Pressemitteilung vom 12.11.1999
Vom öffentlichen Gebrauch der Widerstandsforschung ...
Vom öffentlichen Gebrauch der Widerstandsforschungoder: Die Logik des Verdachts
Von Prof. Dr. Alfons Söllner, Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Chemnitz und Spezialist für die Geschichte der Hitler-Emigranten
Lothar Fritze, Privatdozent an der TU Chemnitz und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Dresdener Hannah-Arendt-Instituts, hat am 8. November 1999 in der Frankfurter Rundschau den Versuch unternommen, das fehlgeschlagene Hitler-Attentat des Georg Elser einer moralphilosophischen Bewertung zu unterziehen. Der Text führt einen ebenso vorsichtigen wie umständlichen Gedankengang durch: er beginnt mit der Annahme, dass das Attentat auf Hitler grundsätzlich gerechtfertigt war, zieht dann jedoch die Mittel seiner Ausführung in Zweifel. Vor allem habe Elser nicht hinreichend geprüft, wie zielsicher diese Mittel waren und wie die Mitleidenschaft unschuldiger Dritter hätte minimiert werden können. Der Tod Unbeteiligter und seine Nicht-Bereitschaft, sich selber durch Bombenalarm zu opfern, als Hitler den Bürgerbräukeller vorzeitig verlassen hatte, bringen den Verfasser dazu, skeptische Fragen zum Wissens- und Charakterpotential Elsers zu stellen. Auch wenn er diese schließlich als irrelevant für seine Argumentation abtut, mündet der Text in das harsche und, wie ich meine, abwegige Urteil, dass "die Ausführungsweise ( des Attentats) moralisch nicht zu rechtfertigen ist."
Nicht so sehr diese reichlich unpolitische und auch psychologiefreie Argumentation selbst, sondern die Klammer, in die sie gesetzt ist, scheint es zu sein, die einen Entrüstungssturm im herbstlichen Blätterwald hervorruft. Fritze, der sich in der Tradition des Kritischen Rationalismus versteht und dies in seiner Habilitationsschrift ("Täter mit gutem Gewissen", Böhlau Verlag 1998) auch eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat, will davor warnen, politische Handlungen nur deswegen gegen Kritik zu immunisieren, weil sie ein "besonders hehres und großartiges Ziel" verfolgen. Er sieht die Aufgabe der Wissenschaft in schonungsloser Kritik. Diese Arbeit des Sezierens ist nach Auffassung nicht nur des Kritischen Rationalismus am meisten bei Gegenständen angebracht, die sich zur politischen Mythenbildung eignen. Ist der deutsche Widerstand gegen Hitler, der bekanntlich in den Anfangsjahren der Bundesrepublik totgeschwiegen wurde, heute aber etablierter Bestandteil des Geschichtsbewusstseins und seiner pädagogischen Vermittlung ist, mittlerweile zu einem solchen Gegenstand geworden?
60 Jahre nach Elsers wahrhaft mutiger Tat kann man es nur als Ironie empfinden, dass es ausgerechnet die "Gedenkstätte Deutscher Widerstand" in Berlin ist, die diesen Eindruck nahe legt. Sie reagierte nämlich auf Fritzes Artikel nicht mit einem kühl überlegten und wissenschaftlich begründeten Verriss, sondern mit einer unverhohlenen Drohung, die aus dem Arsenal der "political correctness" stammt. Die Leiter dieser politisch-pädagogischen Institution, Johannes Tuchel und Peter Steinbach, ansonsten Politikprofessor an der FU Berlin, sehen in Fritzes Artikel nicht nur ihre langjährigen Forschungsarbeiten schmählich übergangen - "Die Zeit" hat davon soeben zwei ganzseitige Aufsätze über Elser gedruckt. Vielmehr sprechen sie auf einer Hals über Kopf einberufenen Pressekonferenz den Bannfluch über Fritze aus und stilisieren seinen Aufsatz zum "Angriff auf die Würde Elsers", der auf die "Propagierung eines neuen Geschichtsbildes", ja auf die "Revision der deutschen Zeitgeschichte" hinauslaufe.
