Zwischen Kibbuz und Gaza-Streifen
Mehrtägiger Workshop brachte im Juni Studierende aus Chemnitz und Israel erneut zusammen - Sie unternahmen Exkurse in die Geschichte und in die aktuelle Politik ihrer Heimatländer
Nach einem erfolgreichen und lebendigen Workshop mit 14 israelischen Studierenden und ihrem akademischen Leiter Dr. Michael Dahan vom Sapir College in Sderot im März diesen Jahres an der Technischen Universität Chemnitz waren vom 18. bis 24. Juni 17 Chemnitzer Kommilitonen mit Prof. Dr. Beate Neuss und Jakob Kullik zu Gast in Sderot (Israel). Die Begrüßung fiel überaus herzlich aus – schließlich kannte man sich nach einer gemeinsamen Woche in Chemnitz mit ihren langen Abenden gut; bereits lange vor der Abreise wurden über soziale Netzwerke Ideen für die Woche im Sapir College ausgetauscht.
Alle Chemnitzer waren tief beeindruckt von den vielfältigen Erfahrungen und Eindrücken, die sie in Israel gewinnen konnten: Bevor die Chemnitzer zu ihren Kommilitonen zogen, verbrachten sie die erste Nacht im Kibbuz Dorot, der ersten Gründung im Negev. Dort begann am nächsten Morgen der Workshop mit einer Führung durch den Kibbuz und seine agrarischen Produktionsanlagen. Ein Gespräch mit Zohar Avitan zur kommunistischen Lebensweise im Kibbuz – kein Eigentum und gemeinschaftliche Kindererziehung – brachte die Zeiten noch vor der Gründung des Staates Israel in Erinnerung. Er zeigte aber auch, dass im Kibbuz die Zeit nicht stehen bleibt: heute ist Privateigentum zugelassen und Kinder wachsen in ihren Familien auf, der Zusammenhalt von Alt und Jung ist groß. Im Sapir College vertiefte die deutsch-israelische Gruppe das Thema mit einem Vortrag von Dr. Samir Benlayashi über die Besiedelung, Bevölkerungsentwicklung, über Kultur und Identität in der Einwanderungsgesellschaft Israels sowie über heutige Flüchtlinge und knüpfte damit an die Thematik „Flüchtlinge und Migration“ an, die bereits in Chemnitz erörtert worden war.
Der nächste Tag bot zunächst Einblicke in die sicherheitspolitischen Herausforderungen der Region. Wir waren zu Gast im Institute for National Security Studies (INSS) in Tel Aviv. Dr. Daniel Cohen informierte über wachsende Bedrohungen Israels und der westlichen Staaten aus dem Cyberraum. Dr. Yoram Schweitzer, ein international bekannter Anti-Terrorismus-Experte, erläuterte Facetten des internationalen Terrorismus und Israels Antworten darauf. Major Aryeh Shakishar (Israel Defense Forces), in Berlin geboren in einer iranisch-jüdischen Familie und Soldat in der deutschen und dann in der israelischen Armee, verkörpert in seiner Person bereits die kulturelle Vielfalt der israelischen Gesellschaft. Er sprach über die Bedrohungen Israels durch den Konflikt von Sunniten und Shiiten in den instabilen Staaten der Nachbarschaft, den terroristischen Organisationen der Region und die Lage in den palästinensischen Gebieten. Anschließend erklärte Dr. Michael Dahan vom Sapir College, vor welchen sozialen Problemen der Staat und die Stadt Tel Aviv hinsichtlich der Flüchtlinge stehen. Spontan ergab sich ein Gespräch mit jungen israelischen Polizeibeamtinnen des Reviers, von denen einige als äthiopische Israelis selbst eine spezifische Einwanderungsgeschichte aufweisen. Der lange Arbeitstag ging mit einem Gespräch in der deutschen Botschaft zu Ende. Simon Kreye informierte über die deutsch-israelischen Beziehungen, die Innenpolitik in Israel und die Lage im Nahen Osten.
