"Die geplanten Kulturveranstaltungen werden nicht nur externe Besucherinnen und Besucher anziehen, sondern auch zu einer Revitalisierung des Alltagslebens beitragen."
Ein Interview mit Prof. Dr. Henning Laux über die Entwicklungschancen der Stadt Chemnitz durch den Kulturhauptstadt-Titel und warum Stadt und Universität nachhaltig davon profitieren können
Professor Dr. Henning Laux, Inhaber der Professur für Soziologische Theorien an der Technischen Universität Chemnitz, hat den Bewerbungsprozess der Stadt Chemnitz verfolgt und die Chancen für TV und Zeitung analysiert. Bereits im Vorfeld hatte er sich bezüglich eines Erfolgs der Bewerbung zuversichtlich gezeigt und Chemnitz neben Hannover die größten Chancen eingeräumt.
Im Interview spricht Laux darüber, was dieser Erfolg für die Entwicklung von Stadt, Universität und Region bedeutet, warum sich Chemnitz nicht hinter Dresden und Leipzig verstecken muss und auf welche Programmpunkte er sich am meisten freut.
Wie haben Sie von dem Erfolg für Chemnitz erfahren?
Ich habe mir die finale Entscheidung im Livestream angesehen.
Kam der Zuschlag überraschend für Sie?
Aus meiner Sicht war Chemnitz im Vorfeld durchaus eine Art Geheimfavorit auf den Titel. Aber dass es am Ende tatsächlich geklappt hat, war auch für mich eine positive Überraschung.
Was glauben Sie, hat den Ausschlag gegeben?
Die bodenständige, problemzentrierte und kreative Bewerbung. Und die spannende Geschichte der Stadt mit ihren vielen Wendepunkten und Umbrüchen.
Nun sollen Millionen Euro an Fördermitteln nach Chemnitz fließen, allein 20 Millionen vom Freistaat Sachsen. Was bedeutet das für Stadt und Region?
Wenn das Geld in sinnvolle Projekte und Veranstaltungen vor Ort investiert wird, kann damit nicht nur das öffentliche Bild der Stadt, sondern auch der soziale Zusammenhalt nachhaltig gesteigert werden. Die materiellen Infrastrukturen sind intakt, es muss darum gehen, die Stadt in den kommenden Jahren mit kreativen Ideen und jungen Leuten zu bereichern. Wenn das gelingt, wird die gesamte Region davon profitieren.
In Prognosen aufgrund der Erfahrung früherer Kulturhauptstädte wird mit bis zu zwei Millionen Besucherinnen und Besucher gerechnet, die Chemnitz im Kulturhauptstadt-Jahr besuchen könnten. Ist die Stadt bereit dafür?
Die riesigen Straßen, Plätze und Gebäude der sozialistischen Modellstadt warten schon seit Jahren auf größere Besucherströme. Für die Entwicklung der Stadt kann der Titel nur gut sein, die geplanten Kulturveranstaltungen
werden nicht nur externe Besucherinnen und Besucher anziehen, sondern auch zu einer Revitalisierung des Alltagslebens beitragen. Ein gravierendes Hindernis für Gäste aus dem In- und Ausland bleibt der noch immer fehlende Anschluss an den Fernverkehr.
Die Chemnitzer Mentalität gilt zuweilen als sperrig und zurückhaltend. Wohl auch vor dem Hintergrund eines diffusen Gefühls, im Schatten von Dresden und Leipzig zu stehen. Wird sich das durch den Titel ändern?
Einige Chemnitzerinnen und Chemnitzer werden sich verwundert die Augen reiben, dass Chemnitz zu Europas Kulturhauptstadt gekürt wird. Aus soziologischen Studien ist aber bekannt, dass Mentalitäten träge sind, unsere konstitutiven Überzeugungen und Welthaltungen verändern sich nur sehr langsam. Trotzdem wird der Titel gerade in der jüngeren Generation für eine gewisse Aufbruchsstimmung sorgen, da bin ich mir sicher.
Auf welche Projekte, die im Rahmen des zweiten Bid Books ausgeführt wurden, freuen Sie sich am meisten?
