Minna-Simon-Lesesaal feierlich eingeweiht
TU Chemnitz würdigt die Textilarbeiterin Ernestine Minna Simon, die 1883 in der Alten Aktienspinnerei – dem heutigen Gebäude der Universitätsbibliothek – als erste Frau in Deutschland einen größeren Streik anführte

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Angela Malz (l.), Direktorin der Universitätsbibliothek, Prof. Dr. Gerd Strohmeier, Rektor der TU Chemnitz, und Dr. Maike Lüssenhop, stellv. Gleichstellungsbeauftragte der TU Chemnitz, haben die Namensgebung vollzogen. Foto: Anne Eichhorn -
Der Lesesaal ist das Herzstück der Universitätsbibliothek der TU Chemnitz. Archivfoto: Jacob Müller -
Zahlreiche Gäste, darunter Vertreterinnen und Vertreter des Deutschen Bundestages und des Chemnitzer Stadtrates, waren bei der feierlichen Namensgebung anwesend. Zu Gast war auch Ralph Burghart (2. v. r.), Bürgermeister für Personal, Finanzen und Bildung der Stadt Chemnitz und Vorsitzender des Hochschulrats der TU Chemnitz. Foto: Anne Eichhorn -
Ansicht der Aktienspinnerei aus dem Jahr 1890. Bildquelle: Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden -
Am 7. Juni 1883 begann der Streik in der Chemnitzer Aktienspinnerei. Die Forderungen des Streikkomitees, zu dem auch Minna Simon gehörte, sind überliefert. Quelle: Chemnitzer Tageblatt, 17. Juni 1883, S. 11 -
Am 25. Juni 2016 wurde eine Gedenktafel zur Erinnerung an Minna Simon als erster „Frauenort“ am Schillerplatz durch den Landesfrauenrat Sachsen eingeweiht. Diese wurde nach der Eröffnung der Universitätsbibliothek hierhin umgesetzt und erinnert heute im Eingangsbereich des Bibliotheksgebäudes an die streikführende Textilarbeiterin. Foto: Anne Eichhorn -
In unmittelbarer Nähe des Gebäudes der Universitätsbibliothek trägt auch eine Straße den Namen von Minna Simon. Foto: Anne Eichhorn
Auf Anregung des Chemnitzer Stadtrates hat sich das Rektorat der Technischen Universität Chemnitz entschieden, die Textilarbeiterin Ernestine Minna Simon (1845 – 1902) zu ehren: Am 4. April 2025 erhielt der Lesesaal der Universitätsbibliothek der TU Chemnitz im Rahmen einer kleinen Feierstunde den Namen Minna Simon.
Ernestine Minna Simon war die erste Frau in Deutschland, die einen Streik anführte – in der ehemaligen Chemnitzer Aktienspinnerei, dem Ort der heutigen Universitätsbibliothek. „Frau Simon hat sich am Ort unserer heutigen Universitätsbibliothek für die Verbesserung der – damals äußerst prekären – Arbeits- und Lebensbedingungen eingesetzt, dabei eine klare politische Haltung bewiesen und zugleich die Bedeutung der politischen Teilhabe von Frauen unterstrichen. Ihr Wirken verbindet sie nicht nur mit dem Ort, sondern auch den Werten unserer Universität“, sagt Rektor Prof. Dr. Gerd Strohmeier.
Zur Person: Ernestine Minna Simon
Ernestine Minna Simon war Textilarbeiterin, die vor 142 Jahren in der ehemaligen Aktienspinnerei, der größten Spinnerei Deutschlands, tätig war. Hier kämpfte sie für eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der rund 700 Fabrikarbeiterinnen und 300 Fabrikarbeiter. Frauen hatten es damals viel schwerer als ihre männlichen Kollegen, denn bei gleicher Arbeitszeit – meist mehr als zwölf Stunden am Tag – erhielten sie nur knapp die Hälfte des Lohnes und mussten anschließend meist noch Kinder betreuen und sich um den Haushalt kümmern.
