Berufswege verlaufen nicht immer geradlinig
TUC-Absolventin Susann Schmid-Engelmann lebt heute in Landsberg am Lech und ist dort als Quartiersmanagerin tätig
Frau Schmid-Engelmann, können Sie sich kurz vorstellen?
Das mach ich gern. Ich bin 42 Jahre alt, lebe und arbeite in Landsberg am Lech – meine Kinder würden sagen, am schönsten Platz der Welt. Wie bin ich da hingekommen? Durch meinen Mann, denn er ist Landsberger. Geboren bin ich in Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz, in einem Land, das es nicht mehr gibt, der DDR. Groß geworden bin ich in der Umbruchzeit der 1990er Jahre und habe darüber viel nachgedacht. Im Grunde bin ich ein Kind der Transformation. Ich bin lebensdurstig, unternehmungslustig und dankbar. Das wird mir klarer, je älter ich werde sowie in Anbetracht aller aktuellen Umstände wie den Kriegen und Autokratien. Vor allem bin ich dankbar für die Möglichkeiten und die Umstände, in denen ich mich bewegen darf – in einer Demokratie, einem Rechtsstaat mit freien Wahlen. Das ist nicht selbstverständlich und ein großes Geschenk, aus dem es etwas zu machen gilt. Wie sagte schon meine frühere Klassenlehrerin: „Mach‘ was draus!“ Und ich habe ein heiteres Gemüt, das mich in allen Lebensbereichen begleitet und vieles leichter macht: Der Kontakt miteinander ist unkomplizierter, die scheinbar unlösbaren Dinge dieser Welt und des Lebens verlieren damit ihre Schwere. Es setzt Kreativität frei, wenn es Lösungen braucht. Warum ich das explizit erzähle? Ich glaube, es ist eines meiner Erfolgsrezepte, die mich voranbringen und mich immer wieder nach vorne blicken lassen.
Sie sind nach Ihrem Abitur vorerst in Ihrer Heimat Chemnitz geblieben und haben Erwachsenenbildung, Psychologie und Interkulturelle Kommunikation im Magister studiert. Was verbinden Sie mit Chemnitz und der TU?
Chemnitz ist da, wo ich herkomme. Als Kind und Jugendliche in einer absoluten Umbruchzeit großgeworden, betrachte ich dies schon seit längerem als überaus wertvollen Schatz in meinem Gepäck. Das habe ich mir nicht ausgesucht, aber es gehört essentiell zu meiner Lebens- und Erfahrungswelt dazu. Das Leben und seine Umstände können sich so radikal und umfassend ändern und wir müssen damit umgehen und unseren Weg finden. Chemnitz verbinde ich mit hoher Kreativität, überwiegend unterschätzt, mit Machen und zu wenig darüber sprechen. Das ist mein Chemnitz. Über das andere Chemnitz, worin alle möglichen negativen Einordnungen einsortiert werden, wird mir viel zu oft gesprochen – deshalb auch das geniale Motto der Kulturhauptstadt 2025 „C the unseen“ – womit jenes in den Vordergrund gestellt wird, was läuft, was einzigartig und sonst verborgen ist. Mit Beginn des Studiums an der TU Chemnitz bin ich von zu Hause ausgezogen, habe mein erstes eigenes Geld verdient, die Freiheit und erforderliche Selbstständigkeit des Magisterstudiums genossen und Stück für Stück meine Flügel ausgebreitet – und außerdem: Mir neue Wissensgebiete erschlossen. Zufällig bin ich in einem Zeitungsartikel über den Studiengang Erwachsenenbildung und betriebliche Weiterbildung gestolpert. Unter dem Stichwort „Lebenslanges Lernen“ fand ich das so logisch und selbsterklärend, dass es zu meinem Magister-Hauptfach geworden ist. Mit Chemnitz und der TU verbinde ich zudem unzählige Kinoabende und durchtanzte Nächte, unter der Woche in den Studentenclubs und am Wochenende in sensationellen Locations, die es nur aufgrund der Umbruchzeit in so einer Industriestadt wie Chemnitz geben konnte. Herrlich, wenn ich daran denke, so auch an die Mensa als zentralen täglichen Treffpunkt und das gemeinsame Essen mit Freundinnen und Freunden.
Was ist Ihre schönste Erinnerung, wenn Sie an Ihre Zeit in Chemnitz zurückdenken?
