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Das Ende des Völkerrechts

Im Interview: Osteuropa-Experte Prof. Dr. Stefan Garsztecki von der Professur Kultur- und Länderstudien Ostmitteleuropas der TU Chemnitz über Wladimir Putins Krieg in der Ukraine und die Rückkehr zur Doktrin aus Sowjetzeiten

Stefan Garsztecki leitet die Professur Kultur- und Länderstudien Ostmitteleuropas an der Technischen Universität Chemnitz. Seine Professur unterhält eine Partnerschaft mit der Ukrainischen Katholischen Universität, die sich im Westen des Landes in Lwiw (Lemberg) befindet. Oliver Hach, Redakteur der Freien Presse, sprach mit dem Politologen und Historiker über den Angriff Russlands auf die Ukraine, über historische Hintergründe und Putins Mission.

Herr Professor Garsztecki, wir erleben gerade die Rückkehr des Krieges nach Europa. Worauf gründet die Aggression Russlands gegenüber der Ukraine?

Es ist eine Politik des nahen Auslands, die bereits unter Putins Vorgänger-Administration militärstrategisch entwickelt wurde. Russland möchte wieder den Status einer Supermacht, man fühlte sich herabgesetzt vom Westen. Putin hat das schon seit den Nullerjahren gesagt und setzt das nun konsequent um. Wir erleben eine Rückkehr der Breshnew-Doktrin in anderen Kontexten. Die Breshnew-Doktrin bezog sich auf das sozialistische Lager und besagte: Wo sozialistische Staatlichkeit bedroht ist, gibt es die Verpflichtung zur sozialistischen Solidarität. Damit wurde der Einmarsch die die Tschechoslowakei 1968 gerechtfertigt. Heute gilt: Überall, wo angeblich russische Interessen bedroht sind, sieht man sich im Recht zu intervenieren. Das Völkerrecht ist von Russland gestern beendet worden.

Warum gerade jetzt?

Putin möchte sein Erbe sichern. Er ist bald 70 und will in die Geschichte eingehen als Sammler der russischen Erde. Das ist ein Begriff, der schon unter Iwan III. Ende des 15., Anfang des 16. Jahrhunderts populär war. Putin sieht natürlich eine gewisse Schwäche des Westens, die unstrittig ist. Der französische Präsident Macron prägte das Wort vom Hirntod der Nato. Wir haben einen relativ neuen amerikanischen Präsidenten, wir haben einen neuen Bundeskanzler, wir haben Präsidentschaftswahlen in Frankreich. Angelegt ist der Konflikt seit längerem. Russland packt seit Jahren viel Geld in hybride Kriegsführung, in Propaganda. Wir alle wissen, was Russia today berichtet. Ich glaube, Wladimir Putin hat jetzt einfach eine Chance gesehen zu intervenieren.

Also lagen die USA mit ihren konkreten Warnungen richtig.

Ich bin kein Militär und auch kein Geheimdienstler. Natürlich hat ein amerikanischer Präsident ganz andere Informationen als Sie als Journalist oder ich als Wissenschaftler. Es wurden sicherlich Gespräche von Kommandeuren abgehört. Sie mussten ja Truppen in eine bestimmte Position bringen, um Angriffe vorbereiten zu können, sie brauchten Unterlagen, um militärische Ziele zu identifizieren. Das alles passiert nicht von heute auf morgen. Aber noch ein weiterer Punkt ist wichtig: Putin moniert das Vorgehen des Westens, die Ausdehnung der Nato – doch er selbst hat seine Nachbarn im Westen und auch die Europäische Union nie ernst genommen. Er hat sich nie darum bemüht, historisch gewachsene Konflikte gemeinsam mit den Nachbarn zu lösen.

Welche Konflikte meinen Sie da?

In Polen gab es unter der ersten Regierung Tusk Versuche, eine Historiker-Kommission für schwierige Fragen einzusetzen. Die ist an politischen Widerständen in Moskau gescheitert. Ich denke auch ans Baltikum: Putin behauptet nach wie vor, dass die Annexion der baltischen Staaten 1940 durch die Sowjetunion freiwillig gewesen sei. Das spottet jeder Beschreibung und hat mit der Geschichte nichts zu tun. Wir könnten da eine lange Liste aufmachen. Auch für Russland hätte die Möglichkeit bestanden, eine Friedensdividende zu entwickeln. Marktwirtschaft war überall, hier wie dort, auch in Russland war in den Neunzigerjahren Demokratie, wenn auch in ökonomischer Hinsicht sehr chaotisch. Man hätte es ähnlich machen können wie andere Länder auch. Was die Ukraine in den letzten Jahren aufgebaut hat, ist ja auch in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Es ist ja nicht so, dass wir ein Faschisten-Regime in Kiew hätten und dass es da keine freien Wahlen gäbe. All das trifft eher auf Russland zu als auf die Ukraine. Und letzter Punkt: Putin hat der Ukraine die eigene Staatlichkeit abgesprochen und betont, dass es eine Staatlichkeit sei, die von Lenin geschaffen worden sei. Das ist historisch nicht zu halten.