Die Firmenleitung der Chemnitzer Aktienspinnerei reagierte 1883 auf zurückgehende Gewinne mit der Einstellung eines neuen technischen Direktors, der Erhöhung der täglichen Arbeitsbelastung und längeren Arbeitszeiten. Die Spannungen zwischen Firmenleitung und den Arbeiterinnen und Arbeitern entluden sich insbesondere an einer neuen Pausenregelung, die im Gegensatz zu den bisherigen Regelungen das Verlassen des Firmengeländes untersagte und besonders die Frauen traf. Daraufhin begann am 7. Juni 1883 in der Chemnitzer Aktienspinnerei einer der größten deutschen Textilarbeiterstreiks. Dieser Streik hat deshalb eine besondere historische Bedeutung, weil mit Ernestine Minna Simon erstmals in der deutschen Industriegeschichte eine Frau als Streikführerin agierte. Die damals 37-jährige Simon war zugleich Mitglied des Streikkomitees, trug die Anliegen der Streikenden vor und sprach auf Vollversammlungen. Zudem sammelte sie Unterstützungsgelder für die Familien der streikenden Arbeiterinnen und Arbeiter. Der Aufsichtsrat der Aktienspinnerei stimmte nach einer Woche einer Mehrheit der Forderungen der Streikenden zu. Lediglich der Entlassung des technischen Direktors Roderich Degelmann wurde nicht entsprochen. Nach dem Ende des Streiks verließ Simon aus diesem Grund die Aktienspinnerei und Chemnitz. Sie ging nach Dresden. Sie verstarb dort am 13. Oktober 1902 im Alter von 56 Jahren.
Etablierung einer weiblichen Erinnerungskultur
Zur feierlichen Namensgebung des Lesesaals skizzierte Dr. Maike Lüssenhop, stellv. Gleichstellungsbeauftragte der TU Chemnitz, Minna Simon als eine ungewöhnliche Frau, die sich für die Rechte der Arbeiterklasse über alle Maße engagiert hat. „Natürlich wissen wir nicht, wie viele Frauen in Sachsen und weltweit ungenannt und unbekannt bleiben, aber wir können sie durch die Etablierung einer weiblichen Erinnerungskultur und die Förderung einer geschlechtersensiblen Geschichtsschreibung zumindest teilweise und stellvertretend aus der Unsichtbarkeit befreien. Deswegen ist es eine wichtige Entscheidung, dass heute und hier der Minna-Simon-Lesesaal in der alten Chemnitzer Aktienspinnerei und neuen Universitätsbibliothek eröffnet wird“, so Lüssenhop.
Die Umbenennung des Lesesaals fand im Rahmen der „Nacht der Bibliotheken“ statt. Unter den Gästen waren unter anderem Vertreterinnen und Vertreter des Deutschen Bundestages und des Chemnitzer Stadtrates. Zu Gast war auch Ralph Burghart, Bürgermeister für Personal, Finanzen und Bildung der Stadt Chemnitz und Vorsitzender des Hochschulrats der TU Chemnitz.
Bereits frühere Ehrungen für Minna Simon
Es ist nicht die erste Ehrung der engagierten Frau. Bereits im Jahr 2000 wurde zur Erinnerung an das Wirken von Simon nahe der Alten Aktienspinnerei die Obere Aktienstraße in Minna-Simon-Straße umbenannt. Am 25. Juni 2016 wurde eine Gedenktafel zur Erinnerung an Minna Simon als erster „Frauenort“ am Schillerplatz durch den Landesfrauenrat Sachsen eingeweiht. Diese wurde nach der Eröffnung der Universitätsbibliothek hierhin umgesetzt und erinnert heute im Bibliotheksgebäude an die streikführende Textilarbeiterin.
Mario Steinebach
04.04.2025