Der dritte Tag begann äußerst berührend: Die deutschen und israelischen Studierenden begrüßten Reuwen Reiter, der als Horst Reiter 1929 in Chemnitz geboren wurde und mit seinem Bruder das Konzentrationslager Theresienstadt knapp überlebte. Es war ihm sehr wichtig, die jungen Menschen aus Chemnitz zu treffen, der Stadt, deren Straßen und Gebäude ihm noch präzise in Erinnerung sind. Er erzählte seine bedrückende Lebensgeschichte, die als Sohn eines gut gestellten Diplomingenieurs in der Fahrradfabrik „Diamant-Werke“ Chemnitz auf dem Kaßberg begann. Nachdem er Hunger und Elend in Theresienstadt überlebt hatte, schloss er sich der der zionistischen Bewegung an. 1948 ging er nach Israel, diente im ersten arabisch-israelischen Krieg 1948 und baute den Moshav Giwati mit auf. Dort konnte er, der fast keine Schulbildung genossen hatte, in hohe Verwaltungsämter aufsteigen.
Sehr eindringlich war der Vortrag der äthiopisch-jüdisch israelischen Studentin Havtam Samoun über ihre Einwanderung und ihr Leben in Israel. Wiederum zeigte sich, dass sich die lebendige und junge israelische Gesellschaft aus Menschen zusammensetzt, die aus vielen Teilen der Welt in Israel eine Heimat und einen Anker für ihre Identität finden, wenn auch nicht immer problemlos. Aber der Workshop kannte auch die eher „klassische“ Zusammenarbeit: In deutsch-israelischen Arbeitsgruppen diskutierten die Teilnehmer über Politikerreden aus beiden Ländern zur gemeinsam erfahrenen Geschichte und zur jeweiligen Sicherheitspolitik im 21. Jahrhundert.
Bei knapp 40 Grad Hitze ging es am nächsten Tag in die Umgebung: Das Sapir College liegt dicht am Gaza-Streifen, an dessen Grenze wir fuhren, um uns mit einer geführten Tour über die Lage zu informieren. Gut zu erkennen war, wie dicht die 1,8 Mio. Menschen dort zusammenleben – und wie nah die Bedrohung durch Raketenbeschuss für das Kibbuz Niram und Sderot ist. Auch das Leben der Beduinen im Süden Israels – sowohl in Hora wie in nicht anerkannten Siedlungen - stand auf dem Programm.
Am letzten Workshop-Tag präsentierten Chemnitzer Studierende Aspekte der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und zur Reform der Bundeswehr. Die Unterschiede zwischen der Rolle und Wertschätzung der Armeen in beiden Ländern, einer Armee von lang dienenden Wehrpflichtigen einerseits und Freiwilligen andererseits belebten die Diskussion. Dr. Michael Borchard, Leiter des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Jerusalem, sprach anschließend über die Arbeit der Stiftung in Israel und diskutierte die Chancen der deutschen Regierung, aufgrund ihrer Akzeptanz und Vertrauenswürdigkeit bei Israelis und Palästinensern eine Vermittlungsrolle im Konflikt einzunehmen. Richtig in Fahrt kam die Debatte jedoch über „Junction 48“. Der bewegende Film mit einem arabisch-israelischen Rapper zeigte die soziale Situation der palästinensischen Gesellschaft und das konfliktreiche „getrennte Zusammenleben“ mit den jüdischen Israelis. Besondere Begeisterung rief hervor, dass Tamer Naffer, Rapper und Hauptdarsteller, anwesend sein konnte und über den auf der Berlinale ausgezeichneten Film mit diskutierte.
Für die deutschen und israelischen Studierenden ging der letzte gemeinsame Tag der Region und dem Klima angemessen zu Ende: Mit einem gemeinsamen Essen köstlicher Speisen der Region und einer anschließenden Pool Party. Wenn auch die anderen Abende nicht am Pool geendet hatten – es waren warme Sommerabende mit intensiven Gesprächen am Mittelmeer, in Gärten und Restaurants. Ein guter Weg, um sich kennenzulernen oder über das Brexit-Referendum zu diskutieren, das uns dort überraschte. Der Abschied fiel schwer, aber alle hatten viel gelernt. Die deutsche Gruppe wurde am letzten Tag noch von Dr. Dahan durch die wunderbare Heilige Stadt der drei Weltreligionen geführt. Nach einem orientalischen Festmahl hieß es endgültig Abschied zu nehmen.
(Autorin: Prof. Dr. Beate Neuss, Professur Internationale Politik)
Mario Steinebach
30.06.2016