„Die Anerkennung der kulturellen Leistung fehlt“
Zwei Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen der Professur Innovationsforschung und Technologiemanagement der TU Chemnitz legen die Ergebnisse einer qualitativen Untersuchung der Situation der Chemnitzer Kulturschaffenden während der Corona-Krise vor
„Diese Studie ging mir emotional mächtig unter die Haut“, sagt Anja Herrmann-Fankhänel von der Professur Innovationsforschung und Technologiemanagement der Technischen Universität Chemnitz. Als sie vor elf Monaten die Idee zur Durchführung einer qualitativen Untersuchung zum Thema „WERTSTOFF Kultur“ in der Chemnitzer Kulturszene hatte, um herauszubekommen, wie die Situation der Kulturschaffenden der Stadt in der Corona-Krise ist, war ihr nicht bewusst, was genau auf sie zukommt. „Durch meine guten Verbindungen in die Branche und den Chemnitzer Kulturgesichtern waren schnell 30 Interviewpartnerinnen und -partner mit mir in Kontakt“, erinnert sie sich. Die meisten kamen aus der Privatwirtschaft, einige aus der freien Kulturszene, nur wenige aus dem kommunalen Kultursektor. Im Februar und März 2021 fanden die Interviews statt – durchweg in der Freizeit. „Es war überwältigend, mit wie viel Offenheit und Ehrlichkeit, aber auch mit wie vielen Emotionen die Menschen mit mir gesprochen haben“, so Herrmann-Fankhänel.
60 Stunden Interviews wurden verschriftlicht
Überwältigend war auch das Datenmaterial, das es auszuwerten galt: 60 Stunden gesprochenes Wort aus den per Videoschaltung durchgeführten Gesprächen, die nun verschriftlicht werden mussten. „Über den Spätsommer hinweg bis jetzt habe ich dann gemeinsam mit meiner Kollegin Diana Heinbucher, die ebenfalls Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur Innovationsforschung und Technologiemanagement ist, die Ergebnisse aufbereitet und Interpretationen vorgenommen.“ Finanziell unterstützt wurde das Projekt in dieser Phase von der Chemnitzer Wirtschaftsförderungs- und Entwicklungsgesellschaft mbH (CWE).
Mangelnde Wertschätzung und fehlende Lebensinhalte
„Die Anerkennung der kulturellen Leistung fehlt“ ist das zentrale Ergebnis der Befragung. „Es wird in den Interviews deutlich, dass Kultur ihren zentralen Stellenwert in der Gesellschaft haben muss, viele sich aber darüber kaum bewusst sind und eine entsprechende politische und gesellschaftliche Verankerung fehlt“, so Herrmann-Fankhänel. Die Kulturschaffenden seien im vergangenen Jahr auf lokaler Ebene trotz auch bestehender Differenzen enger zusammengerückt und haben versucht, sich gegenseitig zu unterstützen. „Ich habe mit Menschen gesprochen, die in hohem Maße Verantwortung übernehmen und Zugang zu Kultur durch ihr Schaffen ermöglichen. Diese Menschen erleben aktuell noch weniger Anerkennung und Wertschätzung als sonst. Aber aktuell fehlt ihnen ihr Lebensinhalt, weil es für fast alle eine Lebensentscheidung war, in dieser Szene aktiv zu sein“, berichtet Herrmann-Fankhänel. Das sei aus ihrer Sicht doppelt bitter, weil die meisten Menschen, mit denen sie sprach, immer mehrere Fähigkeiten, Kenntnisse und damit gewachsene Expertise haben. „Fraglich bleibt nur, wer es schafft bis nach Corona durchzuhalten – finanziell und emotional“, so die Wissenschaftliche Mitarbeiterin.
