Die Menschen hinter den roten Zahlen
Soziologen der TU Chemnitz erforschen die Verbraucherinsolvenz - erste Ergebnisse ihrer Befragung liegen vor
Wer sind sie, die Menschen hinter den roten Zahlen? Dieser Frage gehen Dr. Wolfram Backert, Prof. Ditmar Brock und Dr. Götz Lechner (v.l.) in ihrem Forschungsprojekt nach. Foto: Mario Steinebach |
Seit dem Jahr 2005 arbeiten Soziologen der TU Chemnitz am Projekt "Das Verbraucherinsolvenzverfahren - ein funktionierendes Hilfesystem gegen Exklusion aus dem Wirtschaftssystem", das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird. Das Forschungsteam der Arbeitsgruppe "Soziale Ungleichheit und Überschuldung" an der Professur Allgemeine Soziologie II hat in der aktuellen Untersuchung Befragungen bei Personen durchgeführt, die in den Jahren 2005 und 2006 ein Verbraucherinsolvenzverfahren eröffneten. Damit kann die Studie erstmals Aussagen über die Menschen hinter den roten Zahlen treffen.
Es wurden mehr als 18.000 Fragebögen in die fünf neuen Bundesländer sowie nach Hessen und nach Niedersachsen versandt. Mehr als 1.600 kamen ausgefüllt wieder zurück. "In Anbetracht des heiklen Themas ist dieser Rücklauf akzeptabel, die Prüfung und der Vergleich der gewonnenen Daten mit anderen Quellen zeigen: Die Datenqualität ist gut und die im Folgenden vorgestellten Ergebnisse sind aussagekräftig", so Prof. Dr. Ditmar Brock, Inhaber der Professur Allgemeine Soziologie II.
Die Schuldsummen, die ins Verfahren gebracht wurden, liegen zwischen 1.000 und mehr als einer Million Euro, die meisten Betroffenen haben Schulden zwischen 10.000 und 20.000 Euro, der mittlere Wert liegt zwischen 20.000 und 40.000 Euro. Den Schuldsummen steht ein mittleres Haushaltsnettoeinkommen von 1.200 Euro gegenüber.
Ursachen und Folgen von Überschuldung
Als Hauptursache von Überschuldung diagnostizierte die Studie Arbeitslosigkeit, 42,8 Prozent der Befragten gaben diesen Grund an, gefolgt von "Überblick verloren" (1,3 Prozent) und "Trennung und Scheidung" (1,4 Prozent). "Die Kategorie `Überblick verloren´ überrascht auf Platz zwei etwas. Die anderen Platzierungen waren vor dem Hintergrund anderer Untersuchungen zu erwarten", kommentiert Dr. Götz Lechner, operativer Projektleiter der Studie. Als Folgen der Überschuldung gaben die Befragten vor allem Kontopfändung, Lohn- und Gehaltspfändungen sowie den Verlust des Kontos an. 22 Prozent der Befragten geben an, durch ihre finanziellen Schwierigkeiten auch Probleme am Arbeitsplatz bekommen zu haben, mehr als 20 Prozent nennen Trennung und Scheidung als Negativfolgen ihrer Finanzsituation.
Überschuldung und Insolvenz - kein Randgruppenphänomen
Überschuldung und wirtschaftliches Scheitern werden von den Betroffenen selbst, aber auch von Politik und Öffentlichkeit, als Tabuthemen behandelt. Neben dem moralischen Makel wird den Schuldnern oft eine gesellschaftlich randständige Existenz unterstellt - was allerdings nicht der Realität entspricht. Die Studie der TU Chemnitz zeigt, dass Insolvenz und Überschuldung in jeder Bevölkerungsgruppe auftreten. Zwar sind etwas mehr Menschen ohne Berufsausbildung und etwas weniger Hochschulabsolventen in der Untersuchung vertreten, die Unterschiede sind jedoch gering. Die Befragten waren im Schnitt 45 Jahre alt, 53,3 Prozent sind Männer, 46,7 Prozent sind Frauen - Überschuldung ist demnach auch kein spezielles Männerproblem.