Oh, da gibt’s so viele verschiedene. Ich bin eben Chemnitzerin im Herzen und freue mich auch schon auf die Erinnerungen, die noch in der Zukunft entstehen werden – 2025 als Kulturhauptstadt und auf alles, was neu und kreativ entsteht. Die Erinnerungen, die zurückliegen, sind teils länger her und teils ganz frisch: Neben den schon angesprochenen durchtanzten Nächten denke ich an tolle Filmabende im wunderbaren Clubkino Siegmar oder im Filmclub Mittendrin, an das Studentenabo für die Theater Chemnitz, Baden im Stausee, Eisdisko, Eis essen an der Kaßberg-Auffahrt, Sport treiben und kreatives Gestalten im früheren Spektrum. Mein Highlight bis in die jüngere Gegenwart – zur weltbesten Friseurin gehen. Das ist wirklich ein Ritual, das fast niemand versteht, aber ich zelebriere es. Es ist wie Urlaub und nach Hause kommen. Es sind natürlich auch die Menschen – ob damalige Klassenlehrerin, Handball- und Tanztrainer, Professoren und meine Betreuerin der Magisterarbeit – ihnen allen bin ich sehr dankbar für das, was ich mitnehmen durfte, nämlich sportlichen Einsatz und Durchhaltevermögen, Begeisterungsfähigkeit und Kreativität in der Umsetzung, kritisches Denken und vielseitiges Annähern an ein Thema, ein Herz für Menschen.
Würden Sie mit heutigem Rückblick das gleiche Studium erneut wählen und warum?
as ist eine spannende Frage, nachdem die Welt heute eine andere ist und auch ich selbst heute eine andere bin als vor 20 Jahren. Ich würde auch heute ein Studium wählen, das mich interessiert und ich weiß nun mit etwas Abstand, dass das Studium nur ein Baustein ist, auf den noch viele folgen. Meine heutige Studienwahl hätte definitiv mit Menschen, mit Struktur und auch mit Transformation zu tun, eventuell wieder mit Bildung oder mit Stadtentwicklung, vielleicht auch mit Wirtschaft. Neben der Fächerwahl an sich ist so vieles andere mindestens genauso wichtig, entscheidend und hört nicht auf: Arbeitsweisen entwickeln, praktische berufliche Kompetenzen erwerben, Interdisziplinarität suchen, Denken und Machen verbinden, ein gutes soziales Netzwerk stricken, Freude am Leben haben und dort viel Energie schöpfen.
Ihre aktuelle Berufsbezeichnung lautet „Quartiersmanagerin“ – was genau kann man sich darunter vorstellen?
Als Quartiersmanagerin bin ich Teil eines komplett neu entstehenden gemischt genutzten Quartiers „Am Papierbach“ in der Innenstadt Landsbergs. Dort findet gewissermaßen eine Stadtreparatur statt. Wo früher ein Industrieareal war, welches für die Bevölkerung im Grunde nicht zugänglich war, entsteht jetzt ein Raum für Wohnen, Gewerbe, Einzelhandel, Kultur, Bildung, Grün, Spielen u. v. m. Ich bin kommunikativer Dreh- und Angelpunkt für Bewohnerinnen und Bewohner, Interessierte und die Stadtgesellschaft. Im Moment geht es vorrangig darum, Aufenthaltsqualität und ein gutes Miteinander im Quartier zu ermöglichen. Das heißt, das Quartier lebendig werden zu lassen und die Verbindung zwischen Altstadt und neuem Quartier zu knüpfen, zum Beispiel durch Begegnungen, Aktivitäten, Kommunikation. Als Quartiersmanagerin schaffe ich Verknüpfungen zwischen Altstadt und neuem Quartier, zwischen Menschen unterschiedlichster Art, ich bahne Kooperationen an, ich verhelfe Ideen zur Realisierung, binde lokale Akteure wie Gastronomen, städtische Einrichtungen und weitere ein. Zukünftig wird es auch um Themen der Nutzung und Bewirtschaftung gehen. Dafür kann ich mich jeden Tagt aufs Neue begeistern, weil es so vielfältig und gleichzeitig so lebensnah ist. Es geht um Mobilität, um viele Fragen des Heute und Morgen, die gelebt und mitgestaltet werden, kurze Wege im Sinne der 15-Minuten-Stadt, hohe Lebensqualität in einem sozial gemischten Quartier.