Unzureichende Förderprogramme und die Suche nach neuen Geschäftsfeldern
Deutlich wurde, dass bereits einige Kulturschaffende die Szene verlassen haben und weitere folgen werden. Das ergibt sich unter anderem aus der Lage zur finanziellen Unterstützung im vergangenen Jahr. „Kein Förderprogramm, nach welchem ich fragte, konnte von mehr als 50 Prozent der Interviewten bis April 2021 in Anspruch genommen werden. 15 Prozent konnten aus verschiedenen Gründen gar keine Förderung in Anspruch nehmen“, so Herrmann-Fankhänel. Deshalb waren einige vor allem im privatwirtschaftlichen Bereich gezwungen, sehr schnell neue Strategien und Geschäftsfelder zu finden oder andere zu stärken. Viele erprobten digitale Events und Veranstaltungsformate mit ausreichend Abstand in Innen- und Außenbereichen. Gemeinsames Fazit der Befragten: „Das ersetzt unsere Kultur in keiner Weise“ über „Besser als nichts“ bis hin zu „Das sind interessante Zusatzangebote“. „An Ideen mangelte es nicht, aber mangelnde Beständigkeit in den Rahmenbedingungen, kurzfristige Entscheidungen und ausbleibende Verbindlichkeit lassen jeden irgendwann mürbe werden“, schätzt Herrmann-Fankhänel ein. „Gut, wenn man sich dann wenigstens in der Szene mental unterstützen konnte.“
Kreative Schübe und mehr Zeit für die Familie
Auch wird im Ergebnis der Studie deutlich, dass das erste Corona-Jahr, also von März 2020 bis März 2021, nicht gleichförmig aus Sicht der Interviewten ablief. Viele beschrieben persönliche Phasen. Dazu Herrmann-Fankhänel: „Bei manchen passten die zu den sich wandelnden Rahmenbedingungen, andere hingegen erlebten ganz persönliche Hochs und Tiefs entsprechend der Lebenssituationen. Je nach familiären Verpflichtungen und Umständen empfanden manche die Zeit auch als Geschenk, da sie sonst viel im Dienste der Kulturszene unterwegs sind. Andere erlebten aufgrund der Freiheit von Routineaufgaben einen kreativen Schub und verarbeiteten die Zeit in ihren Kunstwerken. Auch branchenfremdes Tun war für manche eine willkommene Abwechslung, da sie wussten, dass es irgendwann wieder losgeht. Einige waren da für die, denen die Förderanträge schwerfielen, für die, die in ein kreatives Loch gefallen sind und für die, die in finanzielle Schieflage kamen. Es war beeindruckend zu hören, wie sich der Zusammenhalt entwickelt hat.“
Wohin entwickelt sich die Chemnitzer Kulturbranche?
Was heißt das nun für Chemnitz? „Fähige Akteurinnen und Akteure mit viel Knowhow verlassen die Kulturszene, um in anderen Branchen ein sicheres Einkommen zu haben, was mit Blick auf das Kulturhauptstadtjahr 2025 schwierig wird, weil der Expertise-Verlust nicht aufholbar ist. Außerdem gehen so viele fleißige Helfer und Helferinnen verloren, die in der Peripherie der Kulturszene tätig sind“, zeichnet Herrmann-Fankhänel ein eher düsteres Bild. Sie stellt aber auch Fragen: „Die Branche ist aufgrund der Unsicherheit einfach nicht mehr lukrativ oder ist sie es künftig doch, weil der Preis das dann regeln wird? Aber wer kann das dann noch bezahlen? Wird Kultur zum Luxus?“ Und so scheint es fast bitter zu sein, dass die Ergebnisse jetzt vorliegen, wo sich in Sachsen die Situation für die Kulturszene erneut zuspitzt, weil Schließungen vorordnet werden, die auch die Chemnitzer Akteurinnen und Akteure betreffen. Erste Ergebnisse der Studie wurden inzwischen vor dem Kulturbeirat der Stadt vorgestellt, Empfehlungen der beiden Wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen der Professur Innovationsforschung und Technologiemanagement der TU Chemnitz sollen in die „Chemnitzer Kulturstrategie 2030“ einfließen.
Fakt ist, die Kulturszene hat es im Moment schwer. „Wir gehen schlecht mir ihr um in unserer Gesellschaft und trotzdem wird sie sich wieder entwickeln und die Probleme, die mit der Abwesenheit von Kultur in unserer Gesellschaft einhergehen, lösen. Wahrscheinlich wird es anders als bisher, es wird auch eine Weile dauern. Und daher wünsche ich mir und so viele meiner Gesprächspartnerinnen und -partner, dass es wieder wertschätzend, verbindlich und ein Miteinander wird, mit Bedacht gefördert und organisiert, damit die Kultur wieder in unserer Gesellschaft wirken kann, wertstiftend, verbindend, bewahrend und pflegend, anziehend, haltgebend, schaffend und erleichternd“, so Herrmann-Fankhänel. Für weitere, auch überregionale Untersuchungen stehen sie und ihre Kollegin gern zur Verfügung.
Link zur Studie „WERTSTOFF Kultur“: https://www.tu-chemnitz.de/wirtschaft/bwl9/projekte/akpj.php#6
Weitere Informationen erteilen Anja Herrmann-Fankhänel, E-Mail heranj@hrz.tu-chemnitz.de, sowie Diana Heinbucher, E-Mail dianh@hrz.tu-chemnitz.de.
Mario Steinebach
07.12.2021