Ich bin gespannt auf die Garagen-Ateliers und die damit verbundene Idee, anhand von vermeintlichem Gerümpel unentdeckte oder vergessene Geschichten aus der Vergangenheit der Chemnitzerinnen und Chemnitzer sichtbar zu machen. Ich freue mich auf die internationale Friedenskonferenz „Build Peace“ im Jahr 2022, bei der Menschen aus allen Erdteilen nach Chemnitz kommen, um nach Lösungen für die lokalen Verwerfungen globaler Entwicklungen zu suchen.
Von zentraler Bedeutung ist schließlich der „European Workshop of Culture and Democracy“, bei dem Künstlerinnen, Künstler und Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler gemeinsam mit der Zivilgesellschaft neue Wege erkunden sollen, um der Normalisierung rechtsextremistischer Strukturen und Positionen entgegenzutreten.
Chemnitz wird eine große internationale Sichtbarkeit erfahren, wird sich das auch auf die Universität auswirken?
Die Angehörigen der Universität sollten dieses Ereignis zum Anlass nehmen, um sich noch aktiver in das kulturelle und politische Leben der Stadt einzubringen. Wenn das gelingt, dann können bis zum Jahr 2025 und darüber hinaus viele fruchtbare Kooperationen entstehen, die der Universität zugutekommen. Das ist aber kein Automatismus, sondern wird nur funktionieren, wenn ein wechselseitiges Interesse an einer intensivierten Kooperation signalisiert und gelebt wird. Hier ist insbesondere die Expertise und das Engagement der Geistes- und Sozialwissenschaften gefragt.
Welche Möglichkeiten für Forschungsprojekte werden sich durch die Kulturhauptstadtbewerbung ergeben. Zum Beispiel hinsichtlich Europastudien und stadtgesellschaftliche Entwicklung?
Chemnitz hat im Rahmen der Kulturhauptstadtbewerbung mit zwei inhaltlichen Schachzügen gepunktet: Zum einen mit der offensiven Selbstbeschreibung als osteuropäische Stadt in Westeuropa. In der Bewerbung wurde jedoch sichtbar, dass es im Hinblick auf den kulturellen Austausch mit den osteuropäischen Nachbarn noch erhebliches Entwicklungspotenzial gibt. In diesem Zusammenhang stellt sich für die Europastudien der TU Chemnitz etwa die Forschungsfrage, warum das so ist und wie sich diese Kluft überwinden lässt. Spiegelbildlich dazu ergibt sich die soziologische bzw. politikwissenschaftliche Forschungsfrage, welche Bedeutung die osteuropäische bzw. ostdeutsche Identität der ehemaligen Karl-Marx-Stadt für den langwierigen Prozess der deutschen Wiedervereinigung hat.
Zum anderen wurden die rechten Aufmärsche aus dem Jahr 2018 in den Bewerbungsunterlagen schonungslos als Wendepunkt der Chemnitzer Stadtgeschichte bezeichnet. Dieses Problembewusstsein wurde von der Jury ausdrücklich gelobt. Wenn die Stadt an einem Wendepunkt steht, so gilt es in den kommenden Jahren zu erforschen, wie es überhaupt zum Schulterschluss rechter Kräfte kommen konnte und wie die dabei sichtbar gewordenen Strukturen und Normalitätsvorstellungen wirksam unterbrochen werden können.
Die historisch gewachsene Tendenz vieler Chemnitzerinnen und Chemnitzer zur Entpolitisierung des Zusammenlebens hat zu dem paradoxen Ergebnis geführt, dass sich die Stadt der Vereinnahmung durch bestimmte Gruppen weitgehend ausgeliefert hat. Das ist zumindest einer der zentralen Befunde einer Monografie, an der ich gerade mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern schreibe.
Entsprechend wichtig wird es sein, die verschiedenen Veranstaltungen und Formate der Kulturhauptstadtbewerbung daraufhin zu evaluieren, inwiefern es ihnen gelingt, die "stille Mitte" der Stadtgesellschaft aktiv einzubinden.
Matthias Fejes
29.10.2020