Noch während Ihres Studiums sind Sie ins Ausland gegangen. Sie haben in vielen Bereichen gearbeitet. Wie verlief Ihr Weg? Welche Entscheidungen haben Sie vorangebracht und gab es auch Rückschläge?
Ich habe während des Studiums ein Jahr in Moskau verbracht. Dieser Aufenthalt hat auch meinen Berufseinstieg an der Deutschen Botschaft in Moskau geebnet. In den vergangenen zwei Jahren habe ich viel über diese Zeit und meine (Fehl-)Einschätzungen in Bezug auf Russland nachgedacht, sehr viel gelesen und einen neuen Blick gewonnen. Ich war damals blind für das, was manch anderer schon anmahnte und habe mich der Erzählung „alles wird enger und besser“ hingegeben. Es ist sozusagen auch ein später Rückschlag und die tiefe Betroffenheit, was sich derzeit im Zuge des russischen Angriffskrieges in der Ukraine abspielt. Zurück zum ersten Rückschlag, an den ich mich erinnere: der DAAD wollte meinen Auslandsaufenthalt nicht fördern. Da musste ich einen Plan B entwickeln – der hieß dann AuslandsBAföG beantragen und Nebenjob suchen – und so funktionierte es trotzdem. Mit dem ersten Kind und der Rückkehr aus der Elternzeit gab es einen zweiten Rückschlag. Ich konnte nicht in dem zeitlichen Umfang, wie ursprünglich vereinbart, an meinen Arbeitsplatz zurückkehren, sondern musste mit weniger Einkommen und trotzdem hohen Ausgaben, z. B. für Kinderbetreuung, zurechtkommen. Ich war im Grunde unglücklich mit der Situation und fühlte mich nicht gesehen mit meiner Ambition. Hier hätte ich früher kommunizieren können. Vielleicht hätte dies geholfen, vielleicht auch nicht. Das weiß ich nicht. Ein Umzug und die Rückkehr nach Deutschland haben die Situation dann beendet. Trotz allem war das berufliche Dranbleiben nach der Elternzeit und das zügige wieder Zurückkehren in den Beruf bei beiden Kindern extrem wichtig. Auch wenn der damalige Zustand unbefriedigend war, machte er doch einen entscheidenden Unterschied in der Zukunft: Erfahrungswerte, Kompetenzen, Selbstbewusstsein, Rentenpunkte. Die Rückkehr nach Deutschland und Neuverortung in Bayern haben mich in die Selbstständigkeit geführt. Das war einerseits eine tolle Zeit mit vielen verschiedenen Aufträgen, Trainingsthemen und auch Reisen. Und als ich gerade etwas Fahrt aufgenommen hatte, brachen mir urplötzlich fest eingeplante Aufträge weg und ich stand ohne Einnahmen da. Dann habe ich mich einmal durchgeschüttelt und Szenarien durchgespielt und final entschieden, dass ich Stellenanzeigen sondiere. Im Jahr 2016 gab es interessante Stellen im gesamten Bundesgebiet an der Schnittstelle zu Bildung und Integration – auch an meinem direkten Lebensmittelpunkt. Die Entscheidung, als berufstätige Mutter am Wohnort zu arbeiten und nicht zu pendeln, hat sich für mich in Zeit und Geld gelohnt. Das ist wirklich eine der besten Entscheidungen, die ich für mich getroffen habe. Meine verfügbare Zeit geht in Arbeit und nicht in Fahrzeit und ich bin bei Notfällen schnell greifbar und an Ort und Stelle. Es gab schon noch den ein oder anderen Rückschlag – auch gesundheitlich und persönlich – und den wird es auch in Zukunft geben. Was ich gelernt habe, die eigene Verantwortung für sich übernehmen und dann aktiv werden: Gespräche suchen, Entscheidungen treffen, umsteuern, ein kraftvolles Umfeld suchen – manchmal schaffst Du es nicht allein, da kann dir ein gutes soziales Netz Flügel wachsen lassen. Machen musst Du es allein, aber Du weißt, Dich trägt jemand. Und auf einmal läuft‘s wieder – anders, häufig besser.
Bei all Ihren verschiedenen Tätigkeiten – woher nehmen Sie Ihre Motivation bzw. Intension, neue Wege zu gehen?
