Hier laufen viele Fäden zusammen
Wissenschaftler des Bundesexzellenzclusters MERGE der TU Chemnitz optimieren mit numerischen Methoden die Charakterisierung von Abstandsgewirken aus Polyester, die in Polsterungen zum Einsatz kommen
Weich und bequem, stabil und leicht, sicher und sauber sollen sie sein – an Polster stellen Kunden vielfältige Ansprüche. „80 Prozent ist Sicherheit, 20 Prozent ist Komfort“, überschlägt Prof. Dr. Frank Helbig die Anforderungen, denen sich Wissenschaftler bei der Entwicklung eines Fahrzeugsitzes konfrontiert sehen. Helbig ist seit 2013 Inhaber der Stiftungsprofessur Textile Kunststoffverbunde an der Technischen Universität Chemnitz. Mit Polstermaterialien für ebenso sichere wie komfortable Fahrzeugsitze beschäftigt er sich aber schon viel länger: Ende der 1990er-Jahre entwickelte er im Mitarbeiterteam der Cetex gemeinnützige GmbH, seit 2008 ein An-Institut der TU Chemnitz, ein Verfahren und eine Maschinentechnik, mit denen Abstandsgewirke in neuen Dimensionen produziert werden können. Die voluminösen 3D-Textilien bestehen zu 100 Prozent aus Polyester – zwischen zwei gewirkten Deckflächen werden Tausende leicht gebogene Fäden gespannt. Die KARL MAYER Textilmaschinenfabrik GmbH in Obertshausen ist im Jahr 2001 als Lizenznehmer in die Entwicklung eingestiegen und hat die Fertigungsanlage innerhalb von drei Jahren zur Marktreife gebracht. Eingesetzt werden die 3D-Gewirke sowohl für Fahrzeugsitze - vom PKW bis zum Flugzeug - und für Polstermöbel, wie auch in der Medizin für Rollstühle und Liegen oder im Sport. Die voluminösen Abstandsgewirke enthalten bis zu 95 Prozent Luft, sind allseitig diffusionsoffen und besitzen somit beste Klimaeigenschaften und hohes Leichtbaupotenzial. Da sie sortenrein aus Polyester gefertigt werden, sind sie gut recycelbar.
Für eine produktorientierte Marktüberleitung der textiltechnischen Entwicklung erarbeitete Helbig innerhalb seiner Dissertation ein analytisches Modell, mit dem das Formänderungsverhalten der Gewirke unter einer für Polstermaterialien typischen Druckbelastung bestimmt werden kann. Aktuell ist die Stiftungsprofessur – zu deren Stiftern unter anderem die KARL MAYER MALIMO Textilmaschinenfabrik GmbH zählt – in drei Teilprojekten im Bundesexzellenzcluster "Technologiefusion für multifunktionale Leichtbaustrukturen" (MERGE) der TU Chemnitz eingebunden. Und auch hier spielen die Abstandsgewirke in Helbigs Forschung eine zentrale Rolle. Innerhalb von MERGE hat er gemeinsam mit Vicente Jaime Dura Brisa daran gearbeitet, das analytische Modell weiter zu qualifizieren. Entstanden ist ein numerisches Berechnungs- und Simulationsmodell, das genauer aufzeigt, wie sich ein einzelner Faden verhält, wenn eine typische Formänderungskraft auf ihn einwirkt. Ausgangspunkt ist, dass ein nach analytischem Modell berechneter Kraft-Verformungsweg-Verlauf immer etwas unterhalb einer am vergleichbaren Abstandsgewirke gewonnenen Messkurve liegt. „Da die Differenzen zwischen den berechneten und den praktisch ermittelten Kurvenverläufen weitestgehend gleichbleibend proportional sind, lässt sich das analytische Modell auf die Textiltechnologie und die praxistaugliche Produktauslegung von 3D-Gewirken zuverlässig übertragen“, erklärt Helbig. Dennoch wollen die Forscher die bestehende Lücke zwischen den beiden Kurven immer weiter verkleinern. Mit seinem numerischen Berechnungsmodell konnte Dura Brisa aufzeigen, dass ein einzelner 3D-Faden unter der Belastung nicht wie bislang angenommen kreisbogenförmig sondern vielmehr in Form eines ellyptischen Bogens gekrümmt wird.
Dadurch verändern sich unter anderem die in die Berechnung einfließenden Hebelarme, es resultiert eine höhere Struktursteifigkeit – die so berechnete und die reale Kurve nähern sich weiter an. Veröffentlicht haben die MERGE-Wissenschaftler diese „Numerische Charakterisierung des mechanischen Verhaltens eines vertikalen Abstandsfadens in dicken Abstandsgewirken“ in einem Fachartikel im „Journal for Industrial Textiles“. Hierin deuten die Autoren aber auch an, dass die Forschung weiter geht – denn: Ganz deckungsgleich sind die Kurven weiterhin nicht. Hier spielen vor allem Effekte eine Rolle, die sich aus der Anhäufungsdichte ergeben, in der die 3D-Fäden im Abstandsgewirke platziert sind – unter anderem die Reibung zwischen den mehreren tausend Fäden pro Quadratdezimeter. „Wir wollen die Ergebnisse aus dem numerischen Modell zunächst wieder in das analytische Modell überführen, um den Anwendern in der Praxis ein verbessertes Werkzeug zur Auslegung und Berechnung ihrer 3D-Gewirke an die Hand zu geben“, sagt Helbig und ergänzt: „Außerdem wollen wir das numerische Modell vom einzelnen Faden auf die räumliche Mehrfachanordnungen erweitern.“ Denn: „Je präziser unsere Modelle sind, um so verlässlicher kann noch das eine oder andere Gramm in innovativen Produkten eingespart werden“, spricht Helbig das Ziel im Leichtbau an.
Innerhalb von MERGE arbeiten die Wissenschaftler der Stiftungsprofessur Textile Kunststoffverbunde an einem Demonstrator eines Fahrzeugsitzes, bei dem Abstandsgewirke eine zentrale Rolle spielen. Mit dem Bundesexzellenzcluster "Technologiefusion für multifunktionale Leichtbaustrukturen" zählt die TU Chemnitz zu den Gewinnern der Bundesexzellenzinitiative. Etwa 100 Wissenschaftler arbeiten unter Sprecherschaft von Prof. Dr. Lothar Kroll an einer Technologiefusion im Leichtbau. Ihr Ziel ist es, heute noch getrennte Fertigungsprozesse bei der Verarbeitung unterschiedlicher Werkstoffgruppen wie Textilien, Kunststoffe und Metalle zusammenzuführen. Mehrkomponentenbauteile können dann in Großserie kostengünstiger und energieeffizienter produziert werden. Der Bundesexzellenzcluster wurde 2012 im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder eingerichtet und wird bis 2017 mit 34 Millionen Euro gefördert.
Die Forschungsergebnisse wurden im „Journal for Industrial Textiles“ veröffentlicht: Vicente Jaime Dura Brisa, Frank Helbig, Lothar Kroll: Numerical characterisation of the mechanical behaviour of a vertical spacer yarn in thick warp knitted spacer fabrics. Journal of Industrial Textiles; doi: 10.1177/1528083714523164
Weitere Informationen erteilt Prof. Dr. Frank Helbig, Telefon 0371 531-36681, E-Mail frank.helbig@mb.tu-chemnitz.de.
Katharina Thehos
02.02.2015