach tradierten Formen des sozialen Ausgleichs sowie die Erfahrung, dass nicht schriftlich fixierte Vereinbarungen sondern nur die eigene Organisations- und Durchsetzungsfähigkeit zählten, zum Entstehen einer eigenständigen Arbeiterbewegung. Kurzfristig hielt die Aussicht auf feste, höhere Lohnsätze die Handwerker-Arbeiter der bergischen Gewerbedistrikte tatsächlich aus der Revolutionsdynamik des Frühjahrs und Frühsommers 1848 heraus.
Große Teile der lohnarbeitenden Handwerker und Heimarbeite begannen sich erst seit dem Herbst 1848 zu politisieren – einhergehend mit der Ernüchterung über die Chancen eines sozialen Ausgleichs. Bereits im März 1849 stellten sie die Mehrheit in den nun zahlreichen demokratischen Vereinen im nördlichen Teil des Bergischen Landes. In jenen Monaten rückte erstmals die Chance einer auch sozialen Umgestaltung durch Einflussnahme auf der Ebene eines gesamtstaatlichen Parlaments in das Blickfeld der zuvor auf den Mikrokosmos ihrer Gewerbe beschränkten Handwerker-Arbeiter. Die Verteidigung der Reichsverfassung, mithin des Allgemeinen Wahlrechts war nicht nur Anlaß, sondern auch zentrales Ziel der revolutionären Erhebung in Elberfeld, Düsseldorf und Solingen vom 7. bis 17. Mai 1849. Diese überraschende „Fundamentalpolitisierung“, die der Abgrenzung durch Tradition im „Wir - Gefühl“ der Handwerker-Arbeiter die Aneignung von emanzipatorischen Forderungen gegen traditionale gesellschaftliche Hierarchien hinzu fügte, zeigt, dass Identitätsbildung nichts Starres, Abgeschlossenes ist, sondern als Prozeß begriffen werden muss.
4. Die „bergische Identität“ geht vollends auf die Arbeiterbewegung über
Die gesellschaftlichen Spannungen der Revolution, die ein kurzlebiges demokratisches Wahlrecht und ebenso kurzfristige Experimente des sozialen Ausgleichs hervorgebracht hatten, entluden sich letztlich zugunsten eines vollends entfesselten, liberalen Kapitalismus mit nun zunächst „plutokratischem“ Wahlrecht und „starkem Staat“. Fortan wurden daher seit den 1860er Jahren die eigenständige politische Arbeiterbewegung und die sich in der Nachfolge der Innungen und Bruderschaften gründenden lokalen gewerkschaftlichen Fachvereine zur eigentlichen Verkörperung einer spezifischen „bergischen Identität“, die sich aus der Zurückweisung eines entregelten Kapitalismus formte. Nicht zufällig hatte der vom Düsseldorfer „Staranwalt“ Ferdinand Lassalle gegründete „Allgemeine Deutsche Arbeiterverein“ (ADAV) 1864 über die Hälfte seiner Mitglieder im Bergischen Land. Aus ihrer Ablehnung der ungebremsten „Konkurrenzwirtschaft“ wendeten sich viele Handwerker-Arbeiter nun zeitweilig den Ideen des ursprünglich aus Frankreich kommenden „Assoziationssozialismus“ zu, der die Selbständigkeit der Handwerker im Kollektiv erreichen wollte. Doch konnte dieser nicht den älteren Traditionsbestand einer berufsspezifischen Organisierung verdrängen. Zwischen 1869 und 1872 gelang es schließlich zumindest den Handwerker-Arbeitern der nur sehr langsam von technischen Umwälzungen erfassten bergischen Kleineisenindustrien eigenständig, was ihnen um die Mitte des Jahrhunderts nicht gelingen mochte: die Einführung von festen Tariflöhnen und paritätischen Kontrollgremien in den Gewerbezweigen. Die Erfolge der organisierten Arbeiterbewegung, begünstigt durch das seit 1869 gesetzlich erlaubte Koalitions- und Streikrecht und den Wirtschaftsboom der Gründerjahre, brachten mithin zentrale Organisationselemente der Gewerbe des 18. Jahrhunderts wieder zur Geltung, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts von Staat und großen Teilen der Unternehmerschaft aufgekündigt waren – häufig wegen der völlig übertriebenen Entregelung zum Nachteil der Gewerbe.
Allein in der noch bis in die 1890er Jahre von Handwerker-Arbeitern geprägten regionalen Arbeiterschaft lässt sich die Fortdauer einer „bergischen Identität“ erkennen. Spätestens mit dem Aufstieg eines neuen Typs des konservativen bergischen Wirtschaftsbürgers, wie ihn der „Elberfelder Tory“ und preußische Staatsminister August von der Heydt in den 1850er und 1860er Jahren personifizierte, wurde die Arbeiterbewegung für einige Jahrzehnte zum Hüter überkommener bergischer Werthaltungen, hatte doch von der Heydt mit dem älteren Typ, wie ihn Johannes Schuchard oder Peter Knecht repräsentierten, nur die unverbrüchliche Königstreue gemein. Konservativismus paarte sich fortan im Bergischen mit entschiedener Bereitschaft zur vollständigen Durchsetzung des Kapitalismus, allenfalls flankiert durch sehr begrenzte sozialpolitische Maßnahmen, wie etwa die Einführung obligatorischer Ortskrankenkassen für die Lohnarbeiterschaft mit Beitragspflicht der Arbeitgeber.
Literatur Identitätsforschung:
Giesen, Bernhard, Kollektive Identität. Die Intellektuellen und die Nation 2, Frankfurt a. M. 1999, S. 119.
Triebel, Armin, Identitäten und interkulturelle Verständigung im Wirtschaftsleben. Neun Thesen, in: ders. (Hg.), Identitäten und interkulturelle Verständigung im Wirtschaftsleben, SSIP-Mitteilungen Sonderheft 2003, Berin 2004, S. 76 – 81, hier S. 77.
Meyer, Thomas, Identitätspolitik. Vom Missbrauch des kulturellen Unterschieds, Frankfurt a. M. 2002.
Schönhuth, Michael, Das Kulturglossar. Ein Vademecum durch den Kulturdschungel für Interkulturalisten, Begriffe: Identität, kollektive Identität, kulturelle Identität (http://www.kulturglossar.de/html/i-begriffe.html).
Niethammer, Lutz (unter Mitarbeit von Axel Doßmann), Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek 2000.
sowie:
Spoerer, Mark, Steuerlast, Steuerinzidenz und Steuerwettbewerb, Verteilungswirkung der Besteuerung in Preußen und Württemberg (1815 – 1913), Berlin 2004