Doch nicht genug mit diesen Kraftworten ex cathedra. Die beiden ausgewiesenen Widerstandsforscher versteigen sich zu maßlosen Schlussfolgerungen, die einer gezielten Kollegenbeleidigung gleichkommen - gegen die "normale" Eitelkeit unter Wissenschaftlern wäre sonst Ironie das beste Mittel. Die Philosophische Fakultät der TU Chemnitz, die Fritze vor beinahe zwei Jahren habilitiert hat, habe ihm in "wissenschaftlich unverantwortlicher Weise" die Lehrbefugnis erteilt, wodurch "zugleich das Ansehen der Universität Chemnitz und des sächsischen Hochschulwesen diskreditiert" sei. Weiter heißt es in der AP-Meldung vom 10.11.99 in angemaßtem Inquisitionston: "Damit stelle sich die Frage, ob die Universität Chemnitz wirklich der ihr gestellten Aufgabe gerecht werde, den Ansprüchen einer rationalen politischen Bildung zu genügen. Zweifel daran seien auf Grund dieser Antrittsvorlesung geradezu zwingend."
Die letztere Formulierung bezieht sich auf die Tatsache, dass Fritze vor einem Jahr an der TU Chemnitz eine Abendvortrag hielt, aus dem jetzt der Artikel für die Frankfurter Rundschau extrahiert wurde. Doch der Moralüberschuss muss die Zusammenhänge sogleich verdrehen: Einmal ist die Antrittsvorlesung nach der dort geltenden Ordnung nicht Teil des Habilitationsverfahrens, also auch nicht mehr Gegenstand der wissenschaftlichen Bewertung durch die Fakultät. Zweitens waren Fritzes Leistungen im vorausgegangenen Verfahren, an dem übrigens der Mannheimer Emeritus Hans Albert als auswärtiger Gutachter mitwirkte, über jeden Zweifel erhaben. Drittens - und am wichtigsten - waren damals und sind heute die Äußerungen des Kollegen Fritze Ausdruck seiner individuellen Forschungs- und Lehrfreiheit, auf deren Garantie und institutionelle Ermöglichung gerade die ostdeutschen Universitäten größten Wert legen, umso mehr als die böse Erinnerung an die Staatskommissare in der Wissenschaft noch ganz frisch ist. So auch an der TU Chemnitz.
Aus solchen Selbstverständlichkeiten wird in der Wahrnehmung der Gralshüter der öffentlichen Geschichtsmoral jedoch eine Bedrohung, die den Historikerstreit als Karikatur wiederholt. Man mag den Überlegungen Fritzes Naivität und Weltfremdheit vorwerfen, in ihnen aber die Revision unseres Geschichtsbildes, ja eine Verschwörung gegen die bundesrepublikanische Zeitgeschichte am Werke zu sehen, angezettelt von einem sächsischen Privatdozenten und hinterrücks gesteuert vom Chemnitzer Herausgeber des "Jahrbuchs für Extremismus und Demokratie" - das ersetzt die "Logik der Forschung" (Popper) durch die des Verdachts. Arme Wissenschaft im vereinten Deutschland, wenn sie zwischen reflexiver Überdifferenzierung und demokratischer "correctness" hin- und hergezerrt wird und auf diese Weise verfehlen muss, was ihr am ehesten gut- und der politischen Bildung zehn Jahre nach dem Mauerfall am meisten Not tut: Augenmaß und Urteilskraft!
Eine Nachbemerkung zur Sache: Auch ich glaube nicht, dass die kognitivistische Moralphilosophie, wie Fritze sie aus dem Kritischen Rationalismus entwickelt und auf die Normallage des autoritären Sozialismus mit Bravour angewandt hat, dazu taugt, die existentielle Ausnahmesituation eines Georg Elser zu beurteilen - des einfachen Mannes aus Königsbronn, der den übermenschlichen Mut hatte, den Tyrannenmord an einem modernen totalitären Diktator zu versuchen, wenngleich nicht auf altheroische Weise. Umgekehrt darf man gerade in der Demokratie die wissenschaftliche Wahrheitssuche nicht an die Kandare der politischen Pädagogik legen.
Das Brechtsche "Wehe dem Land, das Helden braucht!" ist noch immer ein guter Merksatz gegen die Identitätssucht der Deutschen. Jedenfalls vermute ich in ihm das heimliche Leitmotiv, das Lothar Fritze aus der Distanzierung vom DDR-Antifaschismus und seinen sauberen Helden in den Kritischen Rationalismus geführt hat. Leider hat es ihn jetzt dazu verführt, das gut begründete Kritikmodell des "Täters mit gutem Gewissen" auf einen politischen Mythos der Bundesrepublik anzuwenden - mit einem unbefriedigenden Ergebnis, was die historische Figur Elsers betrifft. Aber genau so funktioniert eben Wissenschaftsfreiheit, die auch Konkurrenz zwischen den Disziplinen meint: "trial and error"!