Neue Blickwinkel auf urbane Transformationen und interdisziplinäre Raumforschungskonzepte
Zwei Wissenschaftlerinnen und ein Wissenschaftler der Philosophischen Fakultät haben zwei wegweisende Sammelbände herausgegeben, die sich mit Fragen der Stadt- und Raumforschung beschäftigen

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Prof. Dr. Cecile Sandten (l.), Inhaberin der Professur Anglistische Literaturwissenschaft an der TUC, Prof. Dr. Christina Sanchez-Stockhammer, Inhaberin der Professur Englische und Digitale Sprachwissenschaft,und Prof. Dr. Marian Nebelin, Inhaber der Professor Geschichte der Antike und der Antikerezeption in der Moderne an der TUC, bringen ihre Expertise in die von ihnen herausgegebenen Sammelbände mit ein. Fotomontage: Jacob Müller (Bildquellen: Petra Hammermüller, privat, Jacob Müller)
Marian Nebelin, Professor für die Geschichte der Antike und der Antikerezeption in der Moderne, Christina Sanchez-Stockhammer, Professorin für Englische und Digitale Sprachwissenschaft, und Cecile Sandten, Professorin für Anglistische Literaturwissenschaft an der Technischen Universität Chemnitz, haben im Rahmen der Forschungsverbundinitiative “Palimpsesträume” den Sammelband „Palimpsest und Raum: Über ein neues Konzept für die Kulturwissenschaften“ bereits im Dezember 2024 bei transcript veröffentlicht. Nun erscheint auch „Making the City: Transformative Processes in (Post)Industrial Urban Spaces“ bei WVT (2025), herausgegeben von Cecile Sandten. Der Band basiert auf der gleichnamigen internationalen, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Konferenz, die 2023 an der TU Chemnitz stattfand. Beide Publikationen greifen das Thema Stadt und Raum auf – ein seit einigen Jahren etablierter Forschungsschwerpunkt an der Philosophischen Fakultät.
Palimpsest und Raum: Über ein neues Konzept für die Kulturwissenschaften
Der Begriff „Palimpsest“ geht zurück auf eine antike Praxis zur Gewinnung von Schreibmaterial, bei der bereits beschriebene Materialien aus Gründen der Sparsamkeit beispielsweise durch Abschaben für eine erneute Nutzung vorbereitet wurden. Heute wird er zunehmend auf kulturelle, literarische und räumliche Phänomene übertragen. Der vorliegende Band „Palimpsest und Raum: Über ein neues Konzept für die Kulturwissenschaften“ geht aus dem Assoziierten Panel „Herausforderungen und Potentiale der Palimpsestraumtheorie“ hervor, das von der Forschungsverbundinitiative „Palimpsesträume“ im Rahmen des Internationalen Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Semiotik vom 28. September bis 2. Oktober 2021 organisiert wurde. Seit 2019 entwickelt diese interdisziplinäre Gruppe innovative Ansätze, um die Überlagerungen, Tilgungen und Erinnerungsprozesse in Texten, Kulturen und urbanen Räumen zu erforschen.
„Unser Buch bietet eine präzisierte Anwendung des Palimpsest-Begriffs mit einem gezielten Fokus auf raumspezifische und interdisziplinäre Fragestellungen“, erklärt Sandten. Nebelin ergänzt: „Die Beiträge eröffnen neue Perspektiven auf den Palimpsest-Begriff, insbesondere in Archäologie, Geschichts- und Kulturwissenschaften sowie der Linguistik.“ Sanchez-Stockhammer hebt zudem hervor, dass die Gruppe den Palimpsestraum-Begriff substanziell weiterentwickelt, um seine Anwendung zu schärfen und neue Denkrichtungen zu eröffnen.
Die im Band versammelten Beiträge spiegeln diese interdisziplinäre Vielfalt wider. Grundlegende Forschungen zum Verhältnis von „Palimpsest und Raum“ (Marian Nebelin & Cecile Sandten) bilden das theoretische Fundament, auf dem sich unterschiedliche thematische Schwerpunkte entfalten. So untersucht Christoph Grube den „Chronotopos der Stadt als (hypertextuelles) Palimpsest“, während Christina Sanchez-Stockhammer die Verbindung zwischen „Palimpsest und Augmented Reality“ reflektiert. Stefan Feuser diskutiert das Potenzial des Palimpsestraumkonzepts für die Klassische Archäologie, während Gesine Mierke die Palimpsestmetapher anhand literarischer Texte des Mittelalters analysiert. Auch urbane und gesellschaftspolitische Fragestellungen stehen im Mittelpunkt: Daniela Zupan betrachtet die „postsozialistische Stadt als Palimpsestraum“, während Stefan Garsztecki sich mit „Repräsentation, Öffentlichkeit und Gedächtnis im urbanen Raum Ostmitteleuropas“ befasst. Silke Hünecke untersucht die „antifranquistische Urban Memory in Barcelona“ und reflektiert die kulturwissenschaftliche Anwendung der Palimpsestraummetapher. Ellen Fricke widmet sich „Berliner Palimpsesträumen als Blended Mental Spaces“ und illustriert dies am Beispiel der Debatte um eine mögliche Umbenennung des „Selenskyj-Platzes 1“ in Berlin. Cecile Sandten schließlich entwirft in ihrem Beitrag die Konzeption eines „toxischen postkolonialen Palimpsests“ als Versuch einer theoretischen Zusammenführung. Damit wird eine breite Palette an inter- und transdisziplinären Perspektiven aufgezeigt, die das Konzept der „Palimpsesträume“ in unterschiedlichste fachliche und kulturelle Kontexte übertragen und weiterdenken.
