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Wie realistisch ist eine Kanzlerwahl vor Weihnachten?

Prof. Dr. Eric Linhart von der TU Chemnitz ist Experte für Wahlsysteme und Koalitionen und spricht im Interview über die Herausforderungen der kommenden Koalitionsbildung, die personelle Größe des Parlaments und das Wahlergebnis der AfD

Prof. Dr. Eric Linhart ist Inhaber der Professur Politische Systeme an der Technischen Universität Chemnitz und Experte für Wahlsysteme und Koalitionen. Im Interview blickt er auf die Herausforderungen der kommenden Koalitionsbildung, was die Wahl für die personelle Größe des Parlaments bedeutet und wie sich die Ergebnisse der AfD im Vergleich zur vergangenen Wahl entwickelt haben.

Herr Linhart, Sie sind Experte für Wahlsysteme und insbesondere auch für Koalitionsbildungen. Mal davon ausgegangen, dass es keine große Koalition geben wird: Würden Sie zustimmen, dass die anstehende Koalitionsbildung auf Bundesebene bisher ohne Beispiel ist?

Wir hatten eine bedingt vergleichbare Situation 2005. Auch nach der damaligen Wahl gab es weder für Schwarz-gelb noch für Rot-grün eine Mehrheit, und die Spitzen der großen Fraktionen dachten zunächst eher über Dreierbündnisse nach als über eine große Koalition. Nachdem diese letztendlich gebildet wurde, galt sie lange als Rückfalloption für ähnliche Situationen. Wir befinden uns heute in einem ähnlichen Szenario, nur dass die große Koalition noch unbeliebter bei Union und SPD ist, weshalb die Parteien über diese Möglichkeit aktuell gar nicht reden.

Es wird also aller Voraussicht nach auf ein Dreierbündnis entweder unter Führung der SPD oder der Union hinauslaufen. Worauf wird es nun ankommen, damit sich eine von beiden Optionen durchsetzt?

Programmatisch steht die FDP der Union näher, die Grünen der SPD. Die SPD müsste also insbesondere die FDP überzeugen, sich an einer Ampel zu beteiligen, darf aber andererseits keine Zugeständnisse machen, die die Grünen verprellen. Das gleiche gilt umgekehrt für die Union und Jamaika.

In beiden Konstellationen liegen mindestens zwei der Koalitionspartner in sozio-ökonomischen Fragen – also bei den Themen Finanzen, Wirtschaft, Arbeit, Soziales – weit auseinander. Für die Ampel spricht, dass sich SPD, Grüne und FDP in gesellschaftspolitischen Fragen weitgehend einig sind, wohingegen in einer Jamaika-Koalition auch in diesem Bereich Diskrepanzen zwischen den Parteien zu beobachten sind.

Nicht zu unterschätzen ist auch der Aspekt, dass die Union nur auf Platz zwei liegt und zudem im Vergleich zur letzten Wahl deutlich verloren hat. Für Armin Laschet dürfte es daher deutlich schwieriger sein, Grüne und FDP davon zu überzeugen, ihn zum Kanzler zu wählen, als dies für Olaf Scholz der Fall sein dürfte.

Es ist davon auszugehen, dass es mit drei starken Partnern zu schwierigen Verhandlungen kommen wird. Wird Deutschland Ihrer Einschätzung nach noch in diesem Jahr eine stabile Regierung haben?

Eine kleine Korrektur: Im Fall von Jamaika wären es sogar vier Parteien. CDU und CSU argumentieren gerne mit der Größe der Fraktion, wenn ihnen dies hilft, gerade in Koalitionen tritt die CSU aber oft als eigenständige Kraft auf. Das macht Jamaika-Sondierungen nochmal komplizierter als Verhandlungen über eine Ampel.

Aber zur eigentlichen Frage: Ich denke, die beteiligten Parteien sind sich einiger Fehler, die 2017 gemacht wurden, bewusst. So habe ich gestern zumindest Christian Lindner, Annalena Baerbock und Robert Habeck verstanden. Ich halte eine Kanzlerwahl vor Weihnachten daher durchaus für realistisch. 2017 hat aber auch gezeigt, dass Sondierungen auch scheitern können. Niemand kann ausschließen, dass dies auch jetzt wieder der Fall sein wird und wir erst nächstes Jahr eine neue Regierung bekommen werden.

Ein weiterer vieldiskutierter Aspekt im Vorfeld der Wahl war die Größe des Parlaments. Was bedeutet das Ergebnis der Wahl in dieser Hinsicht?

Die Befürchtungen, dass der neue Bundestag nochmals größer wird als der vergangene, sind eingetroffen, auch wenn sich die schlimmsten Szenarien – ein Parlament mit mehr als 800 oder gar mehr als 900 Abgeordneten – nicht erfüllt haben.

Zwei Dinge lassen sich hieraus ablesen. Erstens: Die kleine Wahlrechtsreform der großen Koalition war wie erwartet wenig wirksam. Zweitens: Die Parteien müssen sich nun dringend auf eine wirkliche Reform des Wahlsystems einigen.

Die AfD hat im Vergleich zur vergangenen Bundestagswahl Stimmen verloren. Wie schätzen Sie dieses Ergebnis mit Blick auf die Relevanz dieser Partei für die kommende Legislaturperiode ein?

Egal zu welcher Regierung es letztlich kommen wird, die AfD wird nicht mehr die stärkste Oppositionsfraktion im Bundestag sein. Sie verliert damit das Erstrederecht in Parlamentsdebatten nach der Regierung und wird auch in Ausschüssen und bei Ausschuss-Vorsitzen schwächer vertreten sein als bisher. Dass die AfD die Art und Weise ihres Agierens im Parlament ändern wird, das sehe ich allerdings nicht.

In Sachsen und Thüringen hat die AfD die meisten Stimmen erhalten und die CDU insbesondere in Sachsen viele Anteile abgeben müssen. So hat auch der Ost-Beauftragte der Bundesrgierung, Marco Wanderwitz, sein Direktmandat verloren. Was bedeutet dieses Ergebnis für die weitere Arbeit der CDU-geführten Koalition in Sachsen?

Die Beschreibung ist richtig, ich sehe aber keinen Anlass für landespolitische Reaktionen. In Sachsen lässt sich relativ klar erkennen, dass die Wählerinnen und Wähler sehr genau zwischen Bundes- und Landespolitik unterscheiden. Die Wahlergebnisse, gerade für die CDU, sind sehr unterschiedlich. Das Ergebnis hat deshalb klar die Bundes-CDU zu verantworten, nicht der sächsische Landesverband.

Wie ordnen Sie das Ergebnis der AfD in Sachsen im Vergleich zu den Ergebnissen der vorherigen Bundestags- und Landtagswahl ein?

Die Wahlergebnisse für die AfD in Sachsen liegen recht stabil um die 25 Prozent. Das heißt, die AfD kann in Sachsen ihr Potenzial auf hohem Niveau regelmäßig abrufen, darüber hinaus aber kaum Wählerinnen und Wähler ansprechen. Tatsächlich ist 24,6 Prozent eher eines der schwächeren Ergebnisse für die Sachsen-AfD. Zum Vergleich: Bei der Bundestagswahl 2017 erreichte sie 27,0 Prozent, bei der Europawahl 2019 25,3 Prozent und bei der sächsischen Landtagswahl sogar 27,5 Prozent.

Vielen Dank für das Gespräch.

Matthias Fejes
27.09.2021

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