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Pressestelle und Crossmedia-Redaktion
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Pressemitteilung vom 24.10.1997

Das Leben im Grenzgebiet im Spiegel der Wissenschaft

Wie die erzgebirgischen Sachsen und Tschechen ihre Zukunft sehen

Sie reichen Jahrhunderte zurück - die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und persönlichen Bande zwischen Sachsen und Böhmen im erzgebirgischen Raum. Ihr Ende nahmen sie erst als Folge des Nationalsozialismus - zu DDR-Zeiten war die Tschechoslowakei zwar ein "sozialistisches Bruderland", doch allzu intensiv waren die Kontakte trotz verhältnismäßig durchlässiger Grenze nicht. Dabei spielte wohl auch eine Rolle, daß in der DDR stationierte sowjetische Panzer 1968 mithalfen, den Prager Frühling niederzuwalzen, ein Ereignis, das ungute Erinnerungen weckte.

Doch seit Öffnung der Grenzen sind Besuche hüben und drüben unkompliziert möglich. Zudem ist grenzübergreifende Zusammenarbeit, etwa auf den Gebieten des Umweltschutzes oder der Verkehrsplanung, auch ein Gebot der Vernunft. Und in absehbarer Zeit wird Tschechien Mitglied in der EU werden. Was lag also näher, als - Vorbildern in anderen Teilen Europas folgend - im deutsch-tschechischen Grenzraum Euroregionen zu gründen.

Jetzt haben erstmals Wissenschaftler beiderseits der Grenze untersucht, wie die Bewohner der "Euregio Egrensis" und der "Euroregion Erzgebirge" die Entwicklung im Grenzgebiet einschätzen: die Geographen Prof. Dr. Peter Jurczek von der Chemnitzer Uni sowie Dr. Jaroslav Dokoupil und Dr. Stanislav Mirvald von der Westböhmischen Uni Pilsen/Eger. Tatkräftige Hilfe dabei bekamen sie von deutschen und tschechischen Studenten.

Die Studenten befragten insgesamt 1.100 Personen beiderseits der Grenze, von denen rund zwei Drittel schon mehr als 26 Jahre in der Region lebten; nur jeder zehnte Befragte lebte weniger als zehn Jahre hier. Der Anteil der neu Zugezogenen lag in Böhmen doppelt so hoch wie in Sachsen. Mehr als die Hälfte der Befragten war im Grenzgebiet geboren. Wer zugezogen war, tat dies zumeist, um hier zu arbeiten (jeder Zehnte), zu heiraten (ebenfalls jeder Zehnte), oder weil er hier eine Wohnung gefunden hatte (in Sachsen jeder 25., in Böhmen jeder Zehnte). Jeden Siebten hatte es aus anderen Gründen hergezogen, etwa wegen der schönen Wohngegend oder weil die Eltern hier seßhaft wurden.

Zwei Drittel der Bewohner waren mit dem Leben im Grenzgebiet "eher zufrieden", ein Drittel "eher unzufrieden". Dabei waren die Sachsen etwas häufiger zufrieden als die Böhmen, Männer häufiger als Frauen, Jüngere und Ältere häufiger als Mittelalte. Auffällig dabei: Je näher die Menschen an der Grenze wohnen, desto mehr nimmt ihre Zufriedenheit ab, von mehr als vier Fünftel auf weniger als zwei Drittel.

Für die allermeisten Menschen (91,5 Prozent) hat sich das Leben mit der Öffnung der Grenzen 1989 verändert, für die Böhmen noch häufiger als für die Sachsen. Doch daß die Öffnung nur Verbesserungen mit sich brachte, meint nicht einmal jeder Fünfte. Ein Drittel der Befragten ist dagegen der Meinung, daß die Öffnung im wesentlichen nur Verschlechterungen brachte, ein weiteres Drittel, daß sich Verschlechterungen und Verbesserungen in etwa die Waage halten.