Risiken: Haushaltsstruktur und Arbeitslosigkeit
Klare Unterschiede ergeben sich jedoch, wenn man die Haushaltstruktur der Betroffenen näher untersucht. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung finden sich in der Stichprobe der Untersuchung überproportional viele Haushalte von Alleinerziehenden, die, so deuten die gewonnenen Daten an, häufig erst durch eine Scheidung oder Trennung in die Überschuldung gerieten. Auch zeigt die Untersuchung, dass Haushalte mit Kindern stärker von Verbraucherinsolvenz bedroht sind: Unter den Alleinerziehenden gaben immerhin zwölf Prozent an, geplante oder ungeplante Schwangerschaften hätten in die Überschuldung geführt. Paare ohne Kinder sind vergleichsweise seltener betroffen.
Die Einkommen der Haushalte im Insolvenzverfahren liegen häufig unter der 50-Prozent-Armutsschwelle; oft beziehen die Betroffenen Sozialleistungen, insbesondere Arbeitslosengeld II. "Langzeitarbeitslosigkeit und die daraus folgende Armut ist einer der zentralen Dreh- und Angelpunkte zum Verständnis des Problemkreises Überschuldung und Verbraucherinsolvenz", so Projektmitarbeiter Dr. Wolfram Backert.
Netzwerke, Aufklärung und Finanz-TÜV
Mit den Regelungen der Insolvenzordnung wurde eine Möglichkeit geschaffen, betroffenen Haushalten und Personen aus der Notlage absoluter Überschuldung herauszuhelfen. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass in den meisten Fällen (1,9 Prozent) die Verfahrenskosten gestundet werden mussten und in 80 Prozent der Fälle keine Zahlungen an die Gläubiger geleistet werden: "Nullinsolvenzen und Stundung der Verfahrenskosten sind nicht die Ausnahme, sondern der Normalfall und sollten bei eventuellen weiteren Novellierungen der Insolvenzordnung entsprechende Beachtung finden", sagt Dr. Lechner.
Die Betroffenen selbst sehen das Gesetz als Chance für sich: 94,9 Prozent der Befragten geben an, Verbraucherinsolvenz anzumelden, sei das Beste gewesen, was sie tun konnten. Dennoch bleibt festzuhalten, dass sich fast 38 Prozent der Befragten auch nach Durchlaufen des Verfahrens nicht als Teil der Gesellschaft sehen.
Trotz des ausgeprägten Gefühls aus der Gesellschaft als ganzer ausgeschlossen zu sein, sind die Betroffenen in ihrem nahen Umfeld weitestgehend gut integriert. "Besondere Bedeutung haben in diesem Zusammenhang Freunde und Familie", so Katja Maischatz, die sich besonders mit den sozialen Netzwerken der Betroffenen beschäftigt. "Die Betroffenen in unserer Befragung kümmern sich stärker als der Durchschnitt in der Bevölkerung um die Menschen in ihrem Umfeld", meint die Soziologin.
Die Insolvenzordnung dient als Werkzeug zur Bekämpfung von Überschuldung. Bevor dieses letzte Mittel angewandt wird, sollten präventive Maßnahmen ergriffen werden, die helfen könnten eine hoffnungslose Überschuldung zu vermeiden. Die Chemnitzer Soziologen
empfehlen an erster Stelle eine vermehrte Aufklärung und Schulung der Verbraucher. Die vorliegende Studie zeigt mangelndes Wissen und zu wenig Erfahrung im Umgang mit Geld auf - hier könnte mit finanzieller Allgemeinbildung, die beispielsweise in den Schulen vermittelt wird, Abhilfe geschaffen werden.
Überschuldung entsteht meistens über einen längeren Zeitraum hinweg. Ein frühzeitigeres Eingreifen könnte sowohl den Gläubigern als auch den Schuldnern dienen. "Die regelmäßige Überprüfung der finanziellen Situation in Form eines "Finanz-TÜV", der beispielsweise bei den Verbraucherzentralen angesiedelt sein könnte, wäre eine Möglichkeit, frühzeitig Gefährdungen aufzudecken und Probleme abzuwenden", empfiehlt Prof. Brock. Wer sich einer derartigen TÜV-Prüfung unterzöge, könnte dann - falls doch etwas schief gehen sollte - mit einer kürzeren Wohlverhaltensphase in der Verbraucherinsolvenz belohnt werden.
Das Forschungsprojekt im Internet:
http://www.tu-chemnitz.de/phil/soziologie/brock/ungleichheit/
Weitere Informationen erteilt Dr. Wolfram Backert, Telefon 0371 531-35016,
E-Mail wolfram.backert@phil.tu-chemnitz.de.
Katharina Thehos
24.10.2007