Das ist in der Tat eine Schlüsselfrage, mit der die Invasion gerechtfertigt wird. Lassen Sie uns über die geschichtlichen Hintergründe sprechen.

Die gehen bis aufs Mittelalter zurück. Wir haben die Kiewer Rus, die vom Ende des 9. Jahrhunderts bis zum Mongolen-Einfall 1240 existierte. Das ist ein ostslawischer Staat, auf den sich heute Russland, Belarus und die Ukraine berufen. Der Staat wurde von Warägern, skandinavischen Kaufleuten, gegründet. Die Bezeichnung Kiewer Rus hatte also nichts mit Russland zu tun.

Es gab ja zu dieser Zeit auch noch gar keine russische oder ukrainische nationale Identität.

Nein, natürlich nicht. Da reden wir vom Nation building des 19. und 20. Jahrhunderts. Deshalb kann man auch fragen: Ist Russland heute überhaupt ein Nationalstaat? Ich glaube eigentlich nicht. Wir haben heute in der Russischen Föderation eine dominante Kultur, eine dominante Ethnie, aber es gibt ganz viele verschiedene Ethnien, zum Beispiel in Sibirien. Wenn wir zurück zur Kiewer Rus kommen: Die hatte verschiedene Nachfolgestaaten. Da ist das Großfürstentum Moskau, aber auch das Großfürstentum Litauen, das von der Ostsee bis ans Schwarze Meer reichte. Zusammen mit dem Königreich Polen entstand 1569 die Union von Lublin, eine neue polnisch-litauische Adelsrepublik, in der sich das gesamte Gebiet der heutigen Ukraine befand. Erst am Mittwoch waren übrigens der polnische und der litauische Präsident in Kiew und haben zur symbolischen Unterstützung ein Lubliner Dreieck gegründet. Das knüpft daran an. Diese Lubliner Union hat bis zu den Teilungen Ende des 18. Jahrhunderts durch Preußen, Österreich und Russland angedauert. Wir sehen also, dass die Kerngebiete der Ukraine lange eine ganz andere historische Entwicklung nahmen als das Großfürstentum Moskau.

Kann man sagen, dass die Staatlichkeit der Ukraine von Putin auch deshalb angezweifelt wird, weil sie jahrhundertelang von unterschiedlichen Mächten beherrscht wurde und sich in der Sowjetunion der russischen Dominanz unterordnen musste?

Natürlich gab es in der Sowjetunion eine russische Dominanz. Wenn Sie Karriere machen wollten, mussten Sie Russisch können, Stalin war ja bekanntlich auch kein ethnischer Russe, sondern Georgier. Die Ukraine selbst war aber in ihrer Geschichte auch lange geteilt: Im Osten, der zum zaristischen Russland gehörte, wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die ukrainische Sprache verboten. Im österreichischen Teil hingegen, in Galizien, gab es eine Blüte des Ukrainischen. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten wir drei ukrainische Staaten: die Westukrainische Volksrepublik, die Ukrainische Volksrepublik und die Ukrainische Sozialistische Republik. Letzte hat überstanden und wurde Teil der Sowjetunion. Es gibt also zum einen unterschiedlichste Traditionen eigener Staatlichkeit, zum anderen eine andere historische Entwicklung als in Russland. Die Westukraine, die noch lange zu Polen gehörte, hat im Prinzip erst 1939 mit der Besetzung und der Angliederung an die Sowjetunion das erste Mal russische Soldaten gesehen. Die Region war über Jahrhunderte Teil Mitteleuropas und nicht des zaristischen Russlands.

Welche Folgen hatte das für die nationale Identität in der Ukraine? Wir hören ja oft vom Ostteil des Landes, der Russland zugewandt ist und dem europäisch orientierten Westteil.

Das ist, glaube ich, zu einfach gedacht. Nehmen wir Charkiw mit 1,5 Millionen Einwohnern im Osten des Landes. Die Stadt ist zwar überwiegend russischsprachig, aber die Menschen werden sich auch als Ukrainer fühlen. Das ist nicht so eindeutig. Etwa 30 bis 40 Prozent der Ukrainer sprechen als Muttersprache Russisch.

Haben wird das im Westen manchmal missverstanden?

Ja, tatsächlich. Die Zuspitzung, wer russisch spricht, steht auf russischer Seite und hat eine russische Identität, das stimmt so definitiv nicht.

Wie ist es dann zum Bruch gekommen? Warum haben Teile der russischsprachigen Bevölkerung im Osten gesagt: Die Ukraine ist nicht mehr unsere Land?

Dass Ukraine und Russland getrennte Staaten sind, empfinden viele, vor allem ältere Ukrainer als absurd. Bei Menschen der Generation 40 plus besteht dort nach wie vor eine enge Verbundenheit mit den sowjetischen Zeiten. Kombinate sind geschlossen worden, viele wurden arbeitslos. Es gibt viele Mischehen, auf einmal war da eine Grenze. Für junge Menschen ist es vielleicht offensichtlich, dass sich die Ukraine Richtung Westen orientiert, aber dem sind nicht alle gefolgt. Und dann gibt es das Sprachengesetz, das das Ukrainische fördert und das Russische zurückdrängen soll. Zeitungen müssen eine ukrainische Ausgabe haben, in den Buchläden müssen mindestens 50 Prozent ukrainische Titel ausliegen – dieses Gesetz halte ich nicht für besonders gelungen. In der Ukraine wurde es von einigen als Bedrohung empfunden.