Die Freude am Ausprobieren und Entdecken. Lebenslanges Lernen! Es gibt für mich immer und überall etwas zu entdecken. Neue Menschen und neue Orte kennenlernen, schauen, wie das Leben anderswo funktioniert. Hinterher bin ich immer schlauer, reicher an Erfahrung und ich verknüpfe das Neue mit dem Vorherigen. Und klar, manchmal gibt’s auch Bedenken oder ein mulmiges Gefühl, dann kann ich mich fragen: Was ist das denkbar Schlimmste, was passieren kann und wie schlimm ist das wirklich? Mut zahlt sich immer aus – ist meine bisherige Erfahrung.
Sie sind zweifache Mutter und nebenbei u. a. selbstständig gewesen. Was raten Sie karriereorientierten Frauen bei der Familienplanung?
Nicht verkopfen, nicht planen. Leben und Lösungen suchen. Der eine Lebensbereich bereichert automatischen den anderen. Der Erfahrungsschatz wächst, die Perspektivenvielfalt wächst, das halte ich für grundlegend gut, wichtig und sehr wertvoll – sowohl persönlich als auch gesamtgesellschaftlich. Finanzielle Unabhängigkeit von Anfang an und ununterbrochen leben. Viele Frauen sind von Altersarmut betroffen. Ich habe aktiv vor ca. fünf Jahren begonnen, mich damit zu beschäftigen. Vorher dachte ich immer – das kann ich später machen. Dies hat auch mit finanzieller Bildung zu tun, viel zu wenig thematisiert in unserem Bildungssystem. Vielleicht ein paar Gedanken: Mit einem finanziellen Polster schläft es sich ruhiger, ich habe eigene Ressourcen zur persönlichen Weiterbildung, ich kann meine eigenen Entscheidungen treffen. Das klingt so banal – und ist fundamental. Es macht nämlich einen riesigen Unterschied, wenn es nicht so ist. Mir hilft des Öfteren der Gedanke: Wie möchte ich, dass meine Kinder und auch deren Freundinnen und Freunde mich sehen? Welche Mutter will ich sein und was will ich Ihnen vorleben. Dann weiß ich, was ich tun muss.
Wofür begeistern Sie sich am meisten? Was war Ihr letztes großes Projekt?
Ich kann mich für so vieles begeistern und finde, es gibt so viel zu entdecken und zu machen. Persönlich sehr viel weitergebracht hat mich im letzten Jahr meine Teilnahme am neuaufgelegten Online-Programm „10morein“. Es ist eigentlich ein Leadership-Programm, ich habe mich einfach beworben, weil ich ein Thema hatte, mit dem ich alleine nicht weitergekommen bin. Ich hatte in meinem Lieblingspodcast davon gehört. Und: Was ist das Schlimmste, was passieren kann? Dass sie mich nicht nehmen. Aber was ist, wenn es klappt? Manchmal braucht es ein anderes Setting, andere Menschen um einen herum und etwas Abstand, um auf sich selbst zu schauen. Und im vergangenen Sommer habe ich Teil 1 meines Traums gelebt: Eine Zugreise mit Familie durch West-Südwesteuropa mit unzähligen Stationen und Stunden an Vorbereitung. Europa begeistert mich, das möchte ich selbst auch an Orten und Plätzen erleben, an denen ich noch nie war. Außerdem möchte ich meinen Kindern unseren Kontinent eröffnen, bevor sie andere bereisen wollen.
Welche Tipps haben Sie für frische Absolventinnen und Absolventen für den Berufseinstieg?
Sucht schon vor dem Abschluss immer wieder den Bezug zur Praxis – z. B. durch Nebenjobs, Ehrenamt, Praktika, eigene Gründung. Nehmt Euch dabei Zeit zur Reflexion, was habe ich genau gemacht, was davon war neu für mich, was habe ich dabei gelernt. So kommt Ihr auf Eure eigene Spur und könnt Eure Stärken, Kompetenzen und blinden Flecken benennen. Alle Menschen, mit denen Ihr in Kontakt kommt, sind Teil Eurer Community, also auch Eures beruflichen Netzwerks. Das ist sehr wertvoll und erfordert einen achtsamen Umgang. Hört Podcasts, lest Bücher, sucht und trefft Menschen, die Euch inspirieren, um Euch weiterzuentwickeln!
(Die Fragen stellte Stephanie Höber, Alumni-Koordinatorin der TU Chemnitz.)
Mario Steinebach
31.01.2024