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Pressemitteilung vom 19.10.2021

Start der Koalitionsverhandlungen: Spielraum für Zukunftsinvestitionen schaffen

Prof. Dr. Eric Linhart von der TU Chemnitz ist Experte für Wahlsysteme und Koalitionen und spricht im Interview über die kommenden herausfordernden Koalitionsverhandlungen und warum die Grünen bei der Besetzung des Finanzressorts die Nase vorn haben könnten

Prof. Dr. Eric Linhart ist Inhaber der Professur Politische Systeme an der Technischen Universität Chemnitz und Experte für Wahlsysteme und Koalitionen. Im Interview erklärt er den Unterschied zwischen Koalitionsverhandlungen und Sondierungen, blickt auf die Begehrlichkeiten von Grünen und FDP bezüglich des Finanzressorts und ordnet die Leistungsfähigkeit eines Dreierbündnisses auf Bundeseben ein.

Herr Prof. Linhart, nun ist es also soweit und die Koalitionsverhandlungen können beginnen. Nach der SPD und den Grünen hat auch die FDP der Aufnahme von Koalitionsverhandlungen zugestimmt. Nach den vorangegangenen sogenannten Sondierungen mag man sich von außen fragen, was der Unterschied ist.

Linhart: Sondierungen sind tatsächlich etwas, was wir in der Bundesrepublik lange Zeit in dieser Form nicht kannten. Hatten die Parteien, die bereits vor der Wahl signalisiert hatten, gemeinsam regieren zu wollen, eine Mehrheit, dann sind sie üblicherweise ziemlich direkt in Koalitionsverhandlungen eingestiegen. Zu diesem Zeitpunkt war der gemeinsame Wille zum Regieren bereits klar, es musste also nicht erst sondiert werden, ob eine Zusammenarbeit ganz grundsätzlich möglich ist. Nach Wahlen wie der aktuellen ist das anders. Die Parteien, die jetzt in Koalitionsverhandlungen eintreten, hatten dies ursprünglich nicht im Sinn. Daher zunächst die Sondierung.

Das heißt, die Inhalte und Positionen sind noch nicht komplett geklärt?

Linhart: Nein. Das Sondierungspapier enthält zwar vereinzelt auch schon konkrete Stellen, über weite Teile ist es aber noch wenig präzise und spricht viele Themen gar nicht an. Dies gilt es in den Koalitionsverhandlungen noch mit Leben zu füllen. Alleine wenn Sie sich den Koalitionsvertrag der letzten schwarz-roten Regierung ansehen – er ist 175 Seiten stark – dann ist klar, dass ein zwölfseitiges Sondierungspapier nur ein Anfang sein kann. Manche Passagen wurden auch bewusst noch ausgespart, etwa Zuschnitte der Ministerien und Verantwortlichkeiten für diese.

Wie muss man sich eigentlich den Ablauf solcher Verhandlungen vorstellen?

Linhart: Dafür gibt es keine Blaupause und schon gar keine formalen Vorgaben. Heißt: Wie Verhandlungen strukturiert werden, das bleibt alleine den beteiligten Parteien überlassen. Ob also zum Beispiel Themen nacheinander abgehandelt oder miteinander verknüpft werden, was in großer Runde und was in kleineren Runden der Fachpolitiker besprochen wird, das kann sich von Fall zu Fall unterscheiden. Eine Gepflogenheit wird allerdings immer wieder beteuert, nämlich dass zuerst über Inhalte und erst danach über Personen gesprochen wird. Es ist davon auszugehen, dass auch die Ampel-Parteien dies so halten werden.

Inhalte und Personen sind gute Stichwörter. Mal auf die Inhalte geblickt: Hier liegen insbesondere SPD und Grüne in wichtigen Punkten der Wirtschafts-, Sozial- und Klimapolitik mit der FDP über Kreuz. Wie kommt man in so einer Situation zu einer Einigung, die für alle Beteiligten befriedigend ist – auch mit Blick auf die Ansprüche der eigenen Parteimitglieder und Kernwählerschaft?

Linhart: Der Vorteil ist, dass nicht allen Beteiligten alle Themen gleichermaßen wichtig sind. Wenn man den Partnern jeweils ihre Kernprojekte lässt und bei diesen selbst zurücksteckt, dann kann das funktionieren. Das Sondierungspapier und die Presse-Statements der beteiligten Personen weisen ja in diese Richtung. Wo ich den Hauptknackpunkt sehe: Bleibt es dabei, dass die Schuldenbremse gelten soll und wesentliche Steuererhöhungen ausgeschlossen sind, dann bleibt wenig Spielraum für die zahlreichen im Papier genannten Zukunftsinvestitionen. Hierfür eine Lösung zu finden, wird einiger Kreativität bedürfen.

Nun der Blick auf die Personen: Robert Habeck von den Grünen und Christian Lindner von der FDP haben mal mehr, mal weniger deutlich klar gemacht, dass sie das Finanzressort für sich beanspruchen. Ein unlösbarer Konflikt?

Linhart: Gerade wegen der eben genannten Aufgaben ist das Finanzressort so zentral. Unlösbar ist der Konflikt natürlich nicht. Da die Grünen stärker sind als die FDP, steht ihnen zuerst ein Zugriff auf ein Ressort zu. Aber in Verhandlungen steht es der FDP natürlich frei, den Grünen an anderer Stelle so große Zugeständnisse zu machen, dass sie dieses Ressort der FDP überlassen. Darüber hinaus ist das Ministeramt selbst zwar nicht teilbar, aber es ist zum Beispiel denkbar, dass die Partei, die den Posten nicht besetzen wird, eine Staatssekretärin oder einen Staatssekretär im Finanzministerium stellt, um so einen gewissen Einfluss zu erhalten. Dieses sogenannte Kreuzstich-Verfahren wurde – bei anderen Ministerien – etwa unter Gerhard Schröder angewendet.

Sehr große Einigkeit und Disziplin hat sich wiederum beim gemeinsamen Auftreten im Zuge der Sondierungen gezeigt. Nahezu nichts ist nach außen gedrungen und alle waren demonstrativ geschlossen bei Medienterminen. Ein gutes Zeichen für die künftige Zusammenarbeit?

Linhart: Alle Beteiligten haben geäußert, dass dies sehr geholfen hat, um Vertrauen aufzubauen. Von daher definitiv ein gutes Zeichen. In einer vertrauensvollen Atmosphäre lassen sich Kompromisse leichter finden und Konflikte leichter lösen. Dennoch bleiben große Diskrepanzen zwischen den Ampel-Parteien in wichtigen Politikfeldern.

Wenn alles klappt, wird es ein Dreierbündnis auf Bundesebene geben. Auf Landesebene ist das durchaus erprobt, als Bündnis für eine Bundesregierung aber ungewöhnlich. Wie schätzen Sie die Leistungsfähigkeit eines solchen Zusammenschlusses ein?

Linhart: Man darf nicht vergessen, dass CDU und CSU zwei verschiedene Parteien sind. Wir wurden also auch die letzten 16 Jahre bereits von einer Dreiparteienkoalition regiert. Nun tritt die CSU mal bewusster, mal zurückhaltender eigenständig auf. Aber erinnern Sie sich an Kontroversen um die Maut! Das war kein Streitpunkt zwischen Union und SPD, sondern zwischen CDU und SPD einerseits und der CSU andererseits. Möglicherweise werden die Verhandlungen gar nicht so viel komplexer, als wir das schon kennen.

Vielen Dank für das Gespräch.