Wie eine Prinzessin auf der Erbse
Forscher der TU Chemnitz und internationaler Kooperationspartner weisen neuartige Anregungen in frustrierten magnetischen Systemen nach – Wegweisende Veröffentlichung in renommierter Fachzeitschrift Physical Review Letters
Prof. Dr. Martin Weigel von der Professur Simulation naturwissenschaftlicher Prozesse an der Technischen Universität Chemnitz, sein Kooperationspartner Prof. Dr. Zohar Nussinov von der Washington University St. Louis sowie weitere Forscher an der Harvard University und der Indiana University in den USA widmen sich der Untersuchung von niederenergetischen Anregungen in magnetischen Systemen mit glasartigen Eigenschaften, sogenannten Spingläsern. Worum geht es dabei? Die Konkurrenz widerstreitender Wechselwirkungen führt in manchen magnetischen Systemen zu einem Frustrationseffekt, so dass die magnetischen Momente keine ausgeglichene Ruheposition finden können – das Phänomen ist ähnlich zum Auftreten von Puzzleteilen, die in allen möglichen Orientierungen gleich schlecht in ihre Umgebung passen. Kommt zur Frustration dann noch Unordnung – im Bild gesprochen sind alle Puzzleteile in Details verschieden geformt –, so kann ein solches System auch bei niedrigen Temperaturen keinen geordneten Zustand einnehmen. Stattdessen friert es in einem zufällig frustrierten Zustand ein. Damit verhalten sich diese Systeme ähnlich wie Glas, das im festen Zustand nicht kristallin ist wie die meisten anderen Feststoffe, sondern lediglich eine äußerst zähe Flüssigkeit darstellt, die selbst auf Zeitskalen von Jahrtausenden nicht nennenswert fließt.
In einem im Juni 2024 in der Fachzeitschrift Physical Review Letters erschienenen Beitrag haben die Forscher um Prof. Dr. Martin Weigel nun nachgewiesen, dass es sich bei solchen Spinglasphasen um äußerst fragile Zustände handelt. Schon die minimale Änderung der Wechselwirkung eines einzelnen Paars von magnetischen Momenten („Spins“) im Gitter führt zu einer massiven Antwort des Systems, das in der Regel in einem vollkommen anderen Zustand landet. „Wie die Prinzessin auf der Erbse bemerkt das frustrierte System die kleinste Veränderung und kommt nicht zur Ruhe“, sagt Weigel. Die Reaktion der Spinglassysteme auf kleine Störungen finde in Form von hier entdeckten Nullenergietröpfchen statt, die eine breite Größenverteilung sowie ausfranste, fraktale Ränder aufweisen. In einem gewöhnlichen Magneten seien solche Anregungen dagegen lokal, und der Energieaufwand steige mit der Größe der Tröpfchen.
Um die genaue Natur der Ordnung in der Spinglasphase wird seit über 40 Jahren teilweise heftig gestritten. Im Jahre 2021 erhielt der römische Physiker Giorgio Parisi den Physiknobelpreis für seine wegweisenden Arbeiten zur Spinglasphase im Grenzfall hochdimensionaler Systeme. Zum Verhalten in physikalisch realistischen Systemen im dreidimensionalen Raum gibt es jedoch mehrere konkurrierende Theorien, dabei aber keinen Konsens unter den Forschenden. “Unsere Arbeit zeigt zum ersten Mal, dass in Spingläsern Anregungen minimaler Energie und unbeschränkter Größe existieren, die Eigenschaften von verschiedenen konkurrierenden Theorien kombinieren”, erläutert Weigel. Damit rücke eine konsistente und vollständige Beschreibung der Spinglasphase in realistischen Systemen in greifbare Nähe.
Das abstrakte Modell solcher Spingläser hat breit gefächerte Anwendungen, die von Modellen für magnetische Systeme über Netzwerke der Genregulation und neuronale Netze bis zum Schwarmverhalten bei Zugvögeln reicht. „Insbesondere sind sie prototypische Systeme für das Studium von Optimierungsproblemen und die algorithmische Komplexität mit ihrer Vielzahl von Einsatzgebieten von der Produktionsplanung bis zur Suche nach neuen Materialien und Medikamenten“, erläutert der Chemnitzer Physiker.
Publikation: M. Shen, G. Ortiz, Y.-Y. Liu, M. Weigel, and Z. Nussinov, Universal fragility of spin glass ground states under single bond changes, Phys. Rev. Lett. 132, 247101 (2024) – DOI: https://doi.org/10.1103/PhysRevLett.132.247101
Weitere Informationen erteilt Prof. Dr. Martin Weigel, Telefon +49 (0) 371 531-34570, E-Mail martin.weigel@physik.tu-chemnitz.de.
Mario Steinebach
04.07.2024