Natürlich kann das keine Rechtfertigung für eine Invasion sein.

Das stimmt. Und es ist auch nicht der Grund für Putin zu intervenieren. Er möchte eine Großmachtstellung haben, er möchte die europäische Staatenordnung neu schreiben – und er sieht sich natürlich bedroht durch die Farbenrevolutionen – in Georgien, in der Ukraine, aber auch durch die Proteste nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen 2020 in Belarus.

Putin sagte auch, er wolle die Ukraine entnazifizieren. Was ist dran an diesem Vorwurf?

Bevor Präsident Juschtschenko 2010 als ukrainischer Präsident abgewählt war, hat er noch Orden posthum verliehen, unter anderem an Stepan Bandera, den Führer der ukrainischen Aufstandsarmee im Zweiten Weltkrieg. Bandera war sicher ein Freiheitskämpfer, aber er war auch Nationalist und Antisemit. Diese Ordensverleihung war mehr als unglücklich. Beim Euro-Maidan 2014 gab es auch rechte Gruppierungen. Aber die haben auf die Politik keinen nachhaltigen Einfluss gehabt.

Müssen sich die baltischen Staaten jetzt auch Sorgen machen?

Russland ist entschlossen, überall die Interessen russischer Bürger zu vertreten. Auch im Baltikum, vor allem in Lettland und Estland, gibt es eine starke russische Minderheit. Die schaut sicherlich auch russisches Fernsehen, was ein reines Propagandamedium ist. Und auch da sind natürlich Formen der hybriden Kriegsführung denkbar – von Cyber-Angriffen bis hin zu Protesten.

Also reicht das imperiale Streben Putins auch bis ins Baltikum?

Ich denke grundsätzlich ja. Aber ich hoffe nicht, dass er auch plant, das Baltikum anzugreifen, denn das würde tatsächlich zu einem umfangreichen Krieg mit der Nato führen. Das kann und will ich mir nicht vorstellen.

Zur Person: Prof. Dr. Stefan Garsztecki

Stefan Garsztecki – geboren 1962 in Bergheim/Erft – studierte bis 1989 an der Universität Bonn Politikwissenschaft, Neuere und Neueste Geschichte und Kulturgeographie. Von 1987 bis 1989 arbeitete er am Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik bevor er in das Bundesinstitut für Gesamtdeutsche Aufgaben wechselte. Ab 1992 war er freier Mitarbeiter der Internationalen Bildungs- und Begegnungsstätte in Dortmund und zugleich, gefördert mit einem Promotionsstipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung, Promotionsstudent an der Universität Trier, wo er 1995 seine Dissertation abschloss. Während der Promotionsphase war er von 1993 bis 1994 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznan, Polen, tätig. Ab 1996 arbeitete er an der Universität Bremen als wissenschaftlicher Assistent bzw. Mitarbeiter, später als Geschäftsführer des Seminars für ost- und mitteleuropäische Studien. Ab September 2009 hat er die Professur Kultur- und Länderstudien an der TU Chemnitz vertreten, auf die er ein Jahr später berufen wurde. Im Mittelpunkt der Professur steht die vergleichende Analyse aktueller Entwicklungen in den Ländern Ostmitteleuropas mit Fokus auf Transformation, Europäisierung und Erinnerungsorte. 2016 wurde er zum Dekan der Philosophischen Fakultät gewählt, an der er zuvor bereits als Prodekan tätig war. Seit 2019 ist er wieder Prodekan für das Ressort Lehre, wissenschaftlichen Nachwuchs und Gleichstellung.

Weitere Informationen erteilt Prof. Dr. Stefan Garsztecki, E-Mail stefan.garsztecki@phil.tu-chemnitz.de, https://www.tu-chemnitz.de/phil/europastudien/eskultur/

Hinweis: Die "Freie Presse" veröffentlichte das Interview mit Prof. Dr. Stefan Garsztecki in der Online-Ausgabe der Zeitung sowie in gekürzter Form in der Print-Ausgabe vom 25. Februar 2022 unter der Rubrik "Zeitgeschehen". Unter dieser Rubrik, in der Rubrik „Hintergrund“ oder unter dem Motto "Einspruch - Standpunkte zum Streiten" sollen auch weiterhin verstärkt Meinungen aus Wissenschaft und Gesellschaft öffentlich gemacht werden und die Diskussion anregen. Angehörige der TU Chemnitz, die sich hier auch gern einmal fundiert äußern möchten, sind dazu herzlich eingeladen. Kontakt: chefredaktion@freiepresse.de und/oder mario.steinebach@verwaltung.tu-chemnitz.de.

Mario Steinebach
25.02.2022

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