Making the City: Transformative Processes in (Post)Industrial Urban Spaces
Eine weitere Facette der Stadtforschung beleuchtet „Making the City: Transformative Processes in (Post)Industrial Urban Spaces“. Der von Cecile Sandten herausgegebene Sammelband geht auf die internationale, von der DFG geförderten Konferenz zurück, die 2023 an der TU Chemnitz stattfand und als wissenschaftliche Grundlage für die Sonderaussstllung “Tales of Transformation: Chemnitz – Gabrovo – Łódź – Manchester – Mulhouse – Tampere”, gilt, die vom 25. April bis 16. November 2025 im Rahmen der Kulturhauptstadt Europas 2025 im Industriemuseum Chemnitz gezeigt wird.
Der Band untersucht industrielle Erbeprozesse und ihre Auswirkungen auf Städte, insbesondere auf postindustrielle Herausforderungen, alternative Stadtentwicklungskonzepte und community-getriebene Initiativen. “Mein Sammelband zeigt alternative Modelle der Stadtgestaltung auf, die über rein wirtschaftliche Perspektiven der Industrialisierung hinausgehen”, erklärt Sandten. Die versammelten Beiträge beschäftigen sich mit Fragen der Stadtplanung, architektonischen Transformationen und künstlerischen Reflexionen über postindustrielle Räume. Beispielsweise wird das Chemnitzer Industriemuseum als Schauplatz für den Wandel der Stadt diskutiert, während andere Beiträge sich mit der Nutzung ehemaliger Industrieareale in Deutschland und darüber hinaus befassen. Besonders spannend sei aus Sicht von Sandten die literatur- und kunstwissenschaftliche Perspektive: „Die Untersuchung postindustrieller Stadtbilder in Literatur, Kunst und Musik zeigt, wie kulturelle Ausdrucksformen zur Gestaltung urbaner Identitäten beitragen“, so die Herausgeberin.
So untersucht der Band die vielschichtigen Transformationsprozesse postindustrieller Städte aus verschiedenen Perspektiven: Die Einleitung von Sandten gibt einen Überblick über die Thematik der Stadtgestaltung in (post)industriellen Räumen. Jürgen Kabus und Barbara Waske thematisieren in ihrem Beitrag die industrielle Vergangenheit von Chemnitz und beleuchten die geplante Sonderausstellung des Industriemuseums im Rahmen der Kulturhauptstadt Europas 2025. Ergänzt wird dieser Abschnitt durch das Gedicht “Sooty City” von Cecile Sandten, das die industrielle Vergangenheit poetisch reflektiert.
Der erste Teil des Bandes widmet sich den Zusammenhängen von (Post)Industrialisierung, Politik, Architektur und Stadtentwicklung. Matevž Šlabnik betrachtet die historische und gegenwärtige Rolle der Quecksilbermine in Idrija für den städtischen Wohnraum. Jochen Kibel analysiert die Verflechtung von Zigarettenproduktion und Kolonialismus in der Stadtentwicklung am Beispiel des Ermeler-Hauses in Berlin. Andrea B. Farabegoli zeigt kritisch auf, wie sich das Stadtbild von Forlì vom faschistischen Erbe Mussolinis zu einer modernen Identität wandelte. Sara Khalil Elmorsy und Hellen Aziz untersuchen die adaptive Wiederverwendung historischer Industriegebäude in Deutschland am Beispiel von Kassel und Berlin. Daniela Zupan thematisiert politische Aspekte der Stadtentwicklung in Ungarn, insbesondere Exklusion und ungleiche Ressourcenverteilung.
Der zweite Teil widmet sich den kulturellen und künstlerischen Perspektiven postindustrieller Räume. Cecile Sandten analysiert die Gedichte des amerikanischen Lyrikers Robert Gibb über Pittsburgh, die poetisch den industriellen Wandel der Stadt als ehemalige Stahlindustriestadt dokumentieren. Bettina Lockemann reflektiert urbane Erneuerung in New Orleans nach dem Hurricane Katrina mittels eines fotografischen Rundgands durch New Orleans. Airin Tegelman und Hanne Juntunen untersuchen, wie britische Post-Punk- und Mainstream-Musik das Bild postindustrieller Städte widerspiegeln. Abschließend geht David Gledhill der Frage nach, inwieweit Manchester als postindustrielle Stadt ein fruchtbares Umfeld für die bildende Kunst bietet. Das Buch bietet somit einen interdisziplinären Blick auf die komplexen Prozesse des Stadtwandels in postindustriellen Gesellschaften.
Beide Sammelbände reflektieren zentrale Forschungsschwerpunkte der Philosophischen Fakultät der TU Chemnitz und verdeutlichen die Relevanz interdisziplinärer Herangehensweisen in der Stadt- und Raumforschung. Indem sie historische, linguistische, kulturelle und sozialwissenschaftliche Perspektiven zusammenführen, eröffnen sie neue Blickwinkel auf urbane Transformationsprozesse und theoretische Konzepte der Raumforschung.
Kontakt: Prof. Dr. Marian Nebelin, Geschichte der Antike und der Antikerezeption in der Moderne, E-Mail marian.nebelin@phil.tu-chemnitz.de; Prof. Dr. Christina Sanchez-Stockhammer, Englische und Digitale Sprachwissenschaft, E-Mail christina.sanchez-stockhammer@phil.tu-chemntiz.de; Prof. Dr. Cecile Sandten, Anglistische Literaturwissenschaft; E-Mail cecile.sandten@phil.tu-chemnitz.de
Mario Steinebach
26.03.2025