Positiv vermerken vier von zehn Sachsen, allerdings nur jeder zehnte Böhme, daß sich die allgemeine Lebensqualität verbessert hat. Jeder Fünfte - jenseits der Grenzen etwas mehr Menschen als diesseits - loben die verbesserten Kontaktmöglichkeiten zu Verwandten und Freunden auf der jeweils anderen Seite. Für jeden vierten Sachsen und jeden zehnten Böhmen hat sich zudem die finanzielle Situation gebessert. Die Arbeits- und die Verkehrssituation sowie ganz allgemein das psychologische Klima haben sich ebenfalls für jeweils um die zehn Prozent der Bevölkerung gebessert. Eine genaue Analyse zeigt allerdings in den einzelnen Ortschaften beträchtliche Unterschiede. Im direkt an der Grenze liegenden Bärenstein etwa hat sich für 61,4 Prozent die Lebensqualität verbessert, 20 Kilometer weiter in Jáchymow (Joachimsthal) empfinden dies nur 4,6 Prozent. Von der Arbeitssituation meinen dies 29,8 Prozent der Bewohner Potuckys (Breitenbach), jedoch nur 8,8 Prozent aus dem direkt gegenüberliegenden Johanngeorgenstadt, 2,2 Prozent aus dem Kurort Oberwiesenthal und 2,8 Prozent aus Klásterec nad Ohri (Klösterle an der Eger). Auch die anderen Einschätzungen unterscheiden sich von Ort zu Ort.

Als Negativpunkte der Grenzöffnung wird die Belastung der Umwelt, etwa durch mehr Autos, an erster Stelle genannt, dicht gefolgt von der gestiegenen Kriminalität (je ein Drittel der Befragten). Für die Deutschen wiegen diese Probleme mit jeweils weit über 40 Prozent schwerer als für die Tschechen, wo nur etwa jeder Vierte so empfindet. Auch den persönlichen Kontakten scheint die Grenzöffnung keinen besonderen Schub gegeben zu haben. Im Jahr acht nach der Wende haben nur etwas mehr als ein Drittel der Bewohner der Region direkte Beziehungen zu Menschen auf der anderen Seite, meist zu Freunden und Bekannten (60 Prozent) und zu Verwandten (45 Prozent), berufliche Kontakte sind mit 15 Prozent eher selten. Erstaunlich dabei: die Böhmen haben zweieinhalb mal so häufig Kontakte zu den Sachsen wie umgekehrt (48,9 Prozent zu 21,3 Prozent). Das könnte auch daran liegen, daß immerhin 45 Prozent der befragten Böhmen deutsch sprechen können, weitere 22 Prozent es zumindest verstehen - bei den Sachsen liegen die Vergleichszahlen bei beschämenden 0,4 beziehungsweise 7,4 Prozent. Auch die Bereitschaft, die Sprache des anderen zu lernen, ist in Tschechien rund neunmal höher. Auf tschechischer Seite spielen bei den Kontakten Verwandte die Hauptrolle, möglicherweise ein Überbleibsel der sudetendeutschen Vergangenheit der Grenzgebiete.

Gegenüber der Zeit vor 1989 hat sich der Anteil der häufigen Besucher nahezu verdoppelt, der Anteil der nur gelegentlichen Besucher blieb dagegen in etwa gleich. Auch die Gründe für den Besuch des Nachbarlandes - hauptsächlich Einkäufe, Tourismus, Besuch von Freunden, Bekannten und Verwandten - haben sich nur geringfügig verschoben. Die Einstellung zum jeweiligen Nachbarn hat sich nach der Wende ebenfalls nur bei jedem Zehnten geändert - wenn, dann eher zum Schlechteren. Daß Kontakte zu anderen die Toleranz fördern, so weiß man auch aus Untersuchungen an Urlaubern, trifft also nicht generell zu. Bleibt zu hoffen, daß die untersuchten Euroregionen - deren Aktivitäten immerhin jedem dritten Grenzlandbewohner bekannt sind - beiden Völkern wieder zu jenen guten Beziehungen verhelfen, die in den vergangenen Jahrhunderten ihren Ruf als Kulturnationen im Herzen Europas begründeten.

(Autor: Hubert J. Gieß)

Weitere Informationen: Technische Universität Chemnitz, Philosophische Fakultät, Professur Sozial- und Wirtschaftsgeographie, Reichenhainer Str. 39, 09107 Chemnitz, Prof. Dr. Peter Jurczek, (03 71) 5 31-49 11, Fax (03 71)5 31- 40 58, E-mail: peter.jurczek@phil.tu